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LATEINAMERIKA/2389: Dutzende Tote bei Erstürmung eines Armenviertels in Kingston (SB)


Jamaikas Regierung will Auslieferung Cokes an die USA erzwingen


In Jamaikas Hauptstadt Kingston haben heftige Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und den Anhängern Christopher "Dudus" Cokes, die das Armenviertel Tivoli Gardens verteidigten, mehrere Dutzend Menschenleben gekostet. Die Polizei bezifferte die Zahl der Todesopfer auf 28 Zivilisten und drei Vertreter der Sicherheitskräfte, doch schätzen Regierung und Krankenhäuser die tatsächliche Opferzahl deutlich höher ein, wobei von bis zu 60 Toten die Rede ist. Außerdem seien 25 Personen verletzt und 211 Verdächtige festgenommen worden. [1] Die meisten Zivilisten starben demnach in Tivoli Gardens, das schwerbewaffnete Polizisten und Soldaten gestürmt hatten. Dort soll sich der als Drogenboß gesuchte 41 Jahre alte Christopher Coke aufhalten, den die Regierung an die USA ausliefern will. Er wurde jedoch nicht gefaßt. [2] In derselben Gegend waren 2001 bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften 27 Menschen ums Leben gekommen.

Premierminister Bruce Golding verhängte einen einmonatigen Ausnahmezustand, der auf Kingston und den umliegenden Bezirk beschränkt ist. Der Regierungschef bedauerte in einer Erklärung gegenüber dem Parlament die zahlreichen Todesopfer unter Sicherheitskräften und unbeteiligten Passanten. Frauen und Kinder forderte er auf, den umkämpften Stadtteil Tivoli Gardens vorübergehend zu verlassen. Die Unruhen griffen auch auf die zur Metropolenregion zählende Stadt Spanish Town über, wo eine Polizeiwache beschossen wurde. Auch aus anderen Stadtteilen wurden Schießereien gemeldet. Die Behörden haben die Einwohner dazu aufgerufen, Blut zu spenden. [3] Die Stimmung ist weiterhin angespannt. Die meisten Schulen und Geschäfte in Kingston sind geschlossen, die Handelszentren der Stadt gelähmt.

Der Ausbruch der Gewalt hatte sich Ende vergangener Woche an der Entscheidung der Regierung entzündet, Coke an die USA auszuliefern. Die Justiz unterzeichnete einen Auslieferungsantrag, den auszusetzen die Anwälte des 42jährigen vergeblich beantragten. Die Behörden ordneten die Schließung der Schulen im Stadtzentrum an. In mehreren Stadtvierteln kam es zu Schußwechseln zwischen Sicherheitskräften und Anhängern Cokes. Eine Polizeiwache wurde den ganzen Tag beschossen, bis den Verteidigern die Munition ausging und sie von einer Spezialeinheit in Sicherheit gebracht werden mußten. Daraufhin steckten die Angreifer das verlassene Gebäude mit Molotow-Cocktails in Brand.

Cokes Anhänger versperrten die Zufahrten zu Tivoli Gardens unweit des Stadtzentrums mit Barrikaden. Sie schichteten Sandsäcke zu Wällen auf und füllten unter anderem Kühlschränke mit Sand. Polizisten wurden beschossen, als sie Straßenblockaden wegräumen wollten. "Sie stellen sich auf Krieg ein", wurde ein Polizist zitiert. Am Wochenende riegelten starke Armee- und Polizeieinheiten das Armenviertel ab, in dem sich Coke mit seinen bewaffneten Anhängern verschanzt hatte. Am Montag nahmen mehr als 1.000 Polizisten und Soldaten in Kampfmontur das verbarrikadierte Viertel unter Beschuß, über der Stadt kreisten Hubschrauber. Die Polizei forderte die Einwohner der Hauptstadt auf, in ihren Häusern zu bleiben. Wie lokale Medien berichteten, waren während des Einsatzes in den Straßen des Wohngebiets schwere Explosionen zu hören und über den Dächern standen Rauchwolken. Der stellvertretende Polizeichef Glenmore Hinds sprach von einem Krieg gegen die Banden. Die US-Botschaft stellte bis auf weiteres alle nicht zwingend erforderlichen Dienste ein. [4]

Die Karibikinsel Jamaika ist ein beliebtes Urlaubsziel von Touristen aus den USA und Europa. Das US-Außenministerium gab angesichts der Kämpfe eine Reisewarnung für den Großraum Kingston heraus. Auch das Auswärtige Amt in Berlin riet von einem Besuch der jamaikanischen Hauptstadt wie auch des nahegelegenen Ortes Spanish Town dringend ab. Die von ausländischen Touristen frequentierten Gebiete an der Nord- und Ostküste seien aber nicht betroffen und ruhig. Dennoch könne ein Übergreifen der Unruhen auf andere Teile Jamaikas nicht ausgeschlossen werden, warnte das Auswärtige Amt. Die Fluggesellschaft Air Jamaika sagte mehrere Flüge ab.

