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MEDIEN/438: US-Militär verschleppt Wikileaks-Informanten nach Kuwait (SB)



US-Militär verschleppt Wikileaks-Informanten nach Kuwait

Außergewöhnliche Überstellungen auf US-Bürger ausgeweitet

In den USA ist die Enttäuschung über Präsident Barack Obama und dessen unerfülltes Wahlkampfversprechen nach "Wandel, an den man glauben kann," besonders bei Bürgerrechtlern enorm. Unter Verweis auf die Verlängerung des USA-PATRIOT-Gesetzes, auf die Nicht-Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo Bay auf Kuba, auf die ständige Berufung auf nationale Sicherheit, um die eigenen Missetaten oder die der republikanischen Vorgängeradministration von George W. Bush zu vertuschen, und auf das Festhalten an deren Ausbau der inländischen Überwachungsaktivitäten der US-Geheimdienste gab sich Anthony Romero, der langjährige Generaldirektor der American Civil Liberties Union (ACLU), der ältesten und größten Bürgerrechtsorganisation der USA, am 9. Juni gegenüber Josh Gerstein vom elektronischen Nachrichtenportal Politico.com über die Innen- und Justizpolitik der demokratischen Obama-Regierung "entsetzt". Nicht umsonst geht in US-Bürgerrechtskreisen der ironische Witz um, wolle man wissen, wie eine dritte Amtszeit von George W. Bush und dessen Vizepräsidenten Dick Cheney ausgesehen hätte, bräuchte man sich nur umzuschauen, man erlebe sie gerade.

Was die Verfolgung von Personen, die illegale oder korrupte Praktiken beim Geheimdienst oder Militär der USA publik machen, betrifft, so geht die Obama-Regierung tatsächlich energischer gegen sogenannte "Whistleblowers" vor als die Bush-Administration. Sie hat eine Klage gegen James Risen von der New York Times angestrengt, weil dieser in seinem bereits 2006 erschienenen Buch "State of War" Einzelheiten der mißlungenen CIA-Operation "Merlin" zur Übermittlung falscher Informationen über den Bau eines Atomsprengkopfes an den Iran bekannt machte [Weil der russische Mittelsmann die Fehler rechtzeitig entdeckte und korrigierte, erhielt das "Mullahregime" die Pläne für einen funktionierenden Nuklearsprengkopf vom CIA-Hauptquartier frei Haus]. Seit April steht Thomas Drake, ein ehemaliger Mitarbeiter der National Security Agency (NSA), unter Anklage, weil er die brisanten Details für eine 2006 in der Baltimore Sun erschienene Artikelreihe Siobhan Gormans lieferte. In den Artikeln Gormans ging es sowohl um massive Geldverschwendung beim 1,2 Milliarden Dollar teuren Modernisierungsprogramm "Trailblazer" der NSA, an dem sich führende amerikanische "Sicherheitsunternehmen" wie Boeing, Booz Allen Hamilton, Northrop Grumman und Science Applications International Corporation (SAIC) eine goldene Nase verdienen, wie auch um den illegalen, von Bush jun. 2001 initiierten und von James Risen und Eric Lichtblau Ende 2006 in der New York Times aufgedeckten großen Lauschangriff der NSA im Innern.

Wie der 79jährige Friedensaktivist Daniel Ellsberg, der Anfang der siebziger Jahre durch die Veröffentlichung der geheimen "Pentagon-Papiere" über den Krieg in Vietnam berühmt wurde, am 9. Juni im Interview mit Spiegel Online anmerkte, steht die juristische Verfolgung von Risen und Drake durch die Obama-Regierung im krassen Widerspruch zur Position des Weißen Hauses in Bezug auf die Gesetzesverstöße der Vorgängeradministration Bushs. Die vielfach erhobenen Forderungen nach rechtlichen Schritten gegen Bush, Cheney, Donald Rumsfeld, Condoleezza Rice und andere wegen des illegalen Einmarsches in den Irak sowie der Verbreitung manipulierter Geheimdiensterkenntnisse zur Begründung des Anti-Saddam-Hussein-Feldzugs hat Obama bekannntlich mit dem Argument beiseitegewischt, Amerika solle den Blick "nach vorne und nicht nach hinten" richten, und hat damit viele seiner Wähler enttäuscht.

Das bisher krasseste Beispiel staatlicher Verfolgung derjenigen, die in den USA Verfehlungen im Amt ans Tageslicht zerren, stellt der Fall Bradley Manning dar. Der 22jährige Private First Class (PFC), der zuletzt auf der Forward Operating Base (FOB) Hammer nahe Bagdad beim Nachrichtendienst der US-Armee arbeitete, ist dort am 26. Mai wegen des Verdachts der Weitergabe von vertraulichen Informationen festgenommen worden. Manning, der aus Potomac, Maryland, stammt, soll die Quelle jener berühmten wie umstrittenen Videoaufnahmen sein, auf denen zu sehen ist, wie US-Hubschrauberbesatzungen 2007 am hellichten Tag auf offener Straße in Bagdad zwölf Männer, darunter zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters, erschießen, und die nach der Veröffentlichung durch Wikileaks Anfang April weltweit für Furore sorgten.

