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LATEINAMERIKA/2433: Grenzen des Reformismus - Zum Tod Néstor Kirchners (SB)


Meister der Krise - doch nicht der Verhältnisse


Der frühere argentinische Präsident Néstor Kirchner ist im Alter von 60 Jahren gestorben. Er erlag in El Calafate in seiner südlichen Heimatprovinz Santa Cruz einem Herzinfarkt. Der Linksperonist war zuletzt Generalsekretär der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) und Vorsitzender der peronistischen Partido Justicialista. Ihm wurden gute Chancen eingeräumt, bei den Wahlen im kommenden Jahr in das Präsidentenamt zurückzukehren. Das südamerikanische Land wird derzeit von seiner Ehefrau Cristina Fernández regiert. [1] Kirchner war von 2003 bis 2007 argentinischer Staatschef. Er stieg zu einer zentralen Figur innerhalb des Peronismus auf, der weniger eine Partei, als vielmehr eine Bewegung ist, die ein breites politisches Spektrum abdeckt. Mit den Kirchners war eine politische Strömung verbunden, die sich als Mitte-Links charakterisieren läßt, ohne jedoch eine tiefgreifende gesellschaftliche Umgestaltung in Angriff zu nehmen. [2]

Nach der schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte Argentiniens, in der einander zuletzt binnen einer Woche fünf Präsidenten die Klinke in die Hand gaben, da sie einer nach dem andern von der aufgebrachten Bevölkerung aus dem Amt gejagt wurden, errang Néstor Kirchner 2003 das höchste Staatsamt. Ihm gelang es, die Lage zu stabilisieren und das Land aus den Fängen des Internationalen Währungsfonds zu lösen, der es sehenden Auges in die Krise getrieben hatte. Zugleich nahm er die juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur in Angriff, kündigte die Unterstützung Argentiniens für die von den USA angestrebte Amerikanische Freihandelszone (ALCA) auf und gehörte zusammen mit seinen Amtskollegen Luiz Inácio Lula da Silva aus Brasilien, Hugo Chávez aus Venezuela und Evo Morales aus Bolivien zu den aktivsten Unterstützern einer neuen Integration Südamerikas.

Diesen Erfolgen steht jedoch eine paternalistische Regierungsweise und eine allenfalls in Ansätzen angestrebte soziale Umgestaltung gegenüber. Argentinien ist weltweit der drittgrößte Exporteur von Soja und Weizen sowie einer der größten Produzenten von Rindfleisch. Dennoch sind offiziellen Angaben vom vergangenen Jahr zufolge rund zwölf Prozent der Kinder unterernährt, wobei der Mangel vor allem im Norden und Nordosten des Landes gravierend ist. So sind in der nordöstlichen Provinz Misiones, die zu einem der wichtigsten Rindfleischproduzenten der Welt zählt, seit Januar mehr als 200 Kinder wegen Mangelernährung gestorben. Gouverneur Maurice Gloss sprach von einer "strukturellen Armut", die auch das Programm "Null Hunger" der Regierung nicht beheben konnte. [3] Da die kapitalistischen Produktionsverhältnisse unangetastet blieben, waren dem Versuch, durch Sozialprogramme eine tendentielle Umverteilung zugunsten der ärmsten Bevölkerungsteile durchzusetzen, von vornherein die Flügel gestutzt. Der Boom der Rohstoffpreise konnte nur befristet und gegen erbitterten Widerstand der mächtigen Agrarproduzenten zur Besserung der Lebensverhältnisse genutzt werden. Letzten Endes bleibt die Zuteilung staatlicher Leistungen unter diesen Voraussetzungen stets ein bloßes Lehen, das den Empfängern jederzeit genommen werden kann.

Um Argentinien aus der Krise zu führen, ließ Kirchner den Peso stark unterbewertet, was die Exportwirtschaft beflügelte. 2005 setzte er den größten Forderungsverzicht aller Zeiten durch. Gläubiger, die in das Angebot der argentinischen Regierung einwilligten, verloren beim Umtausch in neue Bonds mehr als die Hälfte des Wertes ihrer Anleihen. Die argentinische Wirtschaft wuchs zwischen 2003 und 2007 jährlich um mehr als acht Prozent, wobei schon 2006 die Schulden beim Internationalen Währungsfond auf einen Schlag getilgt werden konnten. Allerdings belasteten weiterhin Altschulden in Höhe von 124 Milliarden US-Dollar das Land und vom internationalen Kapitalmarkt blieb Argentinien bis heute weitgehend ausgeschlossen. Venezuelas Präsident Hugo Chávez, der sich mit der Familie Kirchner gut versteht, kaufte für insgesamt sieben Milliarden Dollar argentinische Ramschanleihen auf, um die Abhängigkeit der Regierung von internationalen Gläubigern zu verringern. [4]

