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MILITÄR/831: Im Osten nichts Neues - Strategiebericht Afghanistan (SB)


Bericht des US-Präsidialamtes vernebelt Heimatfront


Nach mehr als neun Jahren Krieg und Besatzungsregime am Hindukusch haben die westlichen Mächte die Dauer der sowjetischen Truppenpräsenz in Afghanistan in den Schatten gestellt, doch ist ihr Blutzoll 2010 der höchste seit Beginn des Einsatzes im Jahr 2001. Bis Mitte Dezember starben fast 700 ausländische Soldaten, darunter acht deutsche. Präsident Barack Obama hat das US-Kontingent zu Anfang September um 30.000 auf nunmehr 100.000 Soldaten aufgestockt, die sich mit massiv verstärkten Bombenangriffen und nächtlichen Überfällen die Bevölkerung mehr denn je zum Feind machen. Gezählt werden die afghanischen Opfer in der offiziellen Statistik der USA und ihrer Verbündeten nicht, würde dabei doch allzu deutlich, welches Schlachtopfer den Afghanen zum Zweck dauerhaft in der Region verkrallter strategischer Positionierung in Vorbereitung der Kriege von morgen abverlangt wird.

Wie aktuelle Meinungsumfragen in den USA belegen, ist die Kriegsmüdigkeit der Bürger weiter auf dem Vormarsch. Einer Umfrage der "Washington Post" und des Senders ABC zufolge waren 60 Prozent der befragten Amerikaner der Auffassung, es lohne sich nicht, dort zu kämpfen. So wenig substantiell eine Kriegsgegnerschaft auch sein mag, die sich an den Siegesaussichten und der Zahl der eigenen Opfer bemißt, muß die US-Regierung doch fürchten, den Waffengang an der Heimatfront zu verlieren.

Entsprechend gequält und fadenscheinig ist das Bemühen, fiktive Erfolgsmeldungen zu drechseln und zugleich eine weitere Begründung auf den Markt der mediengenerierten öffentlichen Meinung zu werfen, warum man alsbald abziehen werde, dies aber keinesfalls überhasten dürfe. Im soeben veröffentlichten Strategiebericht des Präsidialamtes liest sich das folgendermaßen: Man habe nach offizieller Einschätzung im Krieg gegen die Taliban "bemerkenswerte operative Erfolge" erzielt, da es in den vergangenen Jahren gelungen sei, den Vormarsch der Extremisten in weiten Teilen des Landes zum Halten zu bringen. Dennoch mache man sich große Sorgen, weil man die erzielten Fortschritte noch nicht für nachhaltig genug halte, die "zerbrechlich und umkehrbar" seien. Es bleibe mithin eine Herausforderung, die Erfolge dauerhaft zu sichern. [1]

Die "Dynamik, welche die Taliban in den vergangenen Jahren erreicht haben", sei in vielen Landesteilen gebrochen und "in einigen Schlüsselgebieten umgekehrt" worden, heißt es in der Studie, die Obama im Dezember 2009 in Auftrag gegeben hatte. Die Sicherheitslage habe sich vor allem in der südlichen Provinz Kandahar, die als Hochburg der Taliban gilt, wie auch in der Region Helmand deutlich verbessert. Dort sei es gelungen, den Einfluß der Aufständischen spürbar zurückzudrängen. Als problematisch erachte man hingegen die Situation in der nordafghanischen Kundus-Region, wo auch die deutschen Soldaten stationiert sind. Trotz massiver Aufstockung der NATO-Truppen hätten die Talibankämpfer hier ihren Einfluß in diesem Jahr ausgebaut. Zudem seien Milizen aktiv, die der Form nach die Regierung unterstützten, in Wirklichkeit jedoch die Bevölkerung drangsalieren. [2]

Vorschnelle Erfolgsmeldungen der Besatzungstruppen in der einen und Hiobsbotschaften in einer anderen Region prägen seit jeher das Bild unbrauchbarer Lageberichte aus Afghanistan. Sollte es Spatzen in diesem Land geben, so pfiffen sie es von den Dächern, daß die Kräfte des Widerstands flexibel ihre Stoßrichtung variieren und sich vor der Hauptstreitmacht des Gegners zurückziehen, um dafür in anderen Landesteilen ihre Angriffe zu verstärken. Zu behaupten, man habe "die Sicherheitslage" in einigen Regionen gefestigt und müsse nur noch die übrigen befrieden, ignoriert die Faktizität des Guerillakriegs, den militärisch für sich zu entscheiden ausländischen Aggressoren so gut wie nie gelingt. Der vielbeschworene Aufbau einheimischer Sicherheitskräfte ist zwar insofern eine Propagandafarce, als er den Marionettencharakter der Karsai-Regierung vernebeln soll, doch zugleich eine Notwendigkeit, da nur kollaborierende Afghanen den Widerstand gegen die Fremdherrschaft letztendlich brechen können.

