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MILITÄR/943: Rüstung - anwachsend taktisches Vermögen ... (SB)


Rüstung - anwachsend taktisches Vermögen ...


Nur noch 100 Sekunden bis zum Weltuntergang - so stehen inzwischen die Zeiger der berühmten Doomsday Clock des Bulletin of Atomic Scientists in den USA. Damit sehen die Experten der renommierten Zeitschrift die Menschheit aktuell in größerer Gefahr als auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise 1962, als JFK und Chruschtschow in den nuklearen Abgrund blickten und gerade noch rechtzeitig zur Besinnung kamen. Als Gründe für die Alarmmeldung gaben am 23. Januar namhafte Experten der Federation of American Scientists, Herausgeberin des Bulletin, sowie die UN-Unterorganisation der sogenannten Elders, die aus erfahrenen und hochangesehenen ehemaligen Staatsmännern und -frauen besteht, zwei "existentielle Bedrohungen" an, nämlich den Klimawandel und die Atomkriegsgefahr aufgrund einer Abkehr der Supermacht USA vom Prinzip der strategischen Rüstungskontrolle samt dazugehöriger zwischenstaatlicher Verträge. Solange den Militärs Atomwaffen zur Verfügung stünden, sei es unvermeidlich, daß sie eines Tages eingesetzt werden, ob "aus Versehen, aufgrund einer Fehleinschätzung oder mit Absicht" warnte Mary Robinson, die Ex-Staatspräsidentin Irlands und ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, eindringlich.

Das große Problem bei den Atomwaffen ist weniger der Umstand, daß die USA an ihrem Arsenal dieser Teufelswerkzeuge festhalten, um damit potentielle Gegner abzuschrecken, wie es in der klassischen Theorie heißt, sondern daß in Washington eine Gruppe Militaristen den Ton angibt, die vom "gewinnbaren Atomkrieg" träumt und diesen auch zu führen gewillt ist, ungeachtet des Risikos, daß dabei die gesamte Menschheit ausgelöscht wird. Dieser mächtige Klüngel, angeführt von Hasardeuren wie John Bolton, ist dafür verantwortlich, daß die Regierung George W. Bush 2002 den ABM-Vertrag mit Rußland, der die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen untersagte, aufkündigte, um Washington gegenüber Moskau und Peking einen Erstschlagsvorteil zu verschaffen, daß Barack Obama die eine Billion Dollar teuere Modernisierung des US-Atomwaffenkomplexes auf den Weg brachte und daß Donald Trump im vergangenen August die USA aus dem Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, auch INF-Vertrag, herausführte. Dessen Vereinbarungen aus dem Jahr 1987 verboten die Indienstnahme und Aufstellung von Atomraketen oder -marschflugkörpern mittlerer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern.

Seit Jahren machten sich Militärs und Geostrategen in den USA Sorgen, daß die Schwelle des Pentagons zum Gebrauch von Nuklearwaffen wegen deren enormer Größe zu hoch sei und daß die Drohung Washingtons mit einem Erstschlag auch gegen einen Gegner, der lediglich konventionelle, chemische und/oder biologische Kampfmittel einsetzt, nicht ernstgenommen werde. Um dieser "Sorge" gerecht zu werden, kündigte man in der jüngsten Version der Nuklearkriegsdoktrin der USA aus dem Jahr 2018 an, eine neue Generation kleinerer und damit "einsetzbarer" Atomsprengköpfe zu bauen und sie in vorgelagerte Positionen zwecks raschen Einsatzes zu bringen. An 11. Juni 2019 - und damit nur wenige Wochen vor dem Austritt der USA aus dem INF-Vertrag am 2. August - veröffentlichten die Joint Chiefs of Staff auf der Website des Pentagons eine brisante neue Richtlinie über den Einsatz von Atomwaffen im Konfliktfall, nur um sie nach wenigen Stunden wieder von dort verschwinden zu lassen.

Glücklicherweise konnte Stephen Aftergood von der Federation of American Scientists zuvor eine Kopie des PDF-Dokuments anfertigen. In "Joint Publication 3-72 - Nuclear Operations" heißt es, daß unter bestimmten Umständen US-Feldkommandeure nach eigenem Ermessen und ohne vorher in Washington eine Genehmigung einzuholen Atomwaffen einsetzen können, um bei einer drohenden Niederlage in einem bis dahin konventionell geführten Konflikt die Oberhand wiederzugewinnen. Die Bekanntgabe der Existenz von "Joint Publication 3-72" sorgte für Aufregung in Kreisen der Befürworter einer strategischen Rüstungskontrolle und trug dazu bei, daß Ende vergangenen Jahres einige demokratische Abgeordnete im Repräsentantenhaus einen Passus aus dem Wehretat 2020 zu streichen versuchten, der die Herstellung und Indienstnahme von leichter einsetzbaren Atomwaffen "niedriger Sprengkraft" - sogenannte "low-yield nukes" - vorschrieb.

Leider blieben die Einwände der Kritiker des Rüstungswahns wirkungslos. Am 4. Februar bestätigte das US-Verteidigungsministerium die Richtigkeit einer früheren Meldung der Federation of American Scientists, wonach Ende Dezember das Atom-U-Boot USN Tennessee von seinem Heimathafen King's Bay im Bundesstaat Georgia mit rund 50 solchen "kleineren" Atomraketen am Bord in See gestochen ist. Die Tennessee und ihre Schwester-U-Boote führen normalerweise 20 ballistische Raketen vom Typ Trident mit, die wiederum mit dem Sprengkopftyp W76-1 bestückt sind, der bei der Detonation die enorme Sprengkraft von 90 Kilotonnen, also die sechsfache Stärke der Hiroshima-Bombe, entfaltet. Die neue W76-2-Bombe hat "nur" eine Sprengkraft von 5 Kilotonnen. Doch jede Trident-Rakete kann mit acht solcher Sprengköpfe bestückt werden, die jeweils gegen ein anderes Ziel gerichtet sind.

Zur Begründung der Indienststellung des W76-2-Sprengkopfes führen das Pentagon und befreundete Militaristen die vermeintliche Bewaffnung der russischen Landstreitkräfte mit einer neuen Generation von "low-yield nukes", deren Existenz jedoch bis heute nicht bewiesen ist, sowie die enorme Überlegenheit der chinesischen Volksarmee im Bereich konventioneller Waffen, die im Ernstfall die "Verteidigung" Taiwans ohne Kernwaffen schwer bis unmöglich mache, ins Feld. In einem Artikel, der am 13. Januar bei Newsweek.com erschienen ist, lieferte der Journalist und Militärexperte William Arkin eine weitere Erklärung für die Aufstockung des US-Waffenarsenals um leicht einsetzbare Atomsprengköpfe, die weniger mit Rußland und China als vielmehr mit dem Iran zu tun hat.

Im Mittelpunkt der Erläuterung Arkins steht die Militärübung Global Thunder 17 aus dem Jahr 2016, als Obama noch US-Präsident war. Im Verlauf des Planspiels um einen heißen Konflikt am Persischen Golf hatten "die Iraner" bereits einen US-Flugzeugträger versenkt und bereiteten den Einsatz von chemischen Waffen gegen amerikanische Bodenstreitkräfte am westlichen Ufer des Gewässers vor. Die Kommandeure auf der US-Seite wollten gegen iranische Truppenkontingente und Militärstellungen Atomwaffen einsetzen, nur waren diese viel zu gewaltig und ihr Einsatz hätte wegen der beträchtlichen Anflugzeit der strategischen Bomber aus den USA viel zu lange gedauert. Die W76-2 behebt das damals aufgetretene Problem. Nun macht man sich laut Arkin bei der US-Generalität Gedanken darüber, daß der unberechenbare Trump in der laufenden Konfrontation mit Teheran viel zu schnell auf die Option des tatsächlichen Gebrauchs der W76-2 zurückgreifen könnte, ähnlich wie er Anfang Januar den Befehl zur Liquidierung des iranischen Generals Qassem Soleimani erteilt hat.

8. Februar 2020


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