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LATEINAMERIKA/2386: Jagdgründe Lateinamerikas sollen krisengeschüttelte EU sanieren (SB)


EU-Lateinamerika-Gipfel im Zeichen verstärkter Assoziierung


Im Kontext kapitalistischer Verwertungsdynamik lassen sich internationale Handelsbeziehungen als Verlaufsformen eines sich qualifizierenden Raubgefüges entschlüsseln, die das unablässige Bestreben, einander zu übervorteilen, mit dem Verschleierungsmanöver partnerschaftlicher Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen ideologisch verbrämen. Handel als zivile Form der Vorteilsnahme entfaltet sich auf Grundlage eines auf Waffengewalt basierenden Kräfteverhältnisses, das von seinem Wesen her darauf abzielt, den andern über den Tisch zu ziehen. Daß sich der Unterlegene überhaupt dazu bereitfindet, anders als durch offenen bellizistischen Druck in dieses Gewaltverhältnis einzuwilligen, verdankt sich einerseits seinem Kalkül, in diesem Verbund zu seinen Lasten wiederum Vorteile gegenüber Dritten zu erwirtschaften. Andererseits hat man es bei derartigen Abkommen zwischen Staaten oder überstaatlichen Komplexen stets mit Vereinbarungen zwischen Machteliten zu tun, die durchaus in Widerspruch zu den Interessen der beteiligten Bevölkerungen stehen. Wenn daher die Regierungen lateinamerikanischer Länder fremden Mächten die Tür zur Verwertung ihrer Ressourcen öffnen, geben sie in der Regel zum Zweck eigener Vorteilsnahme ihre Landsleute der Ausbeutung durch koloniale, imperialistische und neoimperialistische Verfügung preis.

Die Weltregion Lateinamerika, die durch jahrhundertelange Ausplünderung geschwächt in der Vergangenheit wahlweise ausgegrenzt oder als weitgehend hilflose Beute in Knebelverträge gepreßt wurde, tritt heute deutlich stärker und weniger gespalten als je zuvor in ihrer Geschichte in den Kampf um die Aneignung schwindender Sourcen der Überlebenssicherung ein. Sie hat die globale Systemkrise der kapitalistischen Wirtschaftsordnung bislang wesentlich besser verkraftet als die hochindustrialisierten Metropolen und gehört anders als die Vereinigten Staaten, Europa oder Japan gegenwärtig zu den Boom-Regionen der Welt. Der Präsident der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), Luis Alberto Moreno, erwartet für dieses Jahr ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von mindestens vier Prozent, wobei die Weltbank sogar bis 5 Prozent für möglich hält und ähnliche Zahlen für 2011 prognostiziert. [1]

Beim EU-Lateinamerika-Gipfel in Madrid treffen derzeit selbstbewußt auftretende Staatschefs aus Süd- und mit Abstrichen Mittelamerika auf von der Furcht um den Euro geschwächte Europäer, um ihre künftigen Wirtschaftsbeziehungen zu definieren und auszubauen. Aus europäischer Sicht ist ein Engagement insbesondere in Schwellenländern wie Brasilien und Mexiko schlichtweg unverzichtbar, um sich in der Konkurrenz mit den Vereinigten Staaten und China zu behaupten. Daß man diese Region wesentlich stärker als in früheren Jahren umwirbt, heißt für die dortigen Regierungen nicht, daß sie damit am längeren Hebel säßen. Indessen sind ihre Aussichten zumindest mittelfristig gestiegen, sich im Gefüge der Rivalität zwischen den führenden Mächten günstiger als in der Vergangenheit zu positionieren und durch eine diversifizierte Handelspolitik die Abhängigkeit von den USA zu reduzieren.

Die Regierung in Madrid hatte gehofft, unter der spanischen Ratspräsidentschaft in der EU den sechsten Gipfel dieser Art zu einem Höhepunkt der Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika zu machen und zugleich die eigene Vermittlerrolle auszubauen. Indessen ließ die Krise des Euro sowohl die EU als auch insbesondere die Spanier in ihrem Auftreten regelrecht schrumpfen. Bedeutendster Staatsmann in Madrid war zweifellos der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, den das Magazin "Time" erst vor kurzem als wichtigste Persönlichkeit der Welt eingestuft hat. Mag man auch über die Aussagekraft oder Absurdität solcher Rangfolgen streiten, so steht doch fest, daß der gerade aus Teheran zurückgekehrte Brasilianer auch auf der internationalen Bühne enorm an Profil gewonnen hat. Beim obligatorischen "Familienfoto" begrüßte er den hinter ihm stehenden griechischen Staatspräsidenten Papandreou mit einer herzlichen Umarmung, was insofern keine leere Geste war, als Brasilien dem Internationalen Währungsfonds fast 300 Millionen Dollar für den griechischen Rettungsfonds zur Verfügung gestellt hat.

