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LATEINAMERIKA/2476: Brasilien droht eine neoliberale Restauration (SB)



Dilma Rousseff mit kaltem Staatsstreich entmachtet

Mit der Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff haben die wirtschaftlichen und politischen Eliten die Phase des sozialdemokratischen Gesellschaftsentwurfs im größten Land Lateinamerikas nach dreizehn Jahren beendet. Eine im Kern dynastisch strukturierte Klasse, die seit Jahrzehnten mitunter ganze Bundesstaaten wie ihr privates Königreich regiert, diktiert Brasilien fortan eine neoliberale Restauration. Der Putschist Michel Temer will eine "Brücke in die Zukunft" bauen, als deren Fundamente er die Einführung einer Schuldenbremse, Steuererleichterungen für Reiche, den Abbau von Sozialprogrammen, eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ausweist. Zudem will er Anteile von Staatskonzernen verkaufen und Freihandelsabkommen abschließen.

Schon ein Blick auf das neue Kabinett signalisiert unmißverständlich, daß die alten Eliten an die Macht zurückgekehrt sind: Ausschließlich weiße Männer überwiegend mittleren Alters, keine Frau, niemand von dunklerer Hautfarbe. Mit dem Posten des Landwirtschaftsministers wurde der Großgrundbesitzer Blairo Maggi, genannt "Sojakönig", bedacht, der für Abholzungen im Amazonasgebiet mitverantwortlich ist. Das Ressort für Frauen und Gleichstellung von Ethnien wurde kurzerhand aufgelöst. Drei Minister mußten bereits zurücktreten, weil zwei von ihnen in der von Temer ausgerufenen "Regierung der nationalen Rettung" vor allem ihre eigene Rettung vor Korruptionsermittlungen sahen, wie aus Telefonmitschnitten hervorging. Dem dritten wird Bestechung vorgeworfen. [1]

Damit stehen die drei Politiker nicht allein, da gegen mehr als die Hälfte der brasilianischen Parlamentarier Ermittlungen anhängig sind. Viele Mitglieder des Senats sind Großgrundbesitzer und Unternehmer, die meisten Millionäre, und gegen etliche wird wegen Korruption, Geldwäsche oder Gründung einer kriminellen Vereinigung ermittelt, einige wurden bereits verurteilt. Dennoch ist es ihnen gelungen, ihre Privilegien zu behalten und sich Straffreiheit zu sichern. Der ehemalige Parlamentspräsident Eduardo Cunha ist wegen Korruption und Geldwäsche angeklagt, gegen mehrere Mitglieder des neuen Kabinetts wird wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt. Die Spitzen der von solchen Vorwürfen betroffenen Parteien arbeiten längst an einer Generalamnestie, um sich auf einen Schlag den Rücken freizuhalten. [2]

Der 75jährige Michel Temer darf 2018 nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren, weil er im Mai wegen illegaler Wahlkampfspenden verurteilt und für acht Jahre von der Teilnahme an öffentlichen Wahlen ausgeschlossen wurde. Zudem hat ein wichtiger Zeuge in den Korruptionsermittlungen um den Erdölskandal Petrobras gegen ihn ausgesagt. Temer weist diese Vorwürfe zurück, doch sind bekanntermaßen viele seiner Parteifreunde in den Skandal verwickelt, was freilich auch für einflußreiche Mitglieder der Arbeiterpartei gilt. Dilma Rousseff wurde hingegen nicht vorgeworfen, in diese Praxis verwickelt zu sein. Zwar liegt nahe, daß sie als Verwaltungsratsvorsitzende des Unternehmens von diesen Vorgängen gewußt haben müßte, doch hat sie sich im Gegensatz zu vielen anderen Politikern nicht persönlich bereichert.

Der bislang vor allem als Drahtzieher im Hintergrund bekannte Temer hatte nach dem Bruch der Koalition seiner ideologisch flexiblen Mitte-Rechts-Partei PMDB mit der regierenden Arbeiterpartei das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff entscheidend vorangetrieben. Er ist bereits der dritte Präsident der PMDB, der als Vizepräsident an die Macht gelangte, was ihm an den Wahlurnen nie gelungen wäre. Seine aktuellen Umfragewerte liegen je nach Quelle zwischen sechs und zehn Prozent, bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele wurde er ausgebuht, zur Abschlußzeremonie erschien er gar nicht erst. Zu einer nachträglichen demokratischen Legitimation seiner Präsidentschaft wird es keinesfalls kommen. [3] Dies ist jedoch nur einer von mehreren Gründen, die den Machtwechsel als kalten Staatsstreich ausweisen.

Im präsidentiellen Regierungssystem Brasiliens kann man eine Regierung, die ihre Mehrheit verliert, nicht absetzen und Neuwahlen ausrufen. Der einzig legitime Machtwechsel erfolgt alle vier Jahre über Wahlen, und so lange wollten die Protagonisten des Konters nicht warten. Die Amtsenthebung ist ein legitimes Verfahren, das sich in der Verfassung jedoch auf Straftäter im höchsten Staatsamt bezieht, die folglich auch für acht Jahre ihre politischen Rechte verlieren. Daß die Senatoren Rousseff in einer zweiten Abstimmung das Recht beließen, weiterhin ein öffentliches Amt auszuüben, zeugt von Zweifeln selbst unter ihren Gegnern, daß das Vorgehen verfassungskonform sei.