Die Vereinigten Staaten wollen Christopher Coke den Prozeß machen und fordern seine Auslieferung. Das US-Justizministerium bezeichnete ihn als einen der "weltweit gefährlichsten" Drogenbarone. Man legt ihm zur Last, seit 1990 einen international operierenden Drogenring namens "The Shower Posse" anzuführen, der laut US-Ermittlern Marihuana und Crack vor allem in den Großraum New York liefert. Im August 2009 wurde Coke in den USA formell angeklagt. Im Falle einer Auslieferung und Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. [5]

Coke hat in Jamaika jedoch zahlreiche Unterstützer. Die Bewohner von Tivoli Gardens bezeichnen ihr Viertel als eigene "Republik" und nennen "Dudus" ihren "Präsidenten". Hunderte Menschen haben ihm in der vergangenen Woche bei einer Demonstration ihre Zuneigung bekundet. Für die Leute in diesem Quartier ist er ein Wohltäter, der ihren Kindern den Schulbesuch ermöglicht, Nahrungsmittel kauft, vor allem Streitigkeiten schlichtet und ihnen Schutz gewährt. Unter seiner Führung fühlten sich die Menschen sicher. Wie kostbar diese Sicherheit ist, kann man daran ermessen, daß Kingston mit fast 60 Morden pro 100.000 Einwohnern als eine der gewalttätigsten Städte der Welt gilt. [6]

Der konservative Ministerpräsident Bruce Golding hatte neun Monate lang das Auslieferungsbegehren der US-Justiz ignoriert. Cokes "Republik" Tivoli Gardens, das zu Goldings Wahlkreis gehört, steht der Regierungspartei nahe. Über seine Kontakte erhielt Coke als Bauunternehmer immer wieder staatliche Aufträge, und seine Anhänger bekämpften die Bande der oppositionellen National-Partei. Angesichts dieser engen Verflechtungen zwischen Politikern und lokalen Bandenführern mußte dem Premierminister und der Regierung klar gewesen sein, daß jeder Versuch, den einflußreichen und in Teilen der Bevölkerung verankerten Christopher Coke festzunehmen, zu einer nie gesehenen Eskalation führen würde.

Cokes traditionelle Assoziation mit der Jamaica Labour Party (JLP) wird von der People‹s National Party (PNP) heftig kritisiert, die jedoch ihrerseits mit anderen Dons zusammenarbeitet. Wer gewählt werden will, muß sich der Unterstützung des Anführers im jeweiligen Bezirk versichern. Dieses System reicht bis in die 1970er Jahre zurück, in denen sich die Verbindungen zwischen den Anführern in den armen Stadtvierteln und den beiden größten Parteien herausbildeten. Die "Shower Posse" in Tivoli Gardens blieb stets der JLP verbunden, wobei schon "Dudus" Vater in die USA abgeschoben werden sollte. Lester "Jim Brown" Coke saß 1992 in Abschiebehaft, weshalb einer seiner Söhne, Mark "Jah-T" Coke, die Geschäfte für ihn weiterführte. Nachdem dieser ermordet worden war, unternahm die "Shower Posse" einen Rachezug im Viertel einer verfeindeten Gang, dem etwa 30 Menschen zum Opfer fielen. Als "Jah-T" beerdigt wurde, glich dies einem Staatsbegräbnis, da selbst der damalige Premierminister Edward Seaga teilnahm.

Am selben Tag verbrannte "Jim Brown" Coke in seiner Zelle, dessen letzter Einspruch gegen die Auslieferung abgewiesen worden war und der gedroht hatte, er werde im Falle eines Prozesses in den USA hochrangige jamaikanische Politiker mit in den Abgrund reißen. Dieser Mord wurde nie aufgeklärt, wiewohl jeder wußte, wer das größte Interesse daran hatte, "Jim Brown" auszuschalten, ehe er auspacken konnte. Dessen ungeachtet trug Premier Seaga auch den älteren Coke zu Grabe. Später wurde Seaga von Golding als Parteichef abgelöst, der fortan mit "Dudus" Coke zusammenarbeitete, der seinen Vater und Bruder als Anführer der "Shower Posse" beerbt hatte. [7]

Was Bruce Golding letzten Endes bewogen hat, nach monatelangem Zögern die Festnahme und Auslieferung Cokes anzuordnen, ist nicht restlos geklärt. Nachdem die Presse herausgefunden hatte, daß der Premier eine einflußreiche Lobbyfirma in Washington damit beauftragt hatte, Cokes Auslieferung zu torpedieren, mußte der Regierungschef am 17. Mai mit einer Fernsehansprache bußfertig vor die Nation treten. Er behauptete zwar, die 50.000 Dollar für diesen Auftrag stammten aus der Parteikasse und nicht etwa aus dem Budget der Regierung, doch konnte er nicht umhin, sich beim jamaikanischen Volk zu entschuldigen.

