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LATEINAMERIKA/2441: Wahlergebnis zweifelhaft - Es gärt in Haiti (SB)


Studie zum Choleraausbruch verschärft explosive Stimmung


In Haiti ist es nach Bekanntgabe des Ergebnisses der Präsidentenwahl zu schweren nächtlichen Ausschreitungen gekommen. Tausende Menschen gingen in der Hauptstadt Port-au-Prince auf die Straße und machten ihrer Erbitterung Luft, die sich aus zahlreichen Quellen speist und nun durch den Zündfunken eines fragwürdigen Urnengangs erneut zum Ausbruch gebracht wurde. Augenzeugenberichten zufolge brannten überall in der Stadt Reifen und vielerorts waren Schüsse zu hören. Nach Angaben von AFP-Reportern errichteten Anhänger unterlegener Kandidaten Barrikaden in mehreren Vororten. Einem Bericht des Senders Signal FM zufolge griff die Polizei im Stadtteil Petionville ein, um den Protest unter Einsatz von Tränengas gewaltsam zu beenden. Dort hatten Hunderte Jugendliche unter anderem Geschäfte in Brand gesteckt. Lokale Radiosender berichteten von Demonstrationen auch aus anderen Städten.

Wie der provisorische Wahlrat CPE verkündet hat, wird über den neuen haitianischen Präsidenten in einer Stichwahl am 16. Januar entschieden. Da keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit erreicht hat, treten die beiden bestplazierten Bewerber im zweiten Durchgang gegeneinander an. Demnach entfielen bei den Wahlen vom 28. November auf die 70 Jahre alte Rechtsprofessorin und frühere Präsidentengattin Mirlande Manigat 31,37 Prozent der Stimmen. Sie ist die Frau von Leslie Manigat, der 1988 nach nur vier Monaten im Amt gestürzt wurde und ins Exil floh. Der 48jährige Kandidat der Regierungspartei, Jude Célestin, konnte 22,48 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Hingegen landete der populäre Sänger Michel Martelly, der zu den aussichtsreichsten Kandidaten gezählt hatte, mit 21,89 Prozent der Stimmen denkbar knapp hinter Célestin auf dem dritten Platz, wobei ihn dem Wahlrat zufolge nur 6.800 Stimmen von seinem Konkurrenten aus dem Regierungslager trennten. [1]

Jude Célestin ist als Politiker ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Der scheidende Staatschef Préval hatte seinen Schwiegersohn, der lange Jahre Chef der Infrastrukturbehörde war, erst kurz vor Schließung der Bewerberliste für die Kandidatur ausgewählt. Viele Haitianer lehnen Célestin ab, weil sie ihn aus naheliegenden Gründen für einen Strohmann Prévals halten. Dem amtierenden Präsidenten nehmen sie insbesondere übel, daß er die Bevölkerung nach dem Erdbeben weitgehend im Stich gelassen hat. Auch nach dem Ausbruch der Choleraepidemie, der inzwischen mehr als 2.100 Menschen zum Opfer gefallen sind, blieb die Regierung überwiegend tatenlos.

Da Martelly zuletzt als einer der Favoriten um die Nachfolge René Prévals gehandelt wurde, hegen die Anhänger des Musikers den Verdacht, daß ihr Kandidat ausgebootet worden ist. Sie kündigten an, das ganze Land mit Blockaden lahmlegen zu wollen. Martelly selbst hatte bereits zuvor mehrfach Wahlbetrug angeprangert. Seit dem chaotischen Urnengang war es wiederholt zu Demonstrationen gegen die eklatanten Unregelmäßigkeiten gekommen. Die Opposition unterstellt der Regierungspartei Inité, die Wahl zugunsten ihres Kandidaten Jude Célestin manipuliert zu haben.

