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MILITÄR/864: US-Russische Abrüstungszusammenarbeit in Gefahr (SB)


US-Russische Abrüstungszusammenarbeit in Gefahr

Moskau droht mit Auslaufen des Nunn-Lugar-Programms im Juni 2013



Seit 1992 haben die USA und Rußland im Rahmen des in jenem Jahr beschlossenen Cooperative Threat Reduction Program mehr als 7.650 Atomsprengköpfe deaktiviert, größere Mengen chemischer Kampfstoffe entsorgt, waffenfähiges Spaltmaterial gesichert und sich biologischer Waffenbestände entledigt. Mittels des Abkommens, das nach zwei der Initiatoren, der beiden US-Senatoren Sam Nunn, einem Demokraten aus Georgia, und Richard Lugar, einem Republikaner aus Indiana, benannt wird, sind die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Ukraine und Weißrußland zu atomwaffenfreien Staaten geworden. Bereits zweimal, zuletzt 2006, wurde das Nunn-Lugar-Abkommen, eines der erfolgreichsten Abrüstungsprogramme der Geschichte, verlängert. Doch nun steht es plötzlich vor dem Aus. Rußland droht, das Programm im Juni 2013 auslaufen zu lassen. Grund ist die Unzufriedenheit Moskaus mit dem maßgeblich von den USA forcierten Ausbau des Raketenabwehrsystems der NATO in Europa.

Die New York Times meldete die gefährliche Entwicklung am 11. Oktober unter der Überschrift "Russia Won't Renew Pact on Weapons With U.S.". Der Paukenschlag aus Moskau fällt in einer Phase zunehmender Spannungen zwischen den beiden Großmächten. In den USA machen Politik und Medien Stimmung gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und stilisieren diesen zu einem zweiten Stalin hoch. Mitt Romney, der republikanische Präsidentschaftskandidat, geißelt Rußland öffentlich als größte Bedrohung der USA. Wegen der anti-russischen Stimmung bei den Republikanern im US-Kongreß sind Barack Obamas Bemühungen als Präsident, die Beziehungen beider Staaten zu harmonisieren, nicht so richtig geglückt. Zwar haben beide Seiten 2010 ein neues strategisches Abrüstungsabkommen geschlossen und damit die Anzahl ihrer Atomsprengköpfe deutlich reduziert, doch schwillt der Streit um das westliche Raketenabwehrsystem weiter. Stutzig macht die Russen vor allem die kategorische Weigerung Washingtons, Moskau eine schriftliche Garantie dafür zu geben, daß sich das System ausschließlich gegen Raketen aus dem Iran und Nordkorea richtet und niemals dazu genutzt wird, um die russische Zweitschlagskapazität zu neutralisieren.

In den USA stört man sich erheblich daran, daß Rußland weiterhin zum säkularen "Regime" Baschar Al Assads in Syrien hält und Damaskus bei der Niederschlagung des Aufstandes salafistischer Extremisten unterstützt. Während die USA, die Türkei, Saudi-Arabien und Katar die syrischen Rebellen mit Geld, Waffen und geheimdienstlichen Informationen versorgen, machen sie Putin für das Blutvergießen in Syrien verantwortlich, weil er angeblich dem demokratischen "Aufbruch" in Wege steht. Ähnlich haben die USA und die EU-Staaten in diesem Frühjahr über ihre Kontakte bei der russischen "Zivilgesellschaft" vergeblich versucht, die Wiederwahl Putins zum Präsidenten seines Landes zu verhindern. Groß war die Enttäuschung, als die Fremdeinwirkung auf die Stimmung in der russischen Bevölkerung nicht fruchtete. Um so mehr feiert man seitdem die Mitglieder der Punk-Rock-Gruppe Pussy Riot, die wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses durch eine spektakuläre Anti-Putin-Protestaktion in einer Kathedrale in Moskau zu zwei Jahren Straflager verurteilt wurden, als Heldinnen der Meinungsfreiheit und Vorkämpferinnen gegen den neuen russischen Autoritarismus. Wegen des Vorwurfs der unzulässigen Einmischung in die russische Innenpolitik in Form der finanziellen Unterstützung kremlkritischer Nicht-Regierungsorganisationen haben die Behörden in Moskau im vergangenen Monat die United States Agency for International Development (USAID) des Landes verwiesen.

Mit der Ankündigung Rußlands, das Nunn-Lugar-Abkommen im Juni 2013 auslaufen zu lassen, hat die Abkühlung in den Beziehungen zwischen Washington und Moskau einen neuen Tiefpunkt erreicht. In einer Erklärung des russischen Außenministeriums hieß es, der Vorschlag der USA zur einfachen Fortsetzung des Programms decke sich nicht mit den Vorstellungen Moskaus hinsichtlich der "Basis, auf der die weitere Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann". Die Führung in Moskau will, daß ihre Bedenken hinsichtlich der durch das Raketenabwehrsystem der NATO entstehenden Bedrohung für Rußland endlich Rechnung getragen wird. Um dies zu erreichen droht Moskau offen mit der Aufkündigung der gemeinsamen Abrüstungszusammenarbeit.

Nun sind die USA am Zug. Sollte Obama am 6. November zu einer zweiten Amtszeit gewählt werden, bestehen gute Chance, daß beide Seiten wieder zueinander finden. Das hat Obama gegenüber dem heutigen russischen Premierminister Dmitri Medwedew bei einem Treffen im Frühjahr in Chicago angedeutet. Sollte statt dessen Romney, der in außenpolitischen Fragen von neokonservativen Ex-Mitarbeitern der Regierung George W. Bushs beraten wird, im Januar 2013 ins Weiße Haus einziehen, ist mit einer weiteren Verschlechterung der amerikanisch-russischen Beziehungen zu rechnen. Dann ist das Nunn- Lugar-Abkommen vermutlich nicht mehr zu retten.

13. Oktober 2012