Wie die Presse mutmaßte, habe dies dazu geführt, daß sich Golding dem Druck Washingtons beugen mußte, wo man zunehmend die Geduld mit ihm verlor und dies zuletzt unverhohlen zum Ausdruck brachte. Da Jamaika dringend auf Hilfsgelder und Touristen aus den USA angewiesen ist, fehlt es nicht an Druckmitteln, die Regierung in Kingston nach der Pfeife Washingtons tanzen zu lassen. So rügte das US-Außenministerium im März, die 2007 von Golding bei dessen Regierungsantritt vorgelegte ambitionierte Agenda zur Bekämpfung von Korruption und Verbrechen sei vom Parlament noch immer nicht umgesetzt worden. Insbesondere aber stellten die fortgesetzten Verzögerungen bei Auslieferungsersuchen die Bereitschaft der Administration in Kingston zur Zusammenarbeit mit den USA bei der Verbrechensbekämpfung ernsthaft in Frage.

Wahrscheinlich erhoffte sich Golding zugleich eine Gelegenheit zum Befreiungsschlag, der die Verbindung zu Coke, ohne dessen Unterstützung er womöglich niemals Regierungschef geworden wäre, kappen sollte. Und nicht zuletzt dürfte ihm die von den Bewohnern des Armenviertels ausgerufene Republik ein Dorn im Auge gewesen sein, den er nur zu gern entfernen ließ, um den Verlust staatlichen Zugriffs auf dieses Hauptstadtquartier zu beenden.

Die New York Times zitiert einen jamaikanischen Geschäftsmann, der betont, er unterstütze zwar das System der Dons nicht, halte aber Coke dennoch für einen stabilisierenden Faktor. Seine langfristige Präsenz in diesem Bezirk garantiere die Existenz der Zivilgesellschaft und Geschäftswelt, wozu gewählte Regierungen nie in der Lage gewesen seien. Solange die Regierung keine Verantwortung im Land übernehme, sei man schlicht und einfach mit einem Don wie Coke besser bedient. [8]

Golding bezeichnete die Verhängung des Ausnahmezustands als einen "Wendepunkt" im Umgang des Staates mit den "Mächten des Bösen", die aus Kingston eine der gefährlichsten Städte der Welt gemacht hätten. Er wolle zeigen, daß Jamaika "ein Land des Friedens, der Ordnung und der Sicherheit" sei. Dieses Deutungsmuster, das in seiner Formulierung nicht von ungefähr an den Sprachgebrauch der US-Regierung bei deren globaler Kriegsführung erinnert, unterschlägt nicht nur Goldings eigene Verbindungen zu den Geschäften Christopher Cokes. Es blendet auch jeden Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in Jamaika und insbesondere dem Umstand aus, daß unter Führung Cokes in Tivoli Gardens jener Zustand hergestellt wurde, den die Regierungspolitik den dort lebenden Menschen dauerhaft versagt hat. Wer bedenkenlos in die Forderung einstimmt, die aus dem Drogengeschäft generierte informelle Ökonomie und Sozialpolitik müsse ausgemerzt werden, befördert de facto die Vernichtung der einzig existierenden Überlebenssicherung zahlloser armer Leute in Jamaika.

Anmerkungen:

[1] Jamaika. Dutzende Tote bei Jagd auf Drogenbaron Coke (26.05.10)
http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~ED76B5423ABC54747AC7F984D0E27C886~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[2] Jagd auf Drogenboss in Jamaika: Zivilisten sterben bei gewaltsamen Auseinandersetzungen (26.05.10)
http://www.stern.de/politik/ausland/jagd-auf-drogenboss-in-jamaika-zivilisten-sterben-bei-gewaltsamen-auseinandersetzungen-1569192.html

[3] Blutige Auseinandersetzungen. 60 Tote bei Jagd auf jamaikanischen Drogenboss (25.05.10)
http://www.welt.de/vermischtes/article7783663/60-Tote-bei-Jagd-auf-jamaikanischen-Drogenboss.html

[4] 27 Tote und 211 Festnahmen bei Unruhen in Jamaika (25.05.10)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5ht6_cmm9XNwV7LsUNqNucRn3XCAQ

[5] 31 Menschen bei Jagd nach Bandenführer getötet (25.05.10)
http://www.tagesschau.de/ausland/jamaika142.html

[6] Jamaika. Ausnahmezustand im Drogenkrieg (24.05.10)
http://www.focus.de/politik/ausland/jamaika-ausnahmezustand-im-drogenkrieg_aid_511532.html

[7] Jamaica attacks: a legacy of ties between politicians and gangs (25.05.10)
Christian Science Monitor

[8] Unrest Grows in Jamaica in 3rd Day of Standoff (25.05.10)
New York Times

26. Mai 2010