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NAHOST/1042: Israel und die Türkei um Versöhnung bemüht (SB)


Israel und die Türkei um Versöhnung bemüht

Ankara und Tel Aviv wollen Gaza-Flotille-Vorfall hinter sich bringen


In die seit Monaten andauernde diplomatische Krise zwischen den beiden Mittelmeerstaaten Türkei und Israel scheint Bewegung zu kommen. Nach der Tötung von neun türkischen Friedensaktivisten bei der gewaltsamen Erstürmung der mit Hilfslieferungen für die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen beladenen Schiffe am 31. Mai im östlichen Mittelmeer durch Spezialeinheiten der israelischen Marine war es zwischen Ankara und Tel Aviv zum Stillstand aller bilateralen Beziehungen gekommen. Die Türkei hatte aus Protest vor dem Akt der Piraterie in internationalen Gewässern ihren Botschafter aus Tel Aviv abgezogen und ihren Luftraum für israelische Militärmaschinen gesperrt.

Der Hilfskonvoi, bestehend unter anderem aus zwei Motorbooten unter US-Flagge, einer ehemaligen 600-Personen-Fähre aus der Türkei, der Mavi Marmara, die von der türkischen Insani Yardim Vakfi - