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LATEINAMERIKA/2408: Betancourt verlangt Millionenentschädigung vom kolumbianischen Staat (SB)


Überraschender Bruch einer unheiligen Allianz?


Kolumbiens scheidender Präsident Alvaro Uribe hat mit seiner entschiedenen Ablehnung jeder Art von Verhandlungen oder Abkommen mit der Guerillaorganisation FARC während seiner gesamten Amtszeit einen humanitären Austausch von Gefangenen verhindert, den die Rebellen schon vor Jahren angeboten haben. In Verfolgung seiner Doktrin, bei der kämpfenden Guerilla handle es sich um eine "Terrororganisation", mit der es keine Gespräche geben dürfe, war der kolumbianische Staatschef das entscheidende Hindernis einer frühzeitigen Freilassung. Damit nicht genug, sabotierte Uribe die Vermittlungsbemühungen des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, durch dessen Initiative die Rebellen eine Reihe von Gefangenen ohne Gegenleistungen freiließen und Friedensgespräche in greifbare Nähe zu rücken schienen. Weder duldete Uribe den enormen internationalen Prestigegewinn seines Intimfeindes in Caracas, noch ließ er eine Akzeptanz der Guerilla als gleichrangiger Verhandlungspartner zu. Rebellen muß man militärisch niederwerfen, Geiseln durch geheimdienstliche Operationen und Truppeneinsatz befreien, lautete seine Maxime, die zweifelsfrei erkennen läßt, daß die Gefangenen in Händen der FARC für ihn ausschließlich als Komponente seines politischen Kalküls von Belang waren.

Die spektakuläre Operation zur Befreiung Ingrid Betancourts und vierzehn weiterer prominenter Gefangener der FARC am 2. Juli 2008 beruhte auf einem Täuschungsmanöver, bei dem das Symbol des Roten Kreuzes und die Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen mißbraucht wurden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz legte geharnischten Protest ein und wies darauf hin, daß das Vorgehen der kolumbianischen Regierung gegen internationale Abkommen verstoße und völkerrechtswidrig sei. Bei dieser Aktion trat die Skrupellosigkeit Uribes und der für die Durchführung der Operation verantwortlichen Akteure auf besonders drastische Weise zutage, da sie kein Hindernis darin sahen, humanitäres Engagement zu diskreditieren und womöglich auf Jahre hinaus im Konflikt mit der Guerilla zu blockieren.

Daß Streitkräfte und Geheimdienste der Vereinigten Staaten eng mit der kolumbianischen Führung zusammenarbeiten, ist ebensowenig ein Geheimnis wie die Präsenz israelischer Experten in Bogotá. Man kann daher davon ausgehen, daß es sich nicht um einen Alleingang auf kolumbianischer Seite gehandelt hat, der ohne jede Rücksprache mit Washington und ohne ausländische Unterstützung durchgeführt worden ist. Zieht man eine Verbindung zum Angriff kolumbianischer Spezialeinheiten auf das Lager der FARC in Ecuador und der dabei erfolgten Ermordung von Raúl Reyes, zeichnet sich eine konsistente Strategie der Counterinsurgency ab, die Uribe als engster Verbündeter der USA in Lateinamerika nicht in vollständiger Eigenregie durchtragen konnte.

In einer kaum noch erwarteten Wendung verlangt Ingrid Betancourt nun vom kolumbianischen Staat eine Entschädigung in Millionenhöhe für mehr als sechs Jahre Geiselhaft in den Händen von Rebellen. Während sie selbst umgerechnet 2,5 Millionen als Entschädigung für materielle und psychische Schäden während der Gefangenschaft fordert, machen ihre Mutter Yolanda Pulecio und ihre Kinder weitere 4,15 Millionen Euro geltend.