Den bisherigen Angaben zufolge ist Manning aufgeflogen, weil er sich im Mai per E-Mail mit Adrian Lamo, einem 2004 wegen unerlaubten Eindringens in die Computersysteme der New York Times verurteilten Hacker, Kontakt aufgenommen und irgendwann diesem gegenüber geprahlt haben soll, daß er die Quelle für das von Wikileaks als "Collateral Murder" bekannte Video von dem Hubschrauber-Massaker gewesen ist. Dies klingt nicht besonders plausibel. Manning soll an Wikileaks nicht nur das Bagdader Video, sondern auch die Bordaufnahmen der US-Luftwaffe von einem Angriff auf das afghanische Dorf Garani, der im Mai 2009 rund 140 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, das Leben kostete, 260.000 vertrauliche, mit peinlichen Einzelheiten gespickte, elektronische Mitteilung des US-Außenministeriums und ein Dokument der US-Armee, in dem Wikileaks als eine zu neutralisierende Sicherheitsgefahr dargestellt wird und das bereits im März von dem Enthüllungsmedium veröffentlicht wurde, übermittelt haben. Von der Gefährlichkeit seines Handelns muß er gewußt haben und dürfte nicht ohne weiteres jemanden, den er erst seit einer Woche kannte, in seine umstürzlerischen Aktivitäten eingeweiht haben.

Vor diesem Hintergrund vermuten einige Beobachter, daß Manning von Lamo, der in Verbindung mit Kevin Poulson von der elektronischen Zeitschrift Wired stand, der darin wiederum am 6. Juni als erster und in aller Ausführlichkeit von der Festnahme des Gefreiten Erster Klasse berichtete, in die Falle gelockt wurde. Dieselben Beobachter gehen davon aus, daß Lamo und Poulson hierbei mit dem US-Militärgeheimdienst zusammen gearbeitet haben und daß die Behauptung des Hackers, daß die Kontaktaufnahme von Manning ausgegangen sei, nicht stimmt, sondern daß sie umgekehrt erfolgte.

Bis auf die Bestätigung des US-Zentralkommandos, daß Manning festgenommen wurde, stammt praktisch alles, was man bisher über den Fall weiß, von Lamo. Gegenüber Poulson sowie bei einem Interview mit der New York Times, über das in der Ausgabe von Amerikas "Paper of Record" vom 8. Juni berichtet wurde, wehrte sich Lamo gegen den Vorwurf, Manning an die Behörden verpfiffen zu haben, mit der Behauptung, er habe sich Sorgen gemacht, daß die Enthüllungen das Leben von US-Soldaten in Gefahr bringen könnten. Wenn man bedenkt, daß das Material, das Manning Wikileaks hat zukommen lassen und das vor allem Informationen über ungesetzliche Handlungen seitens US-Regierungsbeamten oder -Militärs enthalten soll, hören sich die Beteuerungen Lamos wie die Standardthese des Pentagons an, wonach jede Art von negativer Berichterstattung dem Antiterrorkrieg des Westens gegen den islamistischen Extremismus abträglich sei, zu höheren Verlusten führe et cetera.

In einem Artikel der Washington Post, der am 10. Juni erschienen ist, stellte man Manning als kleinwüchsigen, psychisch labilen Verlierertypen dar, der sich vor kurzem von seiner Freundin getrennt habe, degradiert worden sei, und weil er "das Gefühl" gehabt hätte, "keine Zukunft zu haben", aus purer Verzweiflung und dem verrückten Impuls, etwas verändern zu wollen, sein Land verraten habe. Liest man jedoch die von Wired veröffentlichten Auszüge aus den Mitteilungen, die Manning an Lamo geschickt haben soll, so stellen sich die Motive des jungen Soldaten als höchst ehrenwert heraus. Bei seiner Arbeit im Irak war Manning auf Sachen gestoßen, die er mit seinem Gewissen nicht in Einklang bringen konnte. Dazu gehörten nicht nur die Aufnahmen, die später als das Video Collateral Murder bekannt wurden.

Manning, der 2007 in den US-Armeedienst getreten war, stolperte zum Beispiel über den Fall von 15 Irakern, die kritische Schriften über Korruption in der neuen Regierung in Bagdad gedruckt hatten und dafür von der Polizei als "Terroristen" festgenommen worden waren. Als er etwas für diese Männer zu tun versuchte und seinen Vorgesetzten von deren unbegründeter Inhaftierung in Kenntnis setzte, wurde ihm aufgetragen, den Mund zu halten und neue Wege auszuarbeiten, auf denen man der irakischen Polizei helfen könnte, noch mehr "Terroristen" gefangenzunehmen. Nun sitzt Manning selbst als halber "Terrorist" ohne Anklage seit fast einen Monat in einem US-Militärgefängnis in Kuwait, während CIA, NSA und die anderen 14 Geheimdienste Amerikas Presseberichten zufolge fieberhaft eine weltweite Jagd auf den Wikileaks-Chef Julian Assange veranstalten, um zu verhindern, daß er und sein Team die Bilder von dem Massaker im Dorf Garani als Video ins Internet stellen.

17. Juni 2010