Laut Staatsanwaltschaft handelt es sich bei den Vorgängen, die Rousseff zur Last gelegt wurden, nicht um strafbare Handlungen. Ihr wurde vorgeworfen, Kredite von Staatsbanken und Pensionsfonds verwendet zu haben, um Staatsausgaben zu decken, und Zusatzkredite ohne vorherige Zustimmung des Parlaments aufgenommen zu haben. Der Umfang macht weniger als ein Prozent des Haushalts aus, persönlich bereichert hat sich Rousseff daran nicht. Es war zwar nicht legal, aber wiederum auch nicht ungewöhnlich, da sich zahlreiche ihrer Vorgänger und die Mehrzahl der amtierenden Gouverneure solcher Manipulationen bedient haben. Folglich handelt es sich bei der Amtsenthebung um eine Abrechnung, die alle Züge eines politischen Putsches aufweist. Nach Fernando Collor de Melo im Jahr 1992 ist dies die zweite Absetzung eines demokratisch gewählten Staatschefs, so daß seit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der achtziger Jahre mit Fernando Henrique Cardoso und Luiz Inácio Lula da Silva nur zwei von vier gewählten Präsidenten Brasiliens ihr Mandat wie vorgesehen beendet haben.

Wenngleich die Eliten des Landes in Dilma Rousseff stets einen Fremdkörper im höchsten Staatsamt und eine potentielle Gefahr für ihre Bereicherung und Straflosigkeit gesehen haben dürften, war doch die entscheidende Triebfeder des Umsturzes die dramatische Wirtschaftsschwäche. Brasilien leidet besonders unter dem Verfall der Rohstoffpreise und der schwächelnden Nachfrage aus China, die das vermeintliche ökonomische Vorzeigemodell in die Krise gestürzt haben. Um die Profite der Kapitalfraktionen zu sichern, die Bevölkerung stärker an die Kandare zu nehmen und die Vormachtambitionen Brasiliens auf internationaler Bühne aufrechtzuerhalten, entsorgt man den paternalistischen Entwurf des "Lulaismus" zugunsten einer rigide neoliberalen Rezeptur.

Bei Amtsantritt Dilma Rousseffs im Januar 2011 schien Brasilien die weltweite Wirtschaftskrise nicht nur zu bewältigen, sondern darüber hinaus als krisenresistentes Modell Schule zu machen. Eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik mit wachsenden Staatsausgaben führte zu einem soliden Wirtschaftswachstum und ließ die Arbeitslosigkeit sinken. Das Wachstum von 7,5 Prozent im Jahr 2010 verdankte sich insbesondere dem Preisanstieg der meisten agrarischen und industriellen Rohstoffe, die Brasilien exportiert. Die Erlöse für Soja und Mais, Kaffee, Baumwolle, Orangensaft und Zucker sowie Eisenerz stiegen, auch der Konsum im eigenen Land als zweite tragende Säule der Konjunktur machte einen gefestigten Eindruck.

Zwar lebten ungeachtet umfangreicher Sozialprogramme noch immer 18 Millionen Brasilianer im Elend, und die offizielle Zahl von gut 20 Millionen Menschen, die seit 2003 in die Mittelschicht aufgestiegen seien, wurde nicht widerspruchslos akzeptiert. Dennoch erklärte die neue Präsidentin zuversichtlich, Brasilien habe die Voraussetzungen geschaffen, eine der "am meisten entwickelten Nationen mit den geringsten sozialen Unterschieden zu werden, ein Land mit einer soliden Mittelschicht voller Tatendrang". Rousseff wollte wie ihr Vorgänger Lula den Sozialstaat weiter ausbauen und zugleich Investitionen erleichtern, den Wirtschaftsboom befeuern und dennoch die Inflation einhegen.

Zugleich bezeichnete sie es als "heilige Mission" ihrer Regierung, "der Welt zu zeigen, daß ein Land rasch wachsen kann, ohne die Umwelt zu zerstören". Diesen offensichtlichen Widerspruch glaubte Rousseff zu lösen, indem Brasilien "Weltmeister der sauberen Energien" werden solle. Die in der Vergangenheit als Technokratin bekannte Politikerin, die höchst umstrittene Großprojekte durchgesetzt hatte, faßte neben Wind- und Solarkraft auch Agrotreibstoffe und Wasserkraft aus Großstaudämmen, mithin also unter umwelt- und sozialpolitischen Gesichtspunkten höchst zerstörerische Eingriffe, unter die Rubrik angeblich sauberer Technologien.

Längst hat die globale Krise auch das vermeintliche Erfolgsmodell des aufstrebenden Schwellenlandes Brasilien eingeholt, das einen gewaltigen ökonomischen Sprung in die Riege der Wortführer einer multipolaren Weltordnung vollzogen und zugleich die extremen inneren Widersprüche gebändigt zu haben schien. Die Botschaft, für unvereinbar erachtete Klassengegensätze ließen sich unumkehrbar zugunsten einer Koexistenz von Armut und Reichtum auf Grundlage einer beiderseits nutzbringenden Strategie der Versöhnung und Bündelung aller Kräfte überwinden, hat ausgedient. Mit harten Bandagen lektionieren die Eliten des Landes die Bevölkerung, daß mildere Verteilungsweisen der Einkünfte und Lebensmöglichkeiten bei fortbestehender Eigentumsordnung und Verfügungsgewalt allenfalls ein befristetes Lehen sein können, das im Krisenfall einem repressiven Regime weichen muß.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/michel-temer-das-ist-brasiliens-neuer-praesident-a-1110165.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/michel-temer-folgt-in-brasilien-dilma-rousseff-das-system-schlaegt-zurueck-a-1110309.html

[3] https://amerika21.de/2016/08/159210/amtsenthebung-brasilien

2. September 2016


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