Auch die amerikanische Botschaft in Haiti scheint mit dem Ergebnis der Wahl, vielleicht aber auch nur mit deren haarsträubenden Umständen, nicht glücklich zu sein. Sie reagierte "besorgt" auf die "inkohärenten" Wahlergebnisse. Der zweite Platz des Regierungskandidaten Célestin stimme nicht mit Ergebnissen überein, die der Nationale Wahlbeobachtungsrat (CNO) veröffentlicht habe, hieß es in einer überraschend deutlichen Mitteilung der Botschaft, die zugleich den Haitianern die Unterstützung der USA zusicherte. Die USA und die internationale Gemeinschaft seien bereit, die Resultate der Wahl genau zu überprüfen und dem haitianischen Volk zu seinem Recht zu verhelfen. Der von der EU finanziell unterstützte Wahlbeobachtungsrat, der beim Urnengang 5.500 Beobachter im Einsatz hatte, sah Célestin auf dem dritten Platz. [2]

Die Präsidentschaftswahl war von Anfang an keinesfalls Ausdruck des Mehrheitswillens der haitianischen Bevölkerung, da mit der Bewegung Fanmi Lavalas des ins Exil getriebenen früheren Staatschefs Jean-Bertrand Aristide die am besten verankerte Partei ausgeschlossen wurde. Von diesem grundsätzlichen Manko abgesehen wurde der Urnegang von Betrugsvorwürfen überschattet. Viele Wähler wußten nicht, wo sie ihre Stimme abgegeben konnten oder wurden eingeschüchtert. Wählerlisten waren unvollständig, Urnen wurden zerstört oder schon vor der Wahl mit Stimmzetteln gefüllt. Daher forderten noch am Wahltag zwölf der 18 Kandidaten die Annullierung der Abstimmung. Vor wenigen Tagen hatten auch die Vereinten Nationen eine Warnung an die Regierung Präsident Prévals gerichtet. Sollte der Wille des Volkes nicht respektiert werden, ziehe sich die internationale Gemeinschaft aus Haiti zurück, drohte Edmond Mulet, Chef der UN-Stabilisierungsmission MINUSTAH. Ab sofort läuft die Einspruchsfrist gegen die Ergebnisse der Wahl, deren offizieller Ausgang am 20. Dezember verkündet wird. [3]

Internationale Beobachter erklärten die Wahl ungeachtet der massiven Probleme und gravierenden Bedenken für gültig. Offenbar war diese Entscheidung von der Absicht getragen, durch eine nicht länger verzögerte Wiederherstellung formaldemokratischer Strukturen die unsichere Lage zu befrieden. [4] Obgleich die Wahlbeteiligung unter den katastrophalen Verhältnissen der allenfalls ansatzweise in Angriff genommenen Bewältigung der Erdbebenfolgen und der grassierenden Cholera außerordentlich gering war, so daß von einem Votum der Bevölkerung nicht ernsthaft die Rede sein kann, versuchte man, im Handstreich vollendete politische Tatsachen zu schaffen. Das droht nun insofern zu mißlingen, als der Urnengang nicht wie geplant reibungsarm über die Bühne gebracht werden konnte, weil Préval seine eigene Suppe zu kochen hofft.

Unter dem Vorwand, Präsident René Préval genieße nicht das uneingeschränkte Vertrauen ausländischer Regierungen und anderer Geber von Hilfsgeldern, sind die Zahlungen bislang größtenteils zurückgehalten worden. Beispielsweise haben die Vereinigten Staaten vollmundig 1,15 Milliarden Dollar zugesagt, jedoch noch keinen einzigen Cent bezahlt, da das Vorhaben im Kongreß blockiert wird. Welcher Anteil der insgesamt für das Jahr 2010 in Aussicht gestellten 2,12 Milliarden Dollar tatsächlich in Haiti angekommen ist, wird je nach Quelle unterschiedlich angegeben. Die Dienststelle des UN-Sondergesandten für Haiti spricht von 897 Millionen Dollar und damit 42,3 Prozent, die bis Ende November ausgezahlt worden seien, andere Angaben siedeln den Betrag wesentlich niedriger an. Da die Geber darauf drängen, zunächst eine funktionsfähige neue Regierung zu bilden, die dann angeblich mit den Hilfsgeldern in vollem Umfang rechnen kann, sah sich die politische Führung um Préval unter diesem Druck gezwungen, die Wahl durchzusetzen.

Verschärft wird die ohnehin explosive Stimmung durch eine Nachricht, die den Ausbruch der Choleraepidemie noch einmal zur Sprache und die UNO-Truppen in akute Erklärungsnot bringt. Eine wissenschaftliche Untersuchung hat den gehegten Verdacht bekräftigt und die Blauhelmsoldaten mit der Einschleppung der tödlichen Krankheit in Verbindung gebracht. Der führende französische Epidemiologe Renaud Piarroux hatte die Seuche im Auftrag der haitianischen und französischen Regierung untersucht. Er kommt in seiner bislang unveröffentlichten, jedoch der Nachrichtenagentur AP vorliegenden Studie zu dem Schluß, daß die Cholera ihren Ursprung sehr wahrscheinlich in kontaminiertem Wasser hatte, das aus einem Stützpunkt nepalesischer Blauhelme in der Nähe der Stadt Mirebalais austrat. [5] Die Krankeit sei im Landesinnern ausgebrochen, nicht an der Küste oder in einem Flüchtlingslager, sagte Piarroux. Somit habe die Epidemie keinen lokalen Ursprung, sie wurde ins Land gebracht.

Nach Angaben des französischen Außenministeriums wurde der Bericht abgeschlossen und an die haitianische Regierung sowie die Vereinten Nationen geschickt. Letztere erwiderten bereits, es sei dennoch nicht restlos gesichert, daß die Blauhelme für den Ausbruch verantwortlich sind. Es sei "ein Bericht unter vielen", der aber "sehr ernst" genommen werde, wie UN-Sprecher Martin Nesirky erklärte. Die UN-Mission in Haiti weise entsprechende Berichte weder zurück noch stimme sie ihnen zu.

Die Cholera war am 19. Oktober zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren auf der Karibikinsel am Fluß Artibonite in Mittelhaiti ausgebrochen. Weiter flußaufwärts liegt ein Stützpunkt nepalesischer Blauhelme. Daß der Krankheitsherd in deren Lager zu verorten sei, da die Seuche gegenwärtig auch in Nepal grassiert und Fäkalien aus dem Stützpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Fluß gelangt waren, hatte man als naheliegendste Erklärung frühzeitig angenommen. Daraufhin beschuldigten viele Haitianer die nepalesischen Blauhelme, die Seuche eingeschleppt zu haben, was von der Armee Nepals jedoch entschieden zurückgewiesen wurde. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf drei Menschen von den Besatzungstruppen getötet wurden, die den Protest nur mit Mühe eindämmen konnten. Da sich bereits mehr als 90.000 Menschen mit der Krankheit infiziert haben, geht man von einer Vielzahl weiterer Opfer aus. Internationale Gesundheitsexperten rechnen damit, daß sich in den kommenden zwölf Monaten bis zu 400.000 Menschen anstecken könnten. [6]

Anmerkungen:

[1] Ausschreitungen in Haiti nach Wahlergebnissen (08.12.10)
http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article11468340/Ausschreitungen-in-Haiti-nach-Wahlergebnissen.html

[2] Ausschreitungen nach Verkündung der Wahlergebnisse in Haiti (08.12.10)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5g1PsdSvTS_AWr7wEw6xSFEoxrXKw?docId=CNG.fe39182f97c2bba21cd32d097bcf8502.171

[3] Umstrittenes Wahlergebnis führt zu Ausschreitungen (08.12.10)
http://www.fr-online.de/politik/umstrittenes-wahlergebnis-fuehrt-zu-ausschreitungen/-/1472596/4905202/-/index.html

[4] Chaotische Wahl in Haiti. Umstrittene Ergebnisse sorgen für Aufruhr (08.12.10)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,733450,00.html

[5] Cholera in Haiti. Eine importierte Seuche (08.12.10)
http://www.sueddeutsche.de/politik/cholera-in-haiti-eine-importierte-seuche-1.1033426

[6] Haiti. Uno nimmt Cholera-Vorwürfe sehr ernst (07.12.10)
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,733422,00.html

8. Dezember 2010