Wie die Regierung in Bogotá mitteilte, seien die beiden Schadensersatzforderungen bereits am 30. Juni eingegangen. Nur zwei Tage später habe Betancourt in Bogotá mit ranghohen Militärs sowie anderen bei der Aktion befreiten Geiseln den zweiten Jahrestag der erfolgreichen Operation gefeiert. "Das Verteidigungsministerium ist überrascht und erschüttert über die genannten Forderungen, vor allem angesichts der Mühe und des Einsatzes der Streitkräfte bei der Planung und Ausführung der Operation 'Jaque'", hieß es in der Stellungnahme. [1]

Ingrid Betancourt war während ihres Wahlkampfs als Präsidentschaftskandidatin der Grünen am 23. Februar 2002 im Süden des Landes an einer Straßensperre der FARC-Rebellen entführt worden, als sie von Florencia nach San Vicente del Caguán fahren wollte. Bei dieser Stadt handelte es sich um das Verwaltungszentrum einer Zone, die mehrere Jahre auf Grund eines Abkommens zwischen FARC und Regierung demilitarisiert gewesen war und nach gescheiterten Friedensverhandlungen nun wieder von den Streitkräften besetzt wurde. Betancourt begründet ihre aktuellen Forderungen damit, daß sie seinerzeit nicht vor den Gefahren der Fahrt gewarnt worden sei. Dem widersprach der damalige Friedensbeauftragte der Regierung, Camilo Gómez, unter Verweis auf eine von Betancourt unterschriebene Erklärung, in der sie das Risiko der Fahrt übernommen habe.

Nachdem die Forderung Betancourts nach einer Millionenentschädigung auf heftige Kritik seitens der kolumbianischen Regierung gestoßen ist, hat ihr Anwalt einen halben Rückzieher gemacht. Wie Gabriel Devis in einer von kolumbianischen Medien verbreiteten Erklärung mitteilte, gebe es im Augenblick weder Ermittlungen gegen die Regierung noch das Militär oder andere an der Befreiung Betancourts beteiligte Kräfte. Daher sei seine Mandantin noch immer an einer außergerichtlichen Schlichtung des Falls interessiert, die sich auf die Schutzmechanismen des Staates für seine Bürger konzentrieren könne. [2]

Angesichts der eingangs umrissenen Verantwortung der Administration Uribes für die langjährige Dauer der Gefangenschaft Betancourts ist eine Forderung nach Schadenersatz nur konsequent. Allerdings scheint sich die in der Begründung geltend gemachte Vorwurfslage nicht auf die Handlungsweise des aktuellen Präsidenten, sondern die Vorgängerregierung zu beziehen. Ingrid Betancourt hatte nach ihrer Befreiung Uribe und den Militärs auf eine Weise gedankt, die zwar im Augenblick grenzenloser Erleichterung menschlich nur zu verständlich war, jedoch auf längere Sicht weitgehend kritiklos fortzubestehen schien. Als hätten ihre Angehörigen nicht jahrelang für ihre Befreiung gekämpft und dabei nicht zuletzt berechtigte Vorwürfe gegen die Regierung Uribe erhoben, paktierte Betancourt offenbar mit eben jenen Kräften, die ihre Freilassung im Zuge eines Gefangenenaustausches verhindert hatten. Davon scheint auch das kolumbianische Verteidigungsministerium auszugehen, sofern man die nun zum Ausdruck gebrachte Überraschung und Erschütterung für bare Münze nehmen kann.

Was Ingrid Betancourt im einzelnen mit ihrem Vorstoß anstrebt, läßt sich vorerst nicht mit Sicherheit sagen. Die jüngste Stellungnahme ihres Anwalts könnte man dahingehend interpretieren, daß es womöglich im Kern um eine politische Forderung geht, die freilich noch präzisiert werden müßte. Nicht völlig auszuschließen ist natürlich auch, daß sie das Ausmaß ihrer Indienstnahme für einen der spektakulärsten Propagandacoups der Regierung Uribe am Ende doch noch realisiert und ihre Beteiligung daran aufkündigt.

Anmerkungen:

[1] Hohe Rechnung an den kolumbianischen Staat. Betancourt fordert Millionen-Entschädigung für Geiselhaft (10.07.10)
NZZ Online

[2] Betancourts Anwalt rudert nach Kritik an Millionenforderung zurück (11.07.10)
http://www.stern.de/news2/aktuell/betancourts-anwalt-rudert-nach-kritik-an-millionenforderung-zurueck-1582069.html

11. Juli 2010