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LATEINAMERIKA/2475: Mexikos repressive Staatsräson (SB)



Massaker, Hinrichtungen, Verschwindenlassen

Der Chef der mexikanischen Bundespolizei, Enrique Galindo, ist auf Anweisung des Präsidenten Enrique Peña Nieto seines Amtes enthoben worden. Mag diese Entscheidung überraschend anmuten, so gilt das nicht für ihre Begründung. Vor wenigen Tagen hat nämlich die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) einen Bericht vorgelegt, in dem die "extralegale Hinrichtung" von 22 Personen im Bundesstaat Michoac´n durch Einsatzkräfte der Bundespolizei nachgewiesen wird. Das Massaker wurde im Mai 2015 in Tanhuato während einer Operation gegen die Kartelle verübt. Offiziellen Angaben zufolge handelte es sich damals um eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Einsatzkräften der Bundespolizei und Mitgliedern der kriminellen Organisation "Kartell Jalisco Neue Generation".

Der nun suspendierte Galindo hatte zudem das Vorgehen der Bundespolizei in Nochixtlán im Bundesstaat Oaxaca gegen die protestierende Lehrergewerkschaft und die mit ihr solidarische Bevölkerung gerechtfertigt. Obgleich dort am 19. Juni mindestens acht Zivilpersonen getötet wurden, hatte Galindo auf einer Pressekonferenz behauptet, die Bundespolizei sei unbewaffnet gegen die Demonstranten vorgerückt. Diese Behauptung konnte jedoch mit Hilfe von Fotos verschiedener Presseagenturen widerlegt werden. Demnach feuerte insbesondere die Gendarmerie, eine neue Spezialeinheit der Bundespolizei, die zum Schutz der ausländischen Investitionen im Jahr 2014 gegründet wurde, mit Schnellfeuerwaffen auf die Bevölkerung. [1]

Bei den Todesopfern handelte es sich überwiegend um junge Lehrer, die zur Verteidigung des öffentlichen Bildungswesen auf die Straße gegangen waren. Vielerorts demonstrieren Lehrer gegen Präsident Nietos Vorhaben, das Bildungssystem zu privatisieren und autoritäre Methoden zur Prüfung und Einstellung von Lehrern einzuführen. Nach dem Massaker hat sich der Widerstand gegen staatliche Unterdrückung und die "Reformen" im Rahmen des "Pakts für Mexiko" verschärft. Tausende Menschen nahmen an Trauerveranstaltungen für die Todesopfer in Nochixtlán teil. Studenten der größten Universitäten boykottierten ihre Vorlesungen, und die Eltern der 43 Lehramtsstudenten, die im September 2014 im Auftrag der mexikanischen Regierung entführt und ermordet wurden, reisen weiter zu Protestveranstaltungen durchs Land, seit die Regierung das einzige unabhängige Ermittlungsverfahren eingestellt hat. [2]

Der Fall der 43 Studenten machte weit über Mexiko hinaus publik, wie viele Menschen in diesem Land oftmals unter Beteiligung staatlicher Sicherheitskräfte verschwinden. Es gelten 27.000 Menschen offiziell als verschwunden, viele liegen vermutlich verscharrt in versteckten Massengräbern, Angehörige suchen vergebens nach ihnen, manche seit Jahrzehnten. Allein in der dreieinhalb Jahre währenden Amtszeit von Präsident Nieto verschwanden mehr als 13.000 Menschen. An dieser Praxis sind nicht selten staatliche Elemente direkt beteiligt, indem sie Menschen entführen, oder indirekt, indem sie das Verbrechen billigend in Kauf nehmen und Unkenntnis vortäuschen. Es handelt sich nicht so sehr um Einzelfälle, sondern um ein kontinuierliches Verbrechen, das aus den Zeiten des Schmutzigen Kriegs herrührt und weiter fortgesetzt wird. [3]

Wollte man von einem Anfang dieser offenen Repression gegen die Bevölkerung sprechen, wäre das Massaker von Tlatelolco zu nennen, dem der sogenannte Schmutzigen Krieg folgte, in dem zahlreiche Dissidenten spurlos verschwanden. Am 2. Oktober 1968 feuerten mindestens 360 Scharfschützen im Auftrag der mexikanischen Regierung in eine Menschenmenge, die sich zum Zeichen des Protests auf dem Tlatelolco-Platz in der Hauptstadt versammelt hatte. Dies legten geheimgehaltene und erst Jahre später freigegebene Dokumente nahe, die den Medien zugänglich gemacht wurden. Das Massaker bewegte eine ganze Generation junger Mexikaner, die der offiziellen Version, bewaffnete radikale Unruhestifter hätten den blutigen Zwischenfall provoziert, um das Land und seine Regierung in Mißkredit zu bringen, seit jeher wenig Glauben schenkten.

