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LATEINAMERIKA/2409: Protektorat Haiti - Mangelverwaltung im Chaos (SB)


Endlose Kette des Versagens hat System


Der von den Vereinigten Staaten und der zahlenmäßig kleinen, aber außerordentlich wohlhabenden und einflußreichen Elite Haitis betriebene Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide und seiner Regierung verwandelte das Land dauerhaft in ein Protektorat unter einem Besatzungsregime. Es handelte sich um einen Putsch, der von Washington ähnlich wie beim gescheiterten Staatsstreich gegen Hugo Chávez in Venezuela und der erfolgreichen Vertreibung Manuel Zelayas aus Honduras in verschleierter Form unterstützt und als Erhebung einheimischer Kräfte zur Wiederherstellung angeblich in Mitleidenschaft gezogener rechtsstaatlicher Verhältnisse ausgegeben wurde. Wie in den anderen beiden Fällen galt auch die Intervention in Haiti der Entmachtung einer Staatsführung, die ein Bündnis mit der armen Bevölkerungsmehrheit suchte und sich gegen die Dominanz der Hegemonialmacht wandte.

Das strategische Muster, einen funktionsfähigen Staat unter Eliminierung seiner legitimen politischen Führung zu zerschlagen, um sein Scheitern zu postulieren und die Fragmente militärischer Okkupation und ausländischer Verwaltung zu unterstellen, führte zwangsläufig auch in Haiti zu den absehbaren Verelendungsfolgen und eskalierenden Sozialkämpfen, die ihrerseits zum Vorwand genommen wurden, das Besatzungsregime zu perpetuieren. Erst wenn man diesen Prozeß als gezielt umgesetzte Strategie expandierender Herrschaftssicherung entschlüsselt, erschließt sich der Sinn einer andernfalls nur als endlose Kette unbegreiflichen Versagens zu mißdeutender Verstrickungen.

Das ärmste Land der westlichen Hemisphäre bietet selbst nach dem großen Erdbeben vom 12. Januar noch immer Verwertungssubstanz genug, die auszuplündern und zu regulieren die Produzenten und Profiteure von Not und Elend Schlange stehen. Erdölvorkommen vor der Küste und insbesondere eine spottbillige Arbeitskraft, die sich in Sweatshops der Textilindustrie und Elektronikbranche ausbeuten läßt, sind in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die willkommene Gelegenheit, in einem großen Feldversuch die Befriedung hungernder Menschenmassen experimentell zu erproben und zu studieren.

Daß sich unter diesen Voraussetzungen die aufgeblasensten Propagandalügen, man werde Haiti bei dieser Gelegenheit von Grund auf neu und besser errichten, mit einem endlosen Strom grauenerregender Hiobsbotschaften kreuzen, liegt geradezu auf der Hand. Und ebenso unvermeidlich kommt es an den Schnittstellen ausländischer Okkupationsmacht mit der haitianischen Bevölkerung zur Konfrontation unverhohlenen Herrenmenschentums mit den Unterworfenen, die Begriffe wie "Auswüchse", "Fehlverhalten" oder "Übergriffe" eher verschleiern, als daß sie deren Charakter offenlegten.

Die jüngst erfolgte Abberufung des kanadischen Chefs des Stabes der UN-Mission in Haiti (MINUSTAH), Oberst Bernard Ouellette, von seinem Amt wurde vom Verteidigungsministerium in Ottawa mit einem "Vertrauensverlust" begründet. Laut Ministeriumssprecher Jay Paxton war es Ouellette nicht gelungen, die "negative Moral und den Zusammenhalt im Team" der Haiti-Mission zu heben. Dadurch habe man das Vertrauen in den Stabschef verloren. Eine Stellungnahme zu kanadischen Medienberichten, die dem Oberst eine "unangemessene Beziehung" unterstellen, lehnte Paxton ab. [1]

Die Entlassung Ouellettes wurde bereits am 26. Juni während seines Urlaubs entschieden, sein Nachfolger, Oberst Grant Dame, wird in Kürze das Kommando der kanadischen Haiti-Mission übernehmen. Medieninformationen zufolge wurde gegen den abberufenen Oberst eine interne Ermittlung eingeleitet, da er eine "unangebrachte Beziehung" mit einem Mitglied des UN-Zivilpersonals unterhalten haben soll. Die Vorwürfe sind offiziell nicht bewiesen, beide Beschuldigten weisen sie zurück.

Die MINUSTAH nahm zum 1. Juni 2004 die Arbeit in Haiti auf, wo sie mit mehr als 10.000 Mitarbeitern stationiert ist. Ihr Mandat wurde mehrfach verlängert, zuletzt durch Resolution 1892 vom 13. Oktober 2009 bis zum 15. Oktober 2010. Oberst Ouellette hatte die Führung der MINUSTAH erst im Juli 2009 übernommen. Seine Abberufung wurde zunächst unter Verschluß gehalten und erst bekannt, als ein Journalist seine anhaltende Abwesenheit bemerkte und der Sache nachging.

