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LATEINAMERIKA/2463: Cholera von Blauhelmen nach Haiti eingeschleppt (SB)


Studie bestätigt langgehegten Verdacht


Die Cholera brach am 19. Oktober 2010 zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren am Fluß Artibonite in Mittelhaiti aus. Weiter flußaufwärts lag ein Stützpunkt nepalesischer Blauhelmsoldaten, die eine Woche zuvor im Land eingetroffen waren. Da zu diesem Zeitpunkt in Nepal eine Choleraepidemie grassierte, galt als naheliegendste Erklärung, daß der Krankheitsherd im Lager der Blauhelme zu verorten sei, zumal Fäkalien aus dem Stützpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Fluß gelangt waren. Die UNO räumte zwar sanitäre Probleme in dem Lager ein, behauptete aber ohne weitere Überprüfung, die Soldaten seien nicht für die Epidemie verantwortlich.

Bei einer ersten Untersuchung kam das US-Zentrum für Seuchenkontrolle und Vorbeugung zu dem Schluß, daß der in Haiti gefundene Erreger mit dem Typ übereinstimmte, der in Südasien vorkam. Die Weltgesundheitsorganisation zog sich jedoch auf die Ausflucht zurück, die Bekämpfung der Cholera habe für sie Vorrang vor der Untersuchung der Herkunft des Erregers. Die Kontrolle des Ausbruchs und die Hilfe für Erkrankte seien wichtiger, erklärte WHO-Sprecherin Fadela Chaib in Genf: "Irgendwann werden wir das weiter untersuchen, aber das hat jetzt keine Priorität." Viele Haitianer warfen den nepalesischen Blauhelmen vor, die Seuche eingeschleppt zu haben, was von der Armee Nepals jedoch entschieden zurückgewiesen wurde. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf drei Menschen von den Besatzungstruppen getötet wurden, die den Protest nur mit Mühe eindämmen konnten.

Anfang Dezember 2010 bekräftigte eine wissenschaftliche Studie den Verdacht, der die Blauhelmsoldaten mit der Einschleppung der tödlichen Krankheit in Verbindung brachte. Im Auftrag der Regierungen Haitis und Frankreichs hatte der führende französische Epidemiologe Renaud Piarroux die Seuche untersucht. Er kam in seiner zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten, aber der Nachrichtenagentur AP vorliegenden Studie zu dem Schluß, daß die Cholera ihren Ursprung sehr wahrscheinlich in kontaminiertem Wasser hatte, das aus dem Stützpunkt der nepalesischen Blauhelme in der Nähe der Stadt Mirebalais austrat. Da die Krankheit nicht an der Küste oder in einem Flüchtlingslager, sondern im Landesinnern ausgebrochen war, habe die Epidemie keinen lokalen Ursprung, sie wurde ins Land gebracht. Der Bericht wurde der haitianischen Regierung sowie den Vereinten Nationen zugesandt. Der UN-Sprecher Martin Nesirky erklärte daraufhin, es sei dennoch nicht restlos gesichert, daß die Blauhelme für den Ausbruch verantwortlich sind. Es sei "ein Bericht unter vielen", der aber "sehr ernst" genommen werde. Die UN-Mission in Haiti weise entsprechende Berichte weder zurück noch stimme sie ihnen zu.

Daß es sich bei diesen Erklärungen um Rückzugsgefechte handelte, die den so gut wie gesicherten Zusammenhang wenn nicht bestreiten, so doch durch Verschleppen neutralisierten sollten, dürfte sich nun bestätigt haben. Einer in der Juli-Ausgabe des Magazins "Emerging Infectious Diseases" veröffentlichten Studie zufolge soll die Choleraepidemie in Haiti von nepalesischen UN-Blauhelmsoldaten eingeschleppt worden sein. Den Angaben zufolge gibt es eine "exakte Übereinstimmung" bezüglich des Zeitpunkts und Ortes zwischen der Ankunft der Blauhelme und dem Auftreten der ersten Cholerafälle in dem vom Erdbeben verwüsteten Karibikstaat. [1]

Laut neuesten Zahlen aus dem Ministerium für Gesundheit und Bevölkerung vom 23. Juni sind seit Oktober vergangenen Jahres 5.506 Menschen der bakteriellen Infektion zum Opfer gefallen. Seit Beginn der Epidemie sind nach offiziellen Daten 363.11 Personen erkrankt, 191.508 Infizierte mußten stationär behandelt werden.

Acht Monate nach Ausbruch der Cholera in Haiti haben Behörden und internationale Hilfsorganisationen die Seuche weniger denn je unter Kontrolle. Jeden Tag erliegen im Schnitt sechs Menschen der Krankheit, rund 550 Personen infizieren sich. Allein in den letzten drei Wochen sind weitere 169 Menschen an der Cholera gestorben und insbesondere in der Hauptstadt Port-au-Prince ist die Zahl der Erkrankungen in den vergangenen Tagen sprunghaft gestiegen. Wie die Hilfsorganisation Oxfam berichtet, würden aus Carrefour, einem dicht besiedelten Stadtteil im Westen der Stadt, täglich 300 neue Fälle gemeldet. Das seien dreimal soviel Neuerkrankungen wie beim Ausbruch der Seuche im vergangenen Herbst. Eine deutliche Zunahme der Cholerafälle in den vergangenen Wochen bestätigt auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die sowohl in der Hauptstadt, als auch in anderen Gegenden im Landesinneren im Einsatz ist. Man habe mehrere Behandlungszentren wiedereröffnet, da die bestehenden Einrichtungen in den Vororten von Port-au-Prince andernfalls die Behandlung der neuen Patienten nicht mehr bewältigt hätten. [2]

Auch in der benachbarten Dominikanischen Republik, mit der sich Haiti die Insel Hispañola teilt, wütet die Cholera. Dort sind nach Angaben der Behörden mindestens 50 Personen an der bakteriellen Infektion gestorben. Die Krankenhäuser in der Hauptstadt Santo Domingo sind hauptsächlich von Kindern mit Symptomen der Krankheit bis auf das letzte Bett belegt. Allein in den letzten Tagen wurden 67 Personen mit Symptomen der Cholera in verschiedene Kliniken eingeliefert.

Bei der Cholera handelt es sich um eine lebensgefährliche Durchfallerkrankung, die binnen weniger Stunden zum Tod führen kann. Die meisten Menschen infizieren sich über mit Fäkalien verschmutztes Trinkwasser oder über verunreinigte Lebensmittel. Typische Symptome sind starker Durchfall und Erbrechen. Da die Patienten bis zu 20 Liter Flüssigkeit am Tag verlieren können und dabei auch Mineralien ausgeschwemmt werden, sind Nierenversagen und Kreislaufkollaps die Folge. Wird die Krankheit schnell erkannt, kann sie erfolgreich behandelt werden, wobei vor allem die Versorgung mit sauberem Wasser, lebenswichtigen Salzen (Elektrolyten) und Antibiotika vordringlich ist. [3]

Die Cholera gilt als typische Armutskrankheit, da sie in Regionen mit katastrophalen hygienischen Bedingungen grassiert, wie sie für Elendsgebiete charakteristisch sind. Obgleich sie mit vergleichsweise einfachen und billigen Mitteln behandelt werden kann, führt die Seuche unbehandelt in der Hälfte aller Fälle in kürzester Zeit zum Tod. In Haiti haben Mangel- und Unterernährung zahllose Menschen derart geschwächt, daß sie der Krankheit zum Opfer fallen. Vor allem aber fehlt es an sauberem Wasser und Seife, um eine Infektion zu verhindern. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung leben am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze, wobei 60 Prozent sogar mit weniger als 70 Eurocent täglich ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Da der Preis für Kanister mit Trinkwasser inflationär gestiegen ist, muß man davon ausgehen, daß die Cholera auf lange Sicht im Land wüten wird.

Vor dem Ausbruch war die Cholera auf der Karibikinsel praktisch unbekannt, da seit Generationen keine Krankheitsfälle aufgetreten waren und die Seuche als ausgerottet galt. Nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar 2010 hatten Experten nicht zuletzt vor Seuchen gewarnt. Im Herbst letzten Jahres lebten nach wie vor rund 1,5 Millionen Menschen unter notdürftigsten Verhältnissen in etwa 1.300 provisorischen Lagern, deren hygienischen Verhältnisse mangelhaft bis furchterregend waren. Wenn unter diesen Umständen Blauhelmsoldaten aus einem Land wie Nepal, in dem die Cholera ausgebrochen war, nach Haiti entsandt wurden, fällt es schwer, lediglich von Fahrlässigkeit oder einem Fehler mit unvorhersehbaren Folgen auszugehen. Es müssen nicht gezielt mit Pockenerregern präparierte Decken sein, wie man sie einst nordamerikanischen Indianern als tödliches Geschenk ausgehändigt hat. Aus der Kolonialgeschichte sind zahlreiche Fälle von Krankheiten bekannt, die von den Eroberern eingeschleppt wurden und ganze Völkerschaften wirksamer ausgerottet haben als Pulver und Stahl. Fühlt man sich daran im Falle der Choleraepidemie in Haiti und der Dominikanischen Republik erinnert, trägt die Blockadehaltung der UN-Mission wie auch der WHO nicht gerade dazu bei, solche düsteren Befürchtungen zu zerstreuen.

Fußnoten:

[1] http://latina-press.com/news/94094-blauhelme-aus-nepal-sollen-fuer-cholera-epidemie-in-haiti-verantwortlich-sein/

[2] http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,766547,00.html

[3] http://www.tagesschau.de/ausland/haiti902.html

30. Juni 2011