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MILITÄR/838: "You hack, we shoot" - Vorwandslage Cyberwar (SB)


US-Falken schmieden neue Doktrin - Begleitmusik Hackerangriffe


Die große Ausflucht, unter Vermeidung der Konfrontation mit der gesellschaftlichen Widerspruchslage eine befreite Zukunft in der Sphäre informationstechnologischer Vernetzung zu phantasieren, leistet dem prognostizierbaren Quantensprung in der Zugriffsentwicklung auf den vernetzten und damit beispiellos entblößten Menschen Vorschub. Mit der Proklamation des Cyberwars als Vorwandslage künftiger Angriffskriege bedienen sich die Strategen globaler Herrschaftssicherung des nebulösen Szenarios inkriminierter Hackerangriffe, die der interpretativen und manipulativen Einflußnahme, Unterwanderung und Steuerung freie Hand lassen.

Namentlich US-amerikanische Parlamentarier und Militärs spielen einander in ihren Warnungen vor einer neuen Bedrohungslage aus dem virtuellen Raum die Bälle zu, der Doktrin "you hack, we shoot" das Wort zu reden: Für Cyberangriffe auf sensible Sektoren der nationalen Sicherheit gelte es Vergeltungsschläge bis hin zu landgestützten militärischen Interventionen in Stellung zu bringen. Das Pentagon müsse die Lücke in der Landesverteidigung schließen und eine ebenso klare wie kompromißlose Doktrin formulieren, wie kriegerische Handlungen in diesem Zusammenhang zu definieren und Strafmaßnahmen zu kanonisieren seien.

Der stellvertretende Generalstabschef General James Cartwright lamentierte kürzlich, es fehle an dezidierten Sanktionen nach Hackerangriffen. Die bislang übliche Praxis, sich bei Attacken aus dem Cyberspace auf Abwehrmaßnahmen in demselben zu beschränken, müsse schleunigst zugunsten einer offensiven Strategie überwunden werden. Verharre man in der Defensive verbesserter Firewalls, sei man leicht ausrechenbar und lade geradezu zu einem Wettrennen mit versierten Angreifern ein, das man als Verteidiger nicht gewinnen könne.

Wirke die glaubhafte Androhung militärischer Vergeltung in diesem Kontext zunächst verstörend, so dürfe man die stabilisierenden Effekte praktizierte Stärke nicht übersehen, argumentieren die Protagonisten der angemahnten Cyberdoktrin. Es sei nur recht und billig, den durch solche Hackerangriffe angerichteten Schaden in gleichem Maß zu vergelten. Dies sei die einzig wirksame Abschreckung und werde entscheidend dazu beitragen, die Initiative zurückzugewinnen und größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten. [1]

Der US-Kongreß hatte bereits im vergangenen Jahr eine "Strategie für Operationen im Cyberspace" angemahnt und dafür eine Frist bis März 2011 gesetzt. Das Pentagon legte jedoch erst vor wenigen Tagen seinen Abschlußbericht vor, der nach Auffassung der Falken im Parlament gefährlich allgemein gehalten war. Wie der Streitkräfteausschuß des Senats in einem Brief an Verteidigungsminister Leon Panetta schrieb, habe das Pentagon dem ihm erteilten Auftrag nicht entsprochen. Der führende Republikaner im Ausschuß, Senator John McCain, hatte zuvor bei einer Anhörung die Staatssekretärin des Verteidigungsministeriums Madelyn Creedon wiederholt gedrängt, mögliche Konsequenzen eines Hackerangriffs zu präzisieren.

Creedon zitierte daraufhin Cartwrights Schätzung, der zufolge 90 Prozent der Abwehrmaßnahmen defensiver Art und nur 10 Prozent der Frage geschuldet seien, wie man derartige Angriffe verhindern könne. Dieses Verhältnis gelte es umzukehren, wobei die Verantwortung geteilt werden müsse, so die Staatssekretärin. Während die Regierung mindestens ein Verhältnis von 50:50 herzustellen habe, sollten für die Streitkräfte künftig 90 Prozent Offensive und 10 Prozent Defensive veranschlagt werden. Das seien die langfristigen Ziele.

Daß die Fristen der Etablierung sogenannter Vergeltungsschläge für reale, inszenierte oder fiktive Hackerangriffe sehr viel kürzer als angekündigt sein werden, lassen die Eskalation jüngster Cyberattacken und die repressiven Maßnahmen der Sicherheitsbehörden ahnen. Passend zur losgetretenen Debatte um den Cyberwar scheinen sich die Angriffe zu häufen, als gelte es den Bürgern unmißverständlich vor Augen zu führen, wie ernst die Bedrohung ist. In dieser Gemengelage vermag niemand mit Sicherheit zu sagen, ob die Angriffe tatsächlich stattgefunden haben, wer gegebenenfalls ihre Urheber waren und welche Motive dabei zum Tragen kamen. Selbst im Falle real existierender Netzwerke mit libertären Absichten wissen die daran Beteiligten nicht, welche Akteure sich in ihren Reihen befinden oder welche Trittbrettfahrer in Aktion treten.

