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MEDIEN/480: Wikileaks - Whistleblower und Pressefreiheit mit einer Klappe (SB)


Wikileaks - Whistleblower und Pressefreiheit mit einer Klappe


Wie sich bereits im Vorfeld abzeichnete, hat die britische Polizei am hellichten Tag des 11. April die ecuadorianische Botschaft in London gestürmt, Wikileaks-Gründer Julian Assange in Handschellen herausgeschleift, in ein Transportfahrzeug gesteckt und in Untersuchungshaft gebracht. Gleich am nächsten Tag fand ein Richter namens Michael Snow Assange für schuldig, 2012 durch die Flucht in die Botschaft Ecuadors gegen die Kautionsbedingungen, unter denen er während des juristischen Kampfes gegen die Auslieferung nach Schweden wegen Vorwürfen der sexuellen Nötigung dort zwei Jahre zuvor stand, verstoßen zu haben und beschimpfte ihn zugleich als "Narzist, der nicht über seine eigenen egoistischen Interessen hinaus" blicke.

Da sich der Richter nur wenige Minuten mit Assange befaßte und sich von daher unmöglich ein stichhaltiges Urteil über dessen Charakter hätte bilden können, stellt sich die Frage, wie Rose zu der vernichtenden Aussage kommen konnte und zugleich annahm, sie würde in der Öffentlichkeit ernst genommen werden. Die Antwort ist einfach. Durch die Veröffentlichung Hunderttausender Dokumente über die unzähligen Kriegsverbrechen der USA und ihrer Militärverbündeten in Afghanistan und Irak, über die Folter mutmaßlicher "Terroristen" in Guantánamo Bay sowie über die Mafiamethoden des Außenministeriums in Washington hat sich Assange aus Sicht aller Regierungen des Westens und befreundeter Medien zum Volksfeind Nummer eins entwickelt, dessen Sympathiewerte bei den einfachen Menschen mittels einer beispiellosen Diffamierungskampagne systematisch vernichtet werden sollte.

Jene Kampagne erreichte in den ersten Stunden nach den verstörenden Fernsehbildern über die Festnahme Assanges neue Höhen. Im britischen Parlament nahm sich die konservative Premierministerin Theresa May eine kleine Pause von der laufenden Brexit-Krise, um zum Hoch auf den Rechtsstaat zu rufen. Ihr Außenminister Jeremy Hunt meinte, durch die Beendigung des Versteckspiels Assanges sei der Beweis erbracht worden, daß niemand über dem Gesetz stehe. Oppositionsführer Jeremy Corbyn hätte sich in diesem Moment für Assange stark machen können, hat aber statt dessen schweigend das Unterhaus verlassen. An seiner Stelle hat sich die innenpolitische Sprecherin der sozialdemokratischen Labour Party, Diane Abbott, gegen die Auslieferung Assanges an die USA ausgesprochen, jedoch keine Einwände gegen eine Überstellung an die Behörden in Schweden erhoben. In der Zwischenzeit haben mehr als 100 Unterhausabgeordnete der Labour-Partei eine Petition mit der Aufforderung unterzeichnet, Assange soll wegen der Vorwürfe in Schweden an die Behörden in Stockholm übergeben werden.

Da das Vereinigte Königreich gegenüber Ecuador schriftlich versichern mußte, Assange in kein Land auszuliefern, in dem ihm Folter oder die Todesstrafe droht, wäre die Schweden-Option die ideale Lösung für die britische Politik. Man hätte später behaupten können, sich für das Recht der Frau vor sexuellen Übergriffen stark gemacht zu haben, und sich gleichzeitig vom Vorwurf, Assange den US-Behörden überlassen zu haben, freistellen können. Dabei ist nicht einmal klar, ob der "Fall" in Schweden überhaupt neu aufgerollt werden kann. 2017 waren die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Das hing nicht nur mit dem Umstand zusammen, daß sich Assange in London aufhielt, sondern auch damit, daß die vermeintlichen Vergehen möglicherweise gar keine waren. Nachdem sich die eine Frau namens Sofia Wilen bei der Polizei beschwert hatte, daß Assange trotz entsprechender Aufforderung ohne Kondom mit ihr geschlafen habe, hatte sich der Wikileaks-Chef freiwillig den Justizbehörden gestellt. Erst nachdem die Polizei in Stockholm ihn nach England hat ausreisen lassen, gewann seine Befragung wieder an Dringlingkeit, weil sich in der Zwischenzeit eine zweite Frau, Anna Ardin, bei der Assange während seines wochenlangen Aufenthalts in der schwedischen Hauptstadt gewohnt hatte, an ein inakzeptables Maß an Heftigkeit beim eigenen Beischlaf mit dem Australier zu erinnern meinte.

Unabhängig, wie sich die Dinge an der Schweden-Front entwickeln, droht Assange nach der Verurteilung wegen Verstoßes gegen die Kautionsbedingungen mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe in Großbritannien. Bis zur Verkündung des Strafmaßes und vermutlich auch danach bleibt er im berüchtigten Hochsicherheitstrakt Belmarsh an der Themse-Mündung im englischen Südosten. Das Justizministerium in Washington, dessen Bitte an die Kollegen in London um Amtshilfe der zweite Grund für die Verhaftung war, erhofft sich, daß bis zum 2. Juni der Auslieferungsantrag für Assange vervollständigt wird, damit das Dokument als Grundlage einer gerichtlichen Auseinandersetzung dient. Bereits jetzt kann man mit Bestimmtheit davon ausgehen, daß Assange in Kürze an die USA "überstellt" wird ähnlich den "islamistischen Terroristen", welche die CIA jahrelang zwecks Folter in den eigenen "black sites" oder durch die Schergen befreundeter Staaten wie Ägypten in Privatflugzeugen hin und her transportierte.

Einen perfiden, aber leicht durchschaubaren Trick haben sich die US-Behörden bei der ersten Begründung des Auslieferungsantrags für Assange ausgedacht. Ihm wird vorgeworfen, 2010 die damals im Irak stationierte US-Geheimdienstmitarbeiterin Chelsea Manning dazu animiert zu haben, vertrauliche Dokumente Wikileaks zukommen zu lassen, sowie ihr vergeblich geholfen zu haben, beim Herumstöbern in den staatlichen Computerarchiven ihre Identität zu verheimlichen. Aus den Unterlagen des US-Justizministeriums, die bei der Festnahme Assanges publik wurden, geht hervor, daß diesem wegen besagter Verstöße, sollten sie sich nachweisen lassen, lediglich fünf Jahre Haft drohen. Auf diese Weise wird der Eindruck vermittelt, die ganze Angelegenheit sei nicht so wichtig, Assange mache sich und der Welt seit Jahren mit seinem Martyrium-Spiel in der Botschaft etwas vor.

Wer glaubt, das Sicherheitsapparat der USA würde Assange nach fünf Jahren wieder freilassen, hat nicht verstanden, wie die hohe Politik funktioniert. Den Beweis für die Richtigkeit dieser These liefert das Kleingedruckte im besagten Auslieferungsantrag. Das Vergehen, das Assange zur Last gelegt wird, verjährt nach fünf Jahren. Die postulierte Tat erfolgte 2010. Wie kann sie dennoch als Grundlage für einen Auslieferungsantrag im Jahre 2019 dienen? Die Antwort - und sie ist wirklich beängstigend - lieferte am 11. April Colin Calmbacher in einem Artikel auf der Website der juristischen Fachzeitschrift LawNewz.com. Demnach hat die Staatsanwaltschaft die "illegale Zusammenarbeit" Assanges mit Manning an Paragraphen aus dem US-PATRIOT-Gesetzes aus dem Jahr 2001 gekoppelt und sie damit zur "terroristischen" Tat aufgebauscht. Dadurch wurde die Verjährungsfrist automatisch verlängert.

In den USA sind Organisationen wie die American Civil Liberties Union (ACLU) und das Center for Constitutional Rights (CCR) und Menschenrechtler und Juristen wie Daniel Ellsberg, Marjorie Cohen und Glenn Greenwald in heller Aufregung. In einem eigenen Artikel, der am 11. April bei The Intercept erschienen ist, hat Edward Snowdens Vertrauensmann Greenwald hervorgehoben, daß die Regierung Barack Obamas von einer Anklage gegen Assange wegen der bereits erwähnten vermeintlichen Vergehen abgesehen hatte, und zwar aus Rücksicht auf die Pressefreiheit. Denn gelänge es FBI und Justizministerium, Assange wegen der Kollaboration mit Manning zu überführen, wäre das das Ende des investigativen Journalismus. Kein Verleger oder Journalist könnte mehr vertrauliche Staatsdokumente annehmen, ohne sich der dringenden Gefahr der gerichtlichen Verfolgung auszusetzen.

Derlei Bedenken sind den Angehörigen der Administration Donald Trumps völlig fremd. Der ehemalige New Yorker Baulöwe setzt sich gut und gerne über bestehende Richtlinien im Umweltschutz oder beim Arbeitnehmerrecht hinweg. Für die Presse hat er nichts übrig, bezeichnet deren Erzeugnisse bei jeder Gelegenheit als Fake News. Trump kennt auch keinerlei Scham. Ungeachtet der Tatsache, daß die Wikileaks-Enthüllungen über die Machenschaften Hillary Clintons ihn zum Sieg bei der Präsidentenwahl 2016 verhalfen und er im Wahlkampf die Enthüllungsplattform 164 Mal lobend erwähnte, behauptet er auf Anfrage seitens Journalisten zur Festnahme Assanges, er kenne "Wikileaks gar nicht", das sei "nicht sein Ding". Schamlos sind auch die oppositionellen Demokraten, die genau wie die Republikaner jubelnd auf die Aussicht, Assange könnte bald an die amerikanische "Justiz" ausgeliefert werden, reagierten mit der Behauptung, damit endlich mehr über die russische Einmischung in die Präsidentenwahl 2016 erfahren zu können. Einzig und allein die demokratische Kongreßabgeordnete Tulsi Gabbard aus Hawaii hat auf den für die Pressefreiheit gefährlichen Präzendenzfall, der zwangsläufig aus der Verfolgung und Repression Assanges entsteht, hingewiesen.

15. April 2019


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