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LATEINAMERIKA/2442: Wahlfarce unter dem Mangelregime des haitianischen Protektorats (SB)


Neuauszählung der Stimmen legitimiert den Urnengang nicht


Im Mangelregime des Protektorats Haiti, das systematisch als funktionsfähiger Staat zerschlagen worden ist und nun als Experimentierfeld vorgeblich humanitärer Administration in tiefstem Elend gehalten wird, drängen Verzweiflung und Zorn der drangsalierten Menschen zum Ausbruch. Die fortgesetzte Diskreditierung der Bewegung Fanmi Lavalas und ihr Ausschluß von den Wahlen hat bislang dazu geführt, daß seit dem Sturz Präsident Jean-Bertrand Aristides und dessen Vertreibung ins Exil die einzige organisierte Opposition in der Bevölkerung nicht zum Zuge kam. Daher ist es bislang eher ohnmächtige Wut, die den Protest gegen die Manipulation der Präsidentschaftswahl auf die Straße treibt, wo er von einheimischen Polizeikräften, aber mehr noch den Truppen der MINUSTAH eingedämmt und nicht selten gewaltsam niedergeschlagen wird. Mindestens vier Tote und zahlreiche Verletzte sind die Bilanz der letzten Tage, die Befürchtungen laut werden ließ, das Land stehe am Rand eines Bürgerkriegs.

Nach Angaben des Wahlrats hat Mirlande Manigat, die Frau des ehemaligen Präsidenten Leslie Manigat, den ersten Wahldurchgang am 28. November mit 31,37 Prozent der Stimmen gewonnen. Sie muß sich demnach im Januar in einer Stichwahl dem zweitplazierten Jude Célestin stellen, der auf 22,48 Prozent kam. Der populäre Musiker Michel Martelly rangiert mit nur 6.800 Stimmen Rückstand und 21,89 Prozent knapp hinter dem Schwiegersohn und Wunschnachfolger Präsident René Prévals, was das Faß der Empörung unter seinen Anhängern zum Überlaufen brachte. [1]

Die wütende Menschenmenge riß überall die Wahlplakate Célestins ab und verbrannte sie. In mehreren Städten wurde Feuer in den Büros der Regierungspartei Inité gelegt. Nicht nur in Port-au-Prince herrscht der Ausnahmezustand. Vielerorts wurden die Straßen mit Barrikaden blockiert, Schüsse fielen und Tausende aufgebrachter Demonstranten zogen plündernd und Steine werfend umher. Als wolle sie Öl ins Feuer gießen, rief Prévals Partei ihre Anhänger auf, die von der Opposition errichteten Barrikaden zu beseitigen. Daraufhin kam es mehrfach zu blutigen Zusammenstößen der verfeindeten Lager. In der Nähe des Präsidentenpalastes in der Hauptstadt gingen Augenzeugenberichten zufolge Anhänger und Gegner Präsident René Prévals unter Einsatz von Schußwaffen aufeinander los. Nach Angaben des Senders Signal FM starben in der Stadt Les Cayes zwei Menschen. Dort plünderten demonstrierende Anhänger Martellys mehrere Lebensmitteldepots. Auch aus Cap Haitien im Norden des Landes wurde der Tod eines Menschen gemeldet. Auf dem gesperrten Flughafen der Hauptstadt blieben internationale Verbindungen weiterhin gestrichen. Alle internationalen Fluggesellschaften sagten ihre Flüge nach Port-au-Prince ab.

Weder die haitianische Polizei noch die im Lande stationierten Truppen der UN-Mission MINUSTAH zeigten sich in der Lage, den Aufruhr umgehend zu unterbinden. Angesichts der eskalierenden Unruhen warnte Senatspräsident Joseph Lambert vor einem Bürgerkrieg. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich besorgt und forderte eine Überprüfung der Wahl. Präsident Préval rief die Menschen auf, Ruhe zu bewahren und die Stichwahl abzuwarten. In einer Rede an die Nation räumte er aber auch ein, daß die Ergebnisse nicht endgültig seien. [2]

Der unterlegene Michel Martelly erklärte im haitianischen Radio, der Wahlrat habe das Land mit seinen fehlerhaften Ergebnissen in eine Krise gestürzt. Auch die internationale Gemeinschaft und nationale sowie internationale Beobachter erkennen seinen Worten zufolge an, daß die Ergebnisse nicht richtig sind. Er bestärkte seine Anhänger in der Auffassung, daß gewaltloser Protest ein Bürgerrecht sei. Bei allem Verständnis für ihre Wut bitte er sie jedoch darum, sich bei ihren "Provokationen" in acht zu nehmen. [3]

Nach den tagelangen Unruhen entschloß sich der von mehreren Seiten unter Druck geratene Wahlrat zur Neuauszählung des Ergebnisses. Wie es in einer Mitteilung hieß, werde man die Stimmzettel "umgehend und schnell" erneut auswerten. Bei dieser Neuauszählung sollen neben ausländischen Beobachtern auch die drei führenden Bewerber um das höchste Staatsamt anwesend sein. Mirlande Manigat, Jude Célestin und Michel Martelly begrüßten die Entscheidung, weil damit Zweifel über das Ergebnis ausgeräumt würden. [4] Diese Aussage ist jedoch insofern unzutreffend oder möglicherweise auch unvollständig wiedergegeben, als die Manipulation der Wahl bereits im Zuge der Stimmabgabe stattgefunden haben kann, was in mehreren Fällen bereits nachgewiesen worden ist.

Die Wahl in Haiti bleibt ungeachtet der Neuauszählung grundsätzlich eine Farce, da mit der Fanmi Lavalas jene Oppositionspartei ausgeschlossen wurde, die nach allgemeiner Einschätzung im Falle einer Teilnahme das Rennen mit deutlichem Vorsprung gemacht hätte. Wie die Rückkehr Aristides verhindert wird, versucht man auch seine Anhänger dauerhaft zu neutralisieren, um den sozialen Protest der Organisationsfähigkeit zu berauben. Hinzu kommen die nach dem schweren Erdbeben im Januar, den tropischen Wirbelstürmen und der Choleraepidemie verheerenden Lebens- und Sterbensverhältnisse zahlloser Haitianer, weshalb die Frage zu stellen ist, ob unter diesen Umständen überhaupt reguläre Wahlen möglich sind. Die Durchführung des Urnengangs war denn auch derart fragwürdig, daß von einem Ergebnis, dem man ein Mindestmaß an Legitimität zubilligen möchte, nicht die Rede sein kann. Daß die Wiederherstellung demokratischer Strukturen und die Abhaltung regulärer Wahlen in Haiti vonnöten sind, soll damit nicht bestritten werden. Zu bezweifeln ist jedoch, daß das unter den Maßgaben des Protektorats zur Regulation des Elends auf niedrigstem Niveau möglich sein könnte.

Anmerkungen:

[1] Lage nach Unruhen in Haiti etwas beruhigt (10.12.10)
http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1080775

[2] Wahlen. Neuauszählung der Stimmzettel auf Haiti (10.12.10)
http://www.focus.de/politik/ausland/wahlen-neuauszaehlung-der-stimmzettel-auf-haiti_aid_580417.html

[3] Randale auf Haiti: Unterlegener Kandidat Martelly ruft Land zur Ruhe auf (09.12.10)
http://www.stern.de/news2/aktuell/randale-auf-haiti-unterlegener-kandidat-martelly-ruft-land-zur-ruhe-auf-1632381.html

[4] Proteste gegen Wahlergebnis - Haiti ordnet Neuauszählung an (10.12.10)
http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE6B905620101210

10. Dezember 2010