Hier verkehrt sich die postulierte Freiheit und vermeintliche Unangreifbarkeit der Vernetzung ins Gegenteil. So hat das Netzwerk Anonymous keine Führung, keine feste Organisation und keine Zentrale. Da es keine klar umrissene Führung gibt, wechseln auch die Ziele der Gruppe, wobei sich ihre Angehörigen, zu denen auch Aktivisten in Deutschland gehören sollen, ad hoc zu einzelnen "Operationen" verbinden. Wenngleich die Flüchtigkeit solcher Strukturen Schutz zu gewähren scheint und das Prinzip der Hydra für sich in Anspruch nimmt, für jeden abgeschlagenen Kopf andernorts drei neue nachwachsen zu lassen, öffnen sie doch dem Konter Tür und Tor. Letztlich kann sich jeder erfahrene Hacker in dieses lose Netz einklinken und als Teil der Bewegung ausgeben, selbst wenn er dies mit der Maßgabe in Angriff nimmt, das Netzwerk auszuspionieren, zu manipulieren oder durch gezielte Provokationen zu denunzieren.

Nach eigenen Angaben hat die Hackergruppe Anonymous Internetseiten der NATO geknackt und große Mengen vertraulicher Daten entwendet. "Wir haben jetzt ein Gigabyte Daten der NATO", teilte Anonymous über den Internet-Kurznachrichtendienst Twitter mit. Weitere Nachrichten enthielten Internetlinks auf ein nicht geheimes Dokument aus dem Jahr 2002 über Maßnahmen zur Computer-Sicherheit und auf ein Dokument, das vertraulich sein und sich auf NATO-Einsätze im Kosovo beziehen soll.

Ein Vertreter der NATO teilte in Brüssel mit, Experten überprüften derzeit diese Behauptungen. Grundsätzlich verurteile das Bündnis schärfstens jeden Versuch, sich illegal geheime Dokumente zu beschaffen, "die möglicherweise die Sicherheit der NATO-Alliierten, Streitkräfte und von Zivilisten gefährden". Anonymous hat offenbar auch nicht vor, die Dokumente zu veröffentlichen, da dies eigener Einschätzung zufolge "verantwortungslos" wäre. [2]

Zuvor hatte die US-Bundespolizei FBI in mehreren Bundesstaaten 16 mutmaßliche Hacker der Gruppe festgenommen. Weitere fünf Hacker wurden demnach in Großbritannien und den Niederlanden gefaßt. Bei den Verdächtigen soll es sich größtenteils um Personen handeln, die Angriffe gegen Visa und den Internet-Bezahldienstleister PayPal gestartet haben, nachdem diese ihre Zusammenarbeit mit der Enthüllungsplattform Wikileaks eingestellt hatten. [3] Die jüngsten Erfolge des FBI scheinen jedoch weniger auf intensive Ermittlungsarbeit, als vielmehr eklatante Anfängerfehler einiger Verdächtiger zurückzuführen sein. Das US-Medium The Atlantic Wire hat die Hintergründe zweier Verhaftungen recherchiert, die auf Trittbrettfahrer oder Nachahmungstäter schließen lassen, die keine Ahnung hatten, wie man digitale Spuren verwischt. [4]

In Reaktion auf die Festnahmen teilten Anonymous und die Hackergruppe LulzSec über Twitter mit, die beabsichtigte Verunsicherung laufe ins Leere, da man sich nicht einschüchtern lasse und künftig noch härter zuschlagen werde. Man greife weiter Internetseiten von Regierungseinrichtungen und Unternehmen an. Als Antwort auf eine Stellungnahme des stellvertretenden FBI-Direktors Steve Chabinsky, der "Chaos im Internet als inakzeptabel" bezeichnet hatte, hieß es: "Nun lassen Sie uns sagen, was wir inakzeptabel finden: Dass Regierungen ihre Bürger belügen, Angst und Schrecken verbreiten, um sie unter Kontrolle zu halten, indem ihre Freiheit Stück für Stück abgebaut wird." Diese Regierungen und die mit ihnen zusammenarbeitenden Konzerne seien der Feind der Hackergruppen. "Wir werden sie weiter bekämpfen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln."

Fußnoten:

[1] http://www.csmonitor.com/USA/Military/2011/0721/You-hack-we-shoot-Pentagon-discusses-armed-counterstrikes-to-cyberattacks

[2] http://de.nachrichten.yahoo.com/anonymous-will-große-mengen-nato-daten-gehackt-haben-214023335.html

[3] http://www.abendblatt.de/vermischtes/article1965983/Anonymous-klaut-NATO-Daten.html

[4] http://www.20min.ch/digital/webpage/story/22383853

22. Juli 2011