Néstor Kirchner war neben seiner Frau der einflußreichste Politiker des südamerikanischen Landes. Nach seinem Tod gilt es nun als wahrscheinlich, daß Cristina Fernández erneut kandidiert. Mit ihr war er bereits in den 1970er Jahren bei der radikalen peronistischen Jugend aktiv. Zu Beginn der Militärdiktatur (1976 bis 1983) flüchteten die beiden Rechtswissenschaftsstudenten in Kirchners Geburtsstadt Río Gallegos, die Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, wo sie ein Anwaltsbüro eröffneten. Anfang 1976 wurde das Ehepaar einen Monat lang auf einem Polizeikommissariat festgehalten. [5]

Vor drei Jahren verzichtete Néstor Kirchner trotz Beliebtheitsraten von über 60 Prozent auf eine erneute Kandidatur und verhalf seiner Frau ins Amt. Damals machten Spekulationen die Runde, Cristina Fernández solle die unpopulären Schritte zur Sanierung der Staatsfinanzen auf sich nehmen, worauf ihr Mann 2011 erneut die Präsidentschaft anstreben und so die Familiendynastie fortsetzen wolle. Da in Argentinien drei Amtszeiten in Folge nicht gestattet, spätere jedoch unbeschränkt möglich sind, vermutete man im Vorgehen der Kirchners die Strategie, sich abwechselnd die Präsidentschaft zu sichern.

Da die 56jährige Präsidentin nach vier Jahren im Amt ums politische Überleben kämpft, droht der Tod ihres Mannes die Ära Kirchner jäh und vorzeitig zu beenden. Bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr verlor ihre Partei die Mehrheit in beiden Kammern. Nachdem die Zerstrittenheit der Opposition die Aussichten der Kirchners in jüngerer Zeit wieder verbessert hatte, hat der Tod Néstor Kirchners vermeintlichen Absehbarkeiten den Boden entzogen. Der Expräsident hatte hinter den Kulissen agierend die Regierungspolitik maßgeblich beeinflußt. Zugleich sicherte er der Präsidentin immer wieder die Unterstützung der Mehrheit der peronistischen Politiker und der mächtigen Gewerkschaften. Dabei machte er sich zwangsläufig viele Feinde, die nun die Gelegenheit nutzen werden, in die Lücke zu stoßen. Man kann davon ausgehen, daß sich die bislang in mehrere Lager fraktionierten Peronisten neu formieren und zudem oppositionelle Kräfte erheblich stärker in Erscheinung treten. [6]

Cristina Fernández, deren Regierung in den ersten beiden Jahren ihrer Amtszeit außerordentlich unbeliebt war, hat in jüngerer Zeit deutlich an Zuspruch gewonnen, der in jüngsten Umfragen über 45 Prozent liegt. Da die Zentralbank für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum von 9,5 Prozent prognostiziert, wird die Staatschefin mit dem Wind der Konjunktur im Rücken wohl versuchen, die Botschaft zu formulieren, das politische Erbe ihres verstorbenen Mannes werde am besten gewahrt, indem man sie unterstütze. Néstor Kirchner konzentrierte die politische Macht in der Exekutive und regierte vorzugsweise per Dekret, da er der Überzeugung war, man müsse sich mit harter Hand durchsetzen, um nicht der Meute zum Fraß vorgeworfen zu werden. Da ihm dies zwangsläufig den Vorwurf einer zunehmend autoritären Führung eintrug, stellte Cristina Fernández einen konzilianteren und partnerschaftlicheren Führungsstil in Aussicht, ohne ihn freilich einzulösen. Nun muß sie notgedrungen eigenständige Mittel und Wege finden, die Geier in Schach zu halten, die nach der gebotenen Trauerzeit über sie herfallen werden. [7]

Angesichts der Zäsur stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der Kirchnerismus in seiner bislang praktizierten Form tatsächlich die einzig relevante Option bleiben soll, um konservative bis reaktionäre Kräfte Argentiniens in Schach zu halten. Anstelle der dem peronistischen Mythenschatz entlehnten Regierung für das Volk wäre ein partizipativer Ansatz denkbar, der Cristina Fernández freilich stärker denn je in Opposition zu den mächtigsten Zirkeln des Establishments brächte, ihr aber andererseits dort Rückhalt verschaffen könnte, wo ihn die Kirchners in ihrem Streben nach exekutiver Stärke offenbar am allerwenigsten ernsthaft gesucht haben.

Anmerkungen:

[1] Argentiniens Expräsident Néstor Kirchner gestorben (28.10.10)
junge Welt

[2] Argentiniens Ex-Präsident tot. Nestor Kirchner erlag 60-jährig Herzinfarkt (28.10.10)
Neues Deutschland

[3] Kinder sterben in Argentinien wegen Mangelernährung (26.10.10)
NZZ Online

[4] Zum Tode von Ex-Präsident Nestor Kirchner (27.10.10)
www.zeit.de

[5] Argentiniens Ex-Präsident Kirchner ist tot (27.10.10)
www.zeit.de

[6] Machtvakuum in Argentinien. Der Tod von Néstor Kirchner stellt die Politik auf den Kopf (27.10.10)
NZZ Online

[7] Argentine Ex-Leader Dies; Political Impact Is Murky (27.10.10)
New York Times

28. Oktober 2010