Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

MILITÄR/825: China nimmt statt NATO an türkischem Manöver teil (SB)


China nimmt statt NATO an türkischem Manöver teil

Anatolian Eagle - Noch-NATO-Verbündeter Türkei spreizt seine Flügel


Spätestens seit dem Überfall der israelischen Marine auf die Gaza-Hilfsflotille am 31. Mai in internationalen Gewässern des östlichen Mittelmeers und dem gewaltsamen Tod von neun türkischen Passagieren der dazugehörigen Fähre Mavi Marmara herrscht zwischen Tel Aviv und Ankara Eiszeit. Weil sich die rechtsgerichtete israelische Regierung Benjamin Netanjahus weigert, sich für den Tod der neun Türken zu entschuldigen und die verantwortlichen Soldaten zur Verantwortung zu ziehen, hat Ankara die diplomatischen Beziehungen ausgesetzt und die Streitkräfte Israels von dem seit 2001 alljährlich stattfindenden Kriegsspiel der türkischen Luftwaffe mit Namen Anatolian Eagle ausgeladen. Wegen dieser Entscheidung der islamisch-nationalistischen Regierung Recep Tayyip Erdogans haben alle anderen NATO-Staaten Anatolian Eagle, das Ende September, Anfang Oktober über der Provinz Konya stattfand, boykottiert. Ankaras Anwort auf die Entscheidung seiner Bündnispartner, sich in Bezug auf den Streit der Türkei mit Israel auf die Seite des letzteren zu schlagen, fiel angemessen wie auch spektakulär aus. Anstelle der Flugzeuge der NATO nahmen an Anatolian Eagle 2010 diejenigen der Luftwaffe der Volksrepublik China teil, die, um in die Türkei zu gelangen, in der Islamischen Republik Iran zum Auftanken zwischengelandet waren.

Bereits letztes Jahr hatten die Türken die Israelis aus Verärgerung über deren Offensive Vergossenes Blei gegen den Gazastreifen zur Jahreswende 2008/2009 sowie über Tel Avis Torpedierung von Ankaras Bemühungen um ein Friedensabkommen zwischen Israel und Syrien von der Teilnahme an Anatolian Eagle ausgeschlossen. Im Frühjahr haben einflußreiche Kommentatoren der in den USA tonangebenden, Israel stets nahestehenden Neokonservativen die Empörung der Türken über den Überfall auf die Gaza-Hilfsflotille dahingehend ausgelegt, daß die Türkei sich von der westlichen Zivilisation abwende und sich zum autoritären, asiatischen "Schurkenstaaten" entwickle. Das ist natürlich maßlos übertrieben, zeugt gleichwohl vom Unbehagen in den USA darüber, daß seit einigen Jahren Ankara seine eigene Außenpolitik betreibt, statt sich den Interessen Washingtons unterzuordnen.

Der erste große Bruch kam, als sich Ankara 2003 weigerte, am Anti-Saddam-Feldzug der Regierung George W. Bush teilzunehmen, und den US-Streitkräften die Nutzung des Südostens der Türkei zum Einmarsch in den Norden des Iraks nicht gestattete. 2006 stellte sich die Türkei an die Spitze der Kritiker des unverhältnismäßigen Vorgehens Israels im sogenannten Libanonkrieg gegen die Hisb Allah. Als Erdogan im vergangenen Mai mit dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio da Silva nach Teheran reiste und dort mit dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad eine mögliche Kompromißlösung im sogenannten Atomstreit erzielte, löste dies in Washington Unmut aus. Aus dem Außenministerium Hillary Clintons kam eine Rüge wegen ungebetener Einmischung, ganz als hätten die Türken, die mit am meisten unter einem Krieg des Nachbarlandes Iran mit Israel und der USA zu leiden hätten, in der brenzligen Angelegenheit nichts zu melden.

Anders als die USA, die wegen der rüstungstechnologischen Überlegenheit ihrer Streitkräfte zu diplomatischer Halsstarrigkeit und im Notfall zu militärischen Lösungen neigen, bedient sich Ankara unter dem Motto Neo-Ottomanentum auf klassische Weise der "soft power", baut Spannungen mit den Nachbarn ab, wo es nur kann, und dafür die wirtschaftlichen Beziehungen kräftig aus. Über die Verbindungen zur Europäischen Union, zu Rußland, zum Iran, Syrien, zum Irak und den Ländern Zentralasiens entwickelt sich die Türkei zur Drehscheibe für die ganzen Öl- und Gasprojekte rund um das Kaspische Meer. Über ihre sprachlich-kulturellen Verbindungen treten die Erben Kemal Atatürks als wohlhabende große Brüder in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens auf. Vor diesem Hintergrund liegt für die Türkei der Brückenschlag zum aufstrebenden China nahe, auch wenn sich die Seemacht USA über eine zunehmende Freundschaft der beiden großen eurasischen Landmächten nicht besonders freuen dürfte.

Wie die türkische Tageszeitung Hürriyet am 11. Oktober meldete, haben vier SU-27-Flugzeuge der chinesischen Luftwaffe heimlich an Anatolian Eagle teilgenommen. Wegen der verhältnismäßig geringen Reichweite der russisch-gebauten Maschinen mußten diese auf dem Weg nach Konya sowohl in Pakistan als auch im Iran landen, um aufgetankt zu werden. Die Zwischenlandung der chinesischen Maschinen im Iran war an sich ein welthistorisches Ereignis, handelt es sich doch um das erste Mal seit dem Sturz des Schahs 1979, daß Teheran einer ausländischen Streitmacht so etwas gestattet hat. Die Geste der Regierung Ahmadinedschads hat in umgekehrter Richtung eine geopolitische Bedeutung, nämlich daß die Volksrepublik - und eventuell dessen Verbündeter Pakistan - ähnlich der Türkei der Möglichkeit eines amerikanisch-israelischen Angriffs auf den Iran entgegenzutreten gedenkt.

13. Oktober 2010