Nicht vertreten war auf dem Gipfel Venezuelas Präsident Hugo Chávez, der kurzfristig abgesagt hatte, während der kubanische Staatschef Raúl Castro von Anfang an fernblieb. Chávez hatte bei der Vorbereitung des Gipfels das Thema Honduras noch einmal auf die Tagesordnung gebracht und unterstützt von Brasilien, Argentinien und Mexiko dazu aufgerufen, das Treffen zu boykottieren, sollte der Ende letzten Jahres gewählte Präsident Porfirio Lobo daran teilnehmen. Den faulen Kompromiß der begrenzten Anwesenheit Lobos bei der heutigen Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mochte Chávez nicht hinnehmen, womit er der Position treu blieb, keine nachträgliche Anerkennung des Putsches oder dessen Folgen zu akzeptieren.

Als Erfolge des Gipfels gelten zum einen die Assoziierungsabkommen der EU mit Peru und Kolumbien, die sowohl ein Freihandelsabkommen als auch engere Konsultationen auf politischer und wissenschaftlicher Ebene beinhalten. Zudem verständigte sich die EU auch mit Mittelamerika auf den Vertragstext eines Assoziierungsabkommens, das die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der EU und Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua und teilweise auch Panama vorsieht. Es ist nach Angaben der spanischen Ratspräsidentschaft das erste Assoziierungsabkommen, das die EU nicht mit einem Land, sondern einer Staatengruppe schließt. [2]

Ein weiteres wichtiges Ergebnis des Gipfels ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen der EU und den Staaten der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, die 2004 unterbrochen worden waren. Fortschritte scheiterten bislang an der vor allem von Paris verteidigten protektionistischen Agrarpolitik der EU. Frankreich und andere EU-Staaten befürchten Nachteile für ihre Bauern, wenn Agrarriesen wie Brasilien oder Argentinien unter Abbau der Zollschranken nach Europa exportieren dürfen. Die argentinische Präsidentin und Mercosur-Vorsitzende Cristina Fernández de Kirchner machte zur Bedingung, daß in der EU Subventionen, Steuerermäßigungen und Exportbeihilfen ausnahmslos auf den Prüfstand kommen müssen.

Die europäische Wirtschaft setzt große Hoffnungen auf einen Pakt mit den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, die ein Fünftel ihres Außenhandels mit der EU abwickeln. Europäische Firmen haben in diesen vier Ländern nach Angaben der EU-Kommission mehr investiert als in China, Indien und Rußland zusammengenommen. Die spanische Ratspräsidentschaft will nun die Gespräche wieder aufnehmen und noch in diesem Jahr abschließen. Es sei Zeit, einen frischen Blick auf die Angelegenheit zu werfen, sagte EU-Handelskommissar Karel De Gucht. [3]

Einfach wird es dennoch nicht sein, die stockenden Verhandlungen wiederzubeleben. Während die EU niedrigere Zölle und weniger Beschränkungen für ihre Industrie und Dienstleister wünscht, verlangen die Südamerikaner besseren Marktzugang für Agrarprodukte wie Fleisch, Zucker oder Ethanol. Daher wollen vor allem die europäischen Agrarproduzenten einen Neubeginn der Verhandlungen boykottieren, wozu Frankreich bereits neun EU-Staaten hinter sich versammelt hat. Umgekehrt gilt auch der Mercosur als inhomogen, weil die Interessen seiner Mitglieder nicht selten beträchtlich voneinander abweichen.

Da Freihandelsabkommen mit den USA lateinamerikanischen Kleinbauern schwer geschadet haben, weil sie mit den Importprodukten einer hochindustrialisierten und -subventionierten Agrarindustrie nicht konkurrieren konnten, sind auch hinsichtlich der Abkommen mit der EU gravierende Folgen zu befürchten. Carlos Aguilar vom lateinamerikanischen Netzwerk "Grito de los Excluidos" brachte die Lage auf folgendes anschauliches Bild: "Die USA und die EU tragen auf unserem Territorium einen Streit aus. Wir schlafen sozusagen mit Elefanten, dabei wird man leicht plattgemacht."

Auch aus deutscher Sicht ist das Interesse am Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen zu Ländern Lateinamerikas erheblich gewachsen. Sowohl Außenminister Guido Westerwelle als auch Wirtschaftsminister Rainer Brüderle sind in diesem Jahr durch die Region gereist. Bundeskanzlerin Angela Merkel plante ursprünglich, zumindest an dem Abendessen zum Auftakt des Madrider Gipfels teilzunehmen, zu dem das spanische Thronfolgerpaar Kronprinz Felipe und seine Frau Letizia in den königlichen Palast geladen hatten. Dann sagte sie jedoch ebenso wie Westerwelle kurzfristig ab, da die Schuldenkrise Europas derzeit die Kräfte bindet. Der für Westerwelle am Gipfel teilnehmende Staatsminister Werner Hoyer sprach von riesigen Chancen gerade für deutsche Unternehmen in Brasilien, das der wichtigste Handelspartner in der Region sei, während Deutschland für Brasilien immerhin an vierter Stelle nach den USA, China und Argentinien rangiere.