Die damaligen Machthaber und Militärs hielten die studentische Opposition an den Hochschulen für eine subversive Kraft, die anarchische Zustände herbeiführen und das öffentliche Leben ernsthaft stören würde, wenn man sie nicht rasch und energisch in die Schranken weise. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges waren Präsident Gustavo Díaz Ordaz und sein Innenminister Luis Echeverría von der Vorstellung beherrscht, die aufkeimende antiautoritäre und kommunistische Opposition braue ein subversives Komplott zum Sturz der Regierung zusammen. Die Protestveranstaltung auf dem Tlatelolco-Platz nur zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Mexiko bot eine willkommene Gelegenheit, mit der Subversion an Schulen und Universitäten aufzuräumen. Regierung und Armee hielten vor, daß die Studenten die Spiele sabotieren wollten, um Mexiko und seinem Präsidenten vor aller Welt Schaden zuzufügen.

Der studentische Streikrat hatte für den Abend des 2. Oktober 1968 zu einer Massenveranstaltung auf dem Platz der drei Kulturen im Stadtviertel Tlatelolco, mitten im Herzen der mexikanischen Hauptstadt, eingeladen. Rund 5.000 bis 6.000 Studenten und Schüler waren dem Aufruf zu diesem Treffen gefolgt, das aus Sicht der dort Versammelten nichts Außergewöhnliches an sich hatte, sondern Teil einer seit Monaten währenden Protestbewegung der Studentenschaft war. Wie üblich wurden einige Reden gehalten und Parolen skandiert, doch blieb die Stimmung ruhig. Kurz nach 18 Uhr wurden plötzlich von einem Hubschrauber aus zwei grüne Leuchtraketen abgefeuert, worauf Soldaten den Platz stürmten und Panzerfahrzeuge alle Ausgänge blockierten. Von den umliegenden Gebäuden feuerten Scharfschützen in die Menge und verwandelten den Platz binnen weniger Minuten in ein Inferno. In diesem Blutbad starben mehrere hundert Menschen, zweitausend Studenten wurden verhaftet. Das geschlossene und überfallartige Vorgehen der Sicherheitskräfte und insbesondere das Auftauchen von zivil gekleideten Soldaten und Offizieren des "Batallón Olimpia", die als Erkennungszeichen alle einen weißen Handschuh an der linken Hand trugen, ließ keinen Zweifel daran, daß es sich um einen gezielten und präzise vorbereiteten Schlag gegen die studentische Protestbewegung handelte.

Damals wie heute ist die mexikanische Innenpolitik in hohem Maße mit den Interessen der USA verflochten, wobei die Zusammenarbeit in jüngerer Zeit sehr viel enger geworden ist. So haben die USA im Rahmen der Mérida-Initiative seit 2008 mehr als 2,3 Milliarden Dollar in die Bewaffnung und Ausbildung der mexikanischen Polizei und Streitkräfte investiert und sie mit tödlichen Waffen, Drohnen, Überwachungsgeräten und Flugzeugen ausgerüstet. Darüber hinaus hat das US Northern Command Hunderte Millionen Dollar in eigenständige Ausbildungsprogramme investiert, die im Gegensatz zur Mérida-Initiative keinen menschenrechtlichen Einschränkungen unterliegen. Allein im Jahr 2015 wurden fast 5.000 mexikanische Polizisten und Militärs in US-amerikanischen Militärbasen ausgebildet. Vermutlich wurden auch die Bundespolizisten, die in Nochixtlán das Feuer eröffneten, in den USA ausgebildet und von diesen bewaffnet.

Beim "Pakt für Mexiko", mittels dessen die einheimische Oligarchie eine massive Umverteilung von unten nach oben durchsetzen will, wird sie von der US-Regierung unterstützt. So traf einen Tag nach dem Massaker an den protestierenden Lehrern in Oaxaca die amerikanische Botschafterin Roberta Jacobson mit Peña Nieto zusammen, um ihm ihre Unterstützung für seine Reformen zuzusichern. Die Chancen für eine bilaterale Zusammenarbeit zwischen den USA und Mexiko seien noch nie besser gewesen. Nur durch Bündnisse im Bildungsbereich könne man Arbeitskräfte für das 21. Jahrhundert ausbilden, so die Botschafterin.


Fußnoten:

[1] http://amerika21.de/2016/08/159118/polizeichef-mexiko-entlassen

[2] https://www.wsws.org/de/articles/2016/06/29/oaxa-j29.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/verschwundene-in-mexiko-verbrechen-mit-staatlicher.1773.de.html?dr

31. August 2016


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