Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

MILITÄR/787: Obama-Regierung geht auf Distanz zur Raketenabwehr (SB)


Obama-Regierung geht auf Distanz zur Raketenabwehr

Cartwright und Tauscher kündigen Wandel in der Rüstungspolitik an


In der US-Rüstungsindustrie geht die Angst vor Projektkürzungen um, nachdem Präsident Barack Obama am 24. März auf einer Pressekonferenz in Washington erklärt hat, er wolle allein in diesem Jahr Einsparungen im Bereich der Waffenbeschaffung von 40 Milliarden Dollar erzielen. Um dieses ehrgeiziges Vorhaben in die Tat umzusetzen, sind Verteidigungsminister Robert Gates und seine Mitarbeiter, wie die Washington Post am nächsten Tag berichtete, angehalten, "nach Wegen zu suchen, verschwenderische Ausgaben bei milliardenteuren Waffensystemen zu reduzieren". Lange muß man nicht suchen, um dasjenige System im Pentagon-Sortiment zu identifizieren, dessen Kostennutzenrechnung am bescheidensten ausfällt. Da dürfte das Raketenabwehrsystem, dessen Entwicklungsausgaben von der Regierung George W. Bush auf Drängen republikanischer Hardliner im Repräsentantenhaus und Senat von fünf auf zehn Milliarden Dollar jährlich erhöht wurde und von dem bis heute trotz Gesamtinvestionen von rund 150 Milliarden Dollar niemand sicher sagen kann, ob es jemals funktionieren wird, unangefochten auf Platz eins der Streich- und Einsparliste stehen.

Das wissen die beteiligten Rüstungsunternehmen auch, weshalb Boeing, Northrop Grumman, TRW, Raytheon, und wie sie alle heißen, zu einem erbitterten Rückzugsgefecht blasen, damit vor allem die verschiedenen Projekte, wenngleich unter weniger rosigen finanziellen Bedingungen, am Leben erhalten und nicht gänzlich gestrichen werden. Doch für die Abwehrsysteme für die mittlere Phase sieht die Zukunft düster aus. Was die sogenannten Midcourse Systems betrifft, so hat Bush in den vergangenen Jahren in Alaska und Kalifornien erste Abfangraketen stationieren lassen, bei denen es sehr zweifelhaft ist, ob diese jemals eine feindliche Interkontinentalrakete vom Himmel werden holen können. Nach Meinung zahlreicher Experte werden die Sensoren des bei diesem System verwendeten Abfangmoduls niemals zwischen einem echten Sprengkopf und den gleichzeitig kurz vor dem Ende des Raketenflugs ausgesetzten Attrappen unterscheiden können.

Auch wenn Amerikas Waffenschmieden dies nicht einsehen wollen, bei den weniger ideologisch verblendeten Mitgliedern des US-Militär- und Politestablishments sind die entsprechenden Erkenntnisse eingesickert. Bei einem bemerkenswerten Auftritt auf einer Messe der am Raketenabwehrsystem beteiligten Rüstungsunternehmen am 23. März in Washington kündigte Marinekorps-General James Cartwright, der Stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, eine radikale Wende an. Wie die Nachrichtenagentur Associated Press am selben Tag, die Technologiezeitschrift Wired.com am 24. März und die Onlineausgabe des Nachrichtenmagazins Time am 26. März berichteten, forderte Cartwright die Vertreter der am Ballistic Missile Defense Program (BMD) beteiligten Firmen dazu auf, ihren Horizont zu erweitern, da die größte rüstungstechnologische Bedrohung der USA, ihrer Streitkräfte im Ausland und ihrer Verbündeten nicht mehr von traditionellen ballistischen Raketen, wie man sie vom Kalten Krieg mit der Sowjetunion her kenne, sondern von Marschflugkörpern ausgehe, die mit atomaren, biologischen oder chemischen Sprengköpfen bestückt seien, deren Flugbahn beliebig verändert werden könne und gegen die man sich deshalb nur extrem schwer verteidigen könne.

Unter Anspielung auf die derzeit hochpopulären elektronischen Kommunikationsmittel à la Blackberry, Facebook, MySpace, Skype, SMS und Twitter warf Cartwright die dem gesamten Raketenabwehrsystem Amerikas seit den Tagen von Ronald Reagans Space Defense Initiative (SDI) zugrundeliegenden Axiome auf den Müllhaufen der Geschichte: "Ballistische Raketen sind in etwa so überholt wie E-Mail. Das macht keiner mehr. Es ist einfach vorbei. Alles klar? Kein Dummkopf oder Feind da draußen wäre so bekloppt, uns mit einer minimalenergetischen Flugbahn anzugreifen. Das ist doch Quatsch. Dafür gäbe es einfach keinen Grund. Selbst die Leute, die wir als 'Dritte Welt' bezeichnen würden, sind da weiter."

Damit die schockierenden Worte Cartwrights ihre Wirkung nicht verfehlten, legte die demokratische Kongreßabgeordnete aus Kalifornien, Ellen Tauscher, die im Repräsentantenhaus Vorsitzende des Wehrbeschaffungsausschusses ist, nach. Ähnlich wie der langjährige Marineinfanterieoffizier erklärte Obamas Parteikollegin, die als Kritikerin des Raketenabwehrsystems bekannt ist, die in dieses Projekt gesteckten Ressourcen fänden eine bessere Verwendung, würde man die Erforschung und Entwicklung von Maßnahmen zum Schutz von US- Streitkräften im Kampfgebieten vor Angriffen aus geringer Distanz mit Kurzstreckenraketen und Marschflugkörpern forcieren, statt vergeblich zu versuchen Interkontinentalraketen aus dem All abzuschießen.

Des weiteren tat Tauscher die Begründung für die von der Bush-Regierung jahrelang angestrebte Stationierung von Abfangraketen in Polen und einer entsprechenden Radarstation in Tschechien ab. Die Iraner seien vom Besitz von Langstreckenraketen, mit denen Teheran Europa oder die USA bedrohen könnte, "um einiges" entfernt; hinzu komme, daß das derzeit existierende System den Ländern, die tatsächlich in Reichweite iranischer Kurz- und Mittelstreckenraketen liegen, "kaum bis gar keinen" Schutz biete, so Tauscher. Die Demokratin machte sich über die Befürworter einer Stationierung von Komponenten des US-Raketenabwehrsystems in Europa lustig und erklärte sie quasi zu Hysterikern, die "herumgelaufen" seien, "als brenne ihnen das Haar". Mit einem Satz machte Tauscher, die derzeit als voraussichtliche Kandidatin Obamas für den Posten der im Außenministerium für Rüstungskontrolle zuständigen Staatssekretärin gehandelt wird - bekanntlich jenes Amt, das unter George Bush jun. von John "Bonkers" Bolton bekleidet wurde -, den Bruch mit den Neocons komplett: "Das Argument, die USA und Europa stünden nackt da, würden wir kein Raketenabwehrsystem in Europa stationieren, ist schlichtweg falsch."

27. März 2009