Wie aus einem Positionspapier des Lateinamerika Vereins Hamburg hervorgeht, habe diese Region die fünf Aufschwungjahre vor 2009 zum Aufbau hoher Devisenreserven und zum Abbau der Schulden genutzt. Auch sei die Mittelschicht breiter geworden und Lateinamerika mit seinen rund 600 Millionen Einwohnern sowohl ein günstiger Absatzmarkt als auch ein attraktiver Produktionsstandort. In Brasilien steuert die deutsche Wirtschaft fast zehn Prozent und in Mexiko sieben Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes bei. Beim Bestand ausländischer Direktinvestitionen liegt die Bundesrepublik mit rund 70 Milliarden Dollar hinter den USA und Spanien auf Rang drei.

Das vor zehn Jahren mit Mexiko vereinbarte Freihandelsabkommen blieb hinter den Erwartungen zurück. Wenngleich sich der Handel seither fast verdoppelt hat, beträgt der Anteil der EU am mexikanischen Wirtschaftsaustausch lediglich zwölf Prozent. Nach wie vor gehen über 80 Prozent der mexikanischen Ein- und Ausfuhren in den NAFTA-Raum, so daß der Vorsprung der USA und die Macht der Nordamerikanischen Freihandelszone für Europa uneinholbar sein dürften.

Hingegen haben insbesondere deutsche Unternehmen in Brasilien eine gute Ausgangsposition, das sich derzeit in eine riesige Baustelle verwandelt. Allein im laufenden Jahr werden rund 100 Milliarden Dollar in die Infrastruktur investiert und in den nächsten fünf Jahren dürften nach aktuellen Prognosen Investitionsprojekte für insgesamt 500 Milliarden Dollar folgen. Zu den gewaltigen Vorhaben gehören unter anderem Straßen und Häfen, Staudämme, Off-Shore-Ölförderung und Raffinerien, Ethanoldestillen sowie nicht zuletzt die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. Es gibt bereits 1.200 Konzerne mit deutscher Beteiligung in Brasilien, wobei deutsche Unternehmen Schlüsselpositionen in diversen Industriesparten wie Automobilbau, Chemie, Pharmazie, Elektrotechnik und Maschinenbau einnehmen.

Allerdings ist die Konkurrenz groß, zumal man in anderen Sparten unterrepräsentiert ist und Rivalen wie Frankreich und Spanien, aber auch China wichtige Positionen erobern. So mischt sich die Hoffnung auf reiche Beute mit deprimierenden Verlustängsten, was in die Forderung nach einer stärkeren politischen Flankierung der Wirtschaft mündet, da andernfalls schon kurzfristig Wettbewerbsnachteile drohen. Die deutsche Wirtschaft mahnt Kompromisse der EU im Dienst einer baldigen Einigung an und fordert die Bundesregierung auf, darauf hinarbeiten, daß konkrete wirtschaftliche und politische Interessen und weniger formelle Kriterien im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen sollten.

Was mit der verlangten Zurückstellung formeller Kriterien gemeint sein könnte, mag das Assoziierungsabkommen mit Kolumbien verdeutlichen. Neben Differenzen beim Zollabbau für Agrarprodukte und Rohstoffe gab es erhebliche Vorbehalte wegen anhaltender Menschenrechtsverletzungen in diesem Land, die letzten Endes jedoch kein Hinderungsgrund für die EU waren, ihre Handelschancen deutlich zu verbessern. Wichtigster Handelspartner Kolumbiens sind derzeit die USA mit 35 Prozent, doch folgt dahinter mit 13 Prozent die EU, die künftig enger aufzuschließen hofft. Als Kommissionspräsident José Manuel Barroso mit den Worten, man müsse "auf die Krise gemeinsam reagieren", die Länder Lateinamerikas zu bevorzugten Jagdgründen europäischer Wirtschaftsinteressen wenn nicht gar zum Schlüssel der Rettung hiesiger Weltmachtambitionen erklärte, war klar, daß man sich nicht länger von kleinlichen Skrupeln hinsichtlich der Menschenrechtslage im Wettrennen um die besten Plätze an den Fleischtöpfen ausbremsen lassen würde.

Anmerkungen:

[1] EU-Lateinamerika-Gipfel. Krisen-Europa trifft auf kraftstrotzende Latinos (18.05.10)
http://www.welt.de/politik/ausland/article7687604/Krisen-Europa-trifft-auf-kraftstrotzende-Latinos.html

[2] Lateinamerika und Europa öffnen Märkte. Mercosur und EU wollen eine gemeinsame Freihandelszone schaffen (19.05.10)
http://www.sueddeutsche.de/k5S38l/3357449/Lateinamerika-und-Europa-oeffnen-Maerkte.html

[3] Handelspartner. Europa entdeckt Lateinamerika als den Retter in der Krise (19.05.10)
http://www.handelsblatt.com/politik/international/handelspartner-europa-entdeckt-lateinamerika.html

19. Mai 2010