Die Zeitung "Montreal Gazette" listet in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe publik gewordener Fehltritte hochrangiger kanadischer Militärs an verschiedenen Einsatzorten in aller Welt auf, wobei sie die Frage erörtert, ob die Skandale zugenommen haben oder die Bereitschaft der Streitkräfte gewachsen ist, größere Transparenz zuzulassen. Im Februar wurde ein Oberst wegen Mordes unter Anklage gestellt, im Mai der ranghöchste kanadische Offizier in Afghanistan, Brigadegeneral Daniel Menard, wegen sexuellen Fehlverhaltens im Umgang mit einer Untergebenen seines Postens enthoben und im Juni wurden zwölf aktive oder ehemalige Soldaten wegen zahlreicher Drogenvergehen angeklagt. Daß Transparenz nicht gerade Priorität bei den kanadischen Streitkräften genießt, zeigte sich unter anderem im Zuge der Enthüllung, daß sie ihre Gefangenen in Afghanistan zur Folter an die einheimischen Behörden überstellten. [2]

Die Abberufung Oberst Ouellettes ist nur ein aktueller Wellenschlag in einem Meer um sich greifender Erbitterung zahlloser Haitianer über das Verhalten vor allem weißer Ausländer in ihrem Land. In den sechs Monaten seit dem Erdbeben hat deren Ansehen erheblichen Schaden genommen, beherrschen doch teure Geländewagen das Straßenbild, die in krassestem Gegensatz zur alles beherrschenden Armut und Notlage stehen. Die Fahrer halten gerne auf Kreuzungen für eine kurze Plauderei von einem Wagenfenster zum andern an, wobei sie sich von dem Stau, der sich hinter ihnen bildet, nicht im geringsten stören lassen. Dann treten sie wieder aufs Gaspedal und scheuchen das Volk laut hupend aus dem Weg, was mangels Sprachkenntnissen der meisten ausländischen Helfer als Kommunikationsmittel vollkommen ausreicht, um die Verhältnisse klarzustellen.

Abends kommt es dann in den wenigen guten Restaurants der Hauptstadt dennoch zur intensiven Kontaktaufnahme mit der einheimischen Bevölkerung, sind doch die besten Plätze von weißen Gästen mit ihren jungen haitianischen Freundinnen besetzt. Ausländische Fernsehteams sind so auffallend oft bei Plünderungen, Überfällen und anderen spektakulären Zwischenfällen zur Stelle, daß man sich des Verdachts nicht erwehren kann, daß für Geld alles möglich ist. Prominente US-Schauspieler lassen sich mit Hilfspaketen ablichten, amerikanische Ärzte posierten nach dem Erdbeben während der Notoperationen grinsend für Fotos, die sie anschließend bei Facebook ins Internet stellten, und eine Kamera ertappte bekanntlich George W. Bush dabei, wie er die Hand am Hemd seines Vorgängers Bill Clinton abwischte, nachdem er sie einem Haitianer gereicht hatte. Wer in Haiti welche Gelder für welches Projekt erhält, entscheidet der weiße Mann oder die weiße Frau, und da die Regierung jeden Rückhalt verloren hat, bilden sich nicht selten neofeudale Strukturen bei der Gewährung selbst geringfügigster Überlebenshilfen aus. [3]

Während nach dem Erdbeben, bei dem über 200.000 Menschen starben und 1,6 Millionen obdachlos wurden, von der haitianischen Bevölkerung und den engagierten Teilen der internationalen Hilfsorganisationen gewaltige Probleme in Angriff genommen werden mußten, erging sich die internationale Politik in pompösen Zusagen, die nicht eingehalten wurden. Wie der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, der die Verwendung der Gelder mitkontrollieren soll, moniert, sind bislang nicht mehr als zehn Prozent der versprochenen Hilfsgelder in Haiti angekommen. Tatsächlich Geld überwiesen hätten bisher nur Brasilien, Norwegen und Australien. Zwar hätten auch die USA Geld in den Hilfsfonds eingezahlt, jedoch nur 23,7 statt der angekündigten 910 Millionen Euro. Der große Rest der Staaten habe lediglich Schulden erlassen. [4] Anderen Berechnungsgrundlagen zufolge sind bislang sogar nur zwei Prozent der zugesagten Gelder eingetroffen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon kritisierte, daß selbst die direkte humanitäre Hilfe nur zu 60 Prozent finanziert sei. Auch der Generalsekretär der Deutschen Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann, mahnte die Einhaltung der Zusagen ein. Die Vorbehalte gegenüber der haitianischen Regierung dürfen nicht dazu führen, daß dringend benötigte Hilfsgelder nicht ausgezahlt werden: "Wir müssen unser Wort halten. Die Menschen glauben sonst, daß die Schecks nur für die Fernsehkameras ausgestellt worden sind." [5]

Daß nach wie vor 1,6 Millionen Menschen unter erbärmlichen Verhältnissen in provisorischen Zeltstädten leben, führen Hilfsorganisationen und manche Geberländer auf die Unfähigkeit der haitianischen Regierung, nicht selten aber auch die internationalen Komitees wie jenes von Clinton zurück. Zwar hatten UNO, Regierung und NGOs frühzeitig sogenannte Cluster gegründet, die Pläne für den Wiederaufbau der Häuser oder der Infrastruktur entwickeln sollten. Bislang hat man sich jedoch nicht darüber geeinigt, ob Neubauten eher aus Holz oder Beton sein sollen und ob man größere Gebäude bauen oder die Hauptstadt Port-au-Prince flächenmäßig ausdehnen soll.

Noch immer steht der tägliche Kampf ums Überleben im Vordergrund und nicht die Rekonstruktion des Landes und der Institutionen. So ist der Wiederaufbau der Zweimillionenstadt Port-au-Prince kaum in Ansätzen zu erkennen. Zeltstädte und Notunterkünfte entwickeln sich zu den neuen Armutsvierteln, während zugleich jeder öffentliche Raum wie Plätze und Sportarenen verschwindet, weil dort die Menschen campieren. Die haitianische Regierung fühlt sich an den Rand gedrängt und reagiert mit bürokratischen Hürden von hohen Einfuhrzöllen über die Verschleppung von Importgenehmigungen bis zu polizeilichen Führungszeugnissen, die Helfer vorlegen müssen. Dies führt dazu, daß die Hilfsmaßnahmen verzögert und beeinträchtigt werden.

Ein grundsätzliches Manko bleibt indessen, daß die Bevölkerung in den maßgeblichen Gremien kaum vertreten ist. Wie mit Haiti zu verfahren sei, entscheiden ausländische Kräfte, die allenfalls ein offenes Ohr für die Wünsche einheimischer Unternehmer haben, die ihre einträglichen Geschäfte wieder aufnehmen und verbessern wollen. Die luxuriösen Villen der reichen Eliten an den Hängen jenseits der Trümmerwüste sind größtenteils intakt geblieben, so daß diese Familien, die sich den Reichtum des Landes seit Generationen aneignen, auch von der Naturkatastrophe profitieren können. Die Hilfsorganisationen benötigen Unterkünfte, Büros, Lagerhäuser, Mietwagen und Transporter sowie einheimische Waren. Der Versuch, den Armen zu helfen, führt auch in Haiti dazu, daß vor allem die Reichen aus dem Spendentopf gemästet werden. [6]

Wer darin nur eine Reihe von Kommunikationsproblemen, überforderten Instanzen und Unwuchten durch persönliches Fehlverhalten erkennen kann, sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die durch die Naturkatastrophe endgültig zerrissene Gesellschaft Haitis bietet so wenig Widerstand, daß man sie in Erprobung aller erdenklichen Formen provisorischer Lagerhaltung, Unterversorgung und Existenzgefährdung drangsalieren kann, ohne daß dies Krieg, Raubzug, Ausplünderung oder Vernichtungspolitik genannt würde - spricht man doch nach wie vor von einer humanitären Mission.

Anmerkungen:

[1] Kanada enthebt Stabschef in Haiti seines Amtes (10.07.10)
http://latina-press.com/news/33392-kanada-enthebt-stabschef-in-haiti-seines-amtes/

[2] Worse behaved or more accountable? Military scandals Top commander's dismissal is latest in string of misconducts (11.07.10)
http://www.montrealgazette.com/news/Worse+behaved+more+accountable/3262955/story.html

[3] Erdbeben-Hilfe. Das ignorante Auftreten der Weißen verärgert Haiti (11.07.10)
http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article8413798/Das-ignorante-Auftreten-der-Weissen-veraergert-Haiti.html

[4] Nach dem Erdbeben. Spendengeld für Haiti kommt nicht an (11.07.10)
http://derstandard.at/1277337863181/Nach-dem-Erdbeben-Spendengeld-fuer-Haiti-kommt-nicht-an

[5] 6 Monate nach Beben. Hoffnungslosigkeit in Haiti (11.07.10)
http://www.ksta.de/html/artikel/1278663504569.shtml

[6] Suffering and struggle: Six months after the Haitian earthquake (10.07.10)
World Socialist Web Site

12. Juli 2010