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LATEINAMERIKA/2462: Unter Geiern - Gerüchteküche um Chávez' Gesundheitszustand (SB)


Gegner stürzen sich auf Krankheit des venezolanischen Präsidenten


Es steht außer Frage, daß sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez in Havanna am bestmöglichen Ort befindet, seiner Erkrankung Paroli zu bieten. Unter dem Schutz von Freunden und behandelt von weltweit führenden Experten des kubanischen Gesundheitswesens bestehen die denkbar günstigsten Aussichten auf Genesung. Wer ernsthaft an dieser interessiert ist, sei es unter Parteinahme für die Fortentwicklung des venezolanischen Gesellschaftsentwurfs oder trotz möglicher Einwände dennoch der gebotenen Menschlichkeit folgend, wird es begrüßen, den erkrankten Staatschef so lange wie nötig in den besten Händen zu wissen.

Hugo Chávez tut gut daran, der Phalanx der Gegner, die sich an seiner vermeintlichen Schwäche delektieren, so wenig Einblick wie möglich in seine aktuelle gesundheitliche Verfassung zu geben. Wenngleich seine Mitstreiter in Venezuela und anderswo natürlich gute Gründe anführen können, nähere Kenntnis über Art und Schwere seiner Erkrankung zu erlangen, lauert zugleich ein ihm feindlich gesonnener Interessenkomplex, der sich von der einheimischen Opposition über die Regierungen in Washington und den Hauptstädten der übrigen westlichen Mächte bis hin zur Mehrheitspresse in den USA und Europa erstreckt auf jedes Zeichen, das sich zu seinen Lasten ausschlachten läßt. Auch nach zwölf Jahren im Amt ist derzeit nicht abzusehen, daß Chávez bei den Ende 2012 anstehenden Präsidentschaftswahlen ein aussichtsreicher Gegenkandidat erwächst. Um so mehr stürzen sich seine Widersacher auf die langersehnte Gelegenheit, Schützenhilfe von der durch langjährigen Kampf an vorderster politischer Front strapazierte Physis des Vorstreiters zu bekommen.

In einem Beitrag für die staatliche Nachrichtenagentur Venezuelas charakterisierte die Abgeordnete Cilia Flores Vertreter der Opposition als "Vampire und Geier", die dem Präsidenten die Autorität absprachen, vom Ausland aus weiterzuregieren. [1] Obgleich harsch in der Wortwahl beschrieb diese Einschätzung doch zutreffend den Versuch, das Wohl des Landes vorhaltend oder Besorgnis um die Arbeitsfähigkeit des Staatschefs vorschützend über ihn herzufallen. Ein von Havanna aus regierender Präsident sei eine nicht hinzunehmende Erniedrigung der Venezolaner, hatte die oppositionelle Abgeordnete und prominente Chávez-Kritikerin María Corina Machado zuvor in einem Interview erklärt. Der Präsident der Republik müsse sein Gesicht zeigen.

Die freundschaftlichen Beziehungen zu Havanna und die Anwesenheit kubanischer Ärzte und Sporttrainer in Venezuela hatten die Opposition schon des öfteren zu hetzerischen Warnungen vor einer angeblich drohenden Unterwanderung inspiriert. Dumpfer Nationalismus zu Lasten einer internationalistischen Ausrichtung und Bündnispolitik feiern dieser Tage Urständ, wenn die Bezichtigung erhoben wird, Chávez lege das Schicksal seines Landes in kubanische Hände.

Oppositionsnahe Rechtsexperten bezeichneten es als Verfassungsbruch, daß der Präsident die Amtsgeschäfte von Havanna aus weiterführte und die Autorität nicht an seinen Stellvertreter übergab. Américo de Gracia, Abgeordneter des Oppositionsbündnisses "Tisch der demokratischen Einheit" (MUD), forderte Chávez auf, die Regierungsgeschäfte vorübergehend an Vizepräsident Elías Jaua abzugeben und das Land täglich über seinen Gesundheitszustand zu informieren. [2] In der vergangenen Woche autorisierte jedoch die Nationalversammlung nach einer höchst kontroversen Debatte die verlängerte Abwesenheit des Staatsoberhaupts.

Teile der venezolanischen Ärzteschaft reagierten in einer Mischung aus Standesdünkel und Feindseligkeit empört auf die medizinische Behandlung des Präsidenten in Kuba. Die professionellen und technischen Kapazitäten des einheimischen Gesundheitswesens befänden sich auf höchstem Niveau, verkündete der frühere Gesundheitsminister José Félix Oletta, als stehe das mit abstrusem Nationalstolz verbrämte Ansehen des Berufsstandes weit über dem Wohlergehen des prominenten Patienten und dessen Entscheidung, sich in Havanna behandeln zu lassen.

Wie zynisch und bösartig Gegner des Präsidenten seine Erkrankung für ihre Gerüchteküche verwerten, unterstreichen Mutmaßungen oppositioneller Medien, Chávez habe sich in Kuba einer Schönheitsoperation unterzogen. Eine andere, an Absurdität nicht zu überbietende Spekulation besagte, ein hochrangiger kubanischer Funktionär habe Chávez mit seiner Ehefrau im Bett erwischt und ihm ins Bein geschossen. [3] Demgegenüber berichtete die rechtsgerichtete spanischsprachige Tageszeitung El Nuevo Herald aus Miami unter Verweis auf US-Geheimdienstkreise, Chávez' Zustand sei "nicht ernst, aber kritisch, schwierig". Daß der Staatschef an Prostatakrebs erkrankt sei, könne man jedoch nicht bestätigen. Zuletzt spekulierte die venezolanische Tageszeitung El Universal erneut über eine Krebserkrankung und eine Nachfolgedebatte bei den Chávistas, wo man "nie daran gedacht hat, dass ihr einziger Führer ein gewöhnlicher Sterblicher ist". [4]

Da durfte auch Michael Shifter vom Washingtoner Think-Tank Inter-American Dialogue nicht fehlen: "Venezuela ist eine Ein-Mann-Herrschaft. Alle Entscheidungen liegen in Chávez' Hand. Sollte sich seine Abwesenheit verlängern, könnte die Regierung funktionsunfähig werden." [5] Oppositionelle Abgeordnete wie Ismael García gehen hingegen davon aus, Chávez sei überhaupt nicht krank, sondern bereite einen Propagandacoup vor: Die Chávisten planten "einen bombastischen Auftritt" am 5. Juli, zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Venezuelas. Dann werde Chávez im Triumph zurückkehren, "ähnlich dem Einzug von General George Patton in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg". [6]

Der 56 Jahre alte Präsident Chávez hatte Venezuela am 5. Juni verlassen und zunächst Ecuador und Brasilien besucht, worauf er in Kuba eintraf. Dort befindet er sich in ärztlicher Behandlung und wurde am 10. Juni operiert. Zwischenzeitlich hatte er sich aus Havanna in einem Telefoninterview zu Wort gemeldet und versichert, daß er "voll einsatzfähig" sei. Er war zudem stehend und lächelnd am Krankenbett mit Kubas Staatschef Raúl Castro und dessen Bruder Fidel Castro fotografiert worden. Vor wenigen Tagen meldete sich Chávez über den Kurznachrichtendienst Twitter: "Heute ist der Tag meines Heeres", schrieb er in Anspielung auf die letzte siegreiche Schlacht der Unabhängigkeitskriege gegen Spanien 1821. "Eine riesige Umarmung an meine Soldaten und an mein geliebtes Volk." Kurz darauf fügte er hinzu: "Wir sind dabei zu siegen. Und wir werden siegen." Wie er am Wochenende ebenfalls über Twitter berichtete, hätten ihn seine Tochter Rosinés und die Enkelkinder Gaby, Manuelito und El Gallito besucht: "Ah, was für ein glückseliger Liebesbeweis! Gott segne sie!"

Ranghohe venezolanische Regierungsvertreter traten den entufernden Gerüchten entgegen. Am Samstag hatte Außenminister Nicolás Maduro noch mit einer Äußerung neue Spekulationen ausgelöst: "Die Schlacht, die Präsident Chávez gerade für seine Gesundheit schlägt, muss die Schlacht aller sein, die Schlacht um das Leben, um die unmittelbare Zukunft unseres Vaterlandes. Begleiten wir den Präsidenten in dieser großen Schlacht um seine Gesundheit." Dies hatten diverse Medien im In- und Ausland dahingehend interpretiert, daß Chávez mit dem Tod ringe. Dem widersprach Vizepräsident Elías Jaua mit den Worten, die internationale Rechte werde schon verrückt und reibe sich die Hände, da sie den nahen Tod des Präsidenten herbeirede. Genau wie beim Staatsstreich vom 11. April 2002 werde Hugo Chávez auch diesmal zurückkehren: "Chávez wird noch für lange Zeit da sein."

Auch Präsidialamtsministerin Erika Farías versicherte, der Präsident befinde sich in einem guten Zustand und kehre bald nach Venezuela zurück. Der venezolanische Diplomat Temir Porras schrieb über den Kurznachrichtendienst, Chávez' Feinde "sollten aufhören zu träumen, und seine Freunde sollten sich nicht nervös machen lassen." Informationsminister Izarra forderte die Bevölkerung unterdessen via Twitter auf, den Spekulationen des "Gesindels" keinen Glauben zu schenken.

Anmerkungen:

[1] http://www.nytimes.com/2011/06/24/world/americas/24venez.html

[2] http://amerika21.de/nachrichten/2011/06/35098/gesundheit-chavez

[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,770494,00.html

[4] http://womblog.de/2011/06/27/spekulationen-um-kranken-hugo-chvez-schlacht-um-seine-gesundheit/

[5] http://derstandard.at/1308679698851/Geruechte-um-Chavez-Gesundheit

[6] http://www.sueddeutsche.de/politik/hugo-chvez-im-krankenhaus-auf-kuba-reif-fuer-die-insel-1.1112587

27. Juni 2011