Nun steht die Propagandaformel aller Kriegstreiber, man könne die Schlacht nur dann beenden, wenn man sie forciere, natürlich in krassem Widerspruch zu dem ständig geforderten Ausstiegsszenario für den zunehmend unpopulären Krieg. Um dies zu verschleiern, heißt es in dem Bericht weiter, die USA seien auf gutem Wege, Präsident Obamas Zusicherung einzuhalten, mit dem Truppenabzug aus Afghanistan Mitte 2011 zu beginnen. Dabei weicht man jedoch der Frage aus, wie hoch der geplante Abzug im nächsten Jahr ausfallen soll. Diesbezüglich gebe es unterschiedliche Ansichten zwischen den Militärs und dem Weißen Haus, da erstere vor einer raschen Truppenreduzierung warnen.

Eine Änderung der bislang propagierten Vorgehensweise schlägt der Bericht nicht vor, so daß weiterhin die nebulöse Ankündigung im Raum steht, USA und NATO wollten 2011 mit dem Abzug beginnen und bis Ende 2014 die Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben - sofern es die Lage erlaubt. Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon im November wiederholte Obama die Faustformel, daß man zu Beginn des Jahres 2011 mit der Übergabe der Verantwortung an die Afghanen beginnen werde und sich das Ziel gesteckt habe, ihnen bis Ende 2014 die Gesamtverantwortung für die Sicherheit im Land zu übertragen.

Indessen haben NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und zahlreiche westliche Militärs längst jedes verbindliche Datum für den Abzug in Abrede gestellt: "Wenn die Feinde Afghanistans glauben, daß sie nur abwarten müßten, bis wir abziehen, dann liegen sie falsch." [3] Diese Faustformel, wonach man dem Feind in die Hände spiele, wenn man die Abzugspläne offenlege, ist in erster Linie auf die Täuschung der Bevölkerung in den Herkunftsländern der Besatzungsmächte gemünzt. Wollen die Bürger erfahren, wann dieser leidige Feldzug am Hindukusch beendet wird, diskreditiert man sie als naiv angesichts eines verschlagenen Feindes, vor dem man sich keine demokratische Blöße geben dürfe.

Zentral für den Erfolg des US-Engagements bleibe die Situation in Pakistan. Zwar sei es gelungen, die Taliban-Führung zu schwächen und unter starken Verfolgungsdruck zu setzen wie seit ihrer Flucht aus Afghanistan 2001 nicht mehr. Allerdings verfüge sie nach wie vor über die Fähigkeit, schwere Anschläge gegen die USA und deren Verbündete auszuführen. Besondere Sorge bereitet die mangelnde Bereitschaft Pakistans, entschlossen gegen die Rückzugsgebiete der Taliban im Grenzgebiet vorzugehen. Angemahnt wird daher eine "stärkere Zusammenarbeit" der pakistanischen Sicherheitskräfte, die es vorziehen, sich den Vorgaben Washingtons nicht rückhaltlos zu unterwerfen.

Diese Lagebeschreibung reproduziert das Konstrukt, mit dem Obama bereits im Wahlkampf die absurde Unterscheidung in die Welt gesetzt hatte, der Krieg im Irak sei ein gravierender Fehler, jener in Afghanistan hingegen gerechtfertigt, weil insbesondere im Grenzgebiet zu Pakistan die fundamentalistischen Taliban und die Al Kaida ihre Basis hätten. [3]

Als spiele man einander gezielt die Bälle zu, haben zeitgleich die 16 Geheimdienste der USA in einer gemeinsamen Einschätzung der Lage am Hindukusch, die vor wenigen Tagen einigen Mitgliedern der Geheimdienstausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus zugänglich gemacht wurde, die Probleme mit Pakistan unterstrichen. Solange sich die Aufständischen dorthin zurückziehen könnten, seien die Erfolgsaussichten der Alliierten in Afghanistan gering. [4] Diese Auffassung löste einen Sturm im Wasserglas aus, da die Militärs den Geheimdiensten vorwarfen, sie hätten mangels Kenntnis der Fortschritte im Kampfgebiet die Erfolge unterbelichtet. Offensichtlich handelt es sich jedoch um eine Scheinkontroverse, da zwischen die Einschätzung von CIA und militärischer Führung hinsichtlich Pakistans kein Blatt Papier paßt.

Die CIA betreibt in Kabul ihren größten Außenposten seit dem Vietnamkrieg und unterhält eine Streitmacht afghanischer Paramilitärs von mehreren tausend Mann. Im benachbarten Pakistan führt sie mit ihren Drohnenangriffen einen verdeckten Krieg, der die Ankündigung des US-Präsidenten, auf welche Region sich die Fortsetzung des permanenten Feldzugs konzentrieren müsse, konsequent umsetzt.

Anmerkungen:

[1] Afghanistan-Bericht. US-Erfolge sind "zerbrechlich und umkehrbar" (16.12.10)
http://www.welt.de/politik/ausland/article11665560/US-Erfolge-sind- zerbrechlich-und-umkehrbar.html

[2] Konflikte. US-Afghanistan-Bericht zieht gemischte Bilanz (16.12.10)
http://www.focus.de/politik/ausland/konflikte-us-afghanistan-bericht- zieht-gemischte-bilanz_aid_582177.html

[3] Strategie der USA. Obamas Hintertür im Afghanistan-Krieg (16.12.10)
http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistanstrategie110.html

[4] Intelligence Reports Offer Dim Views of Afghan War (16.12.10)
New York Times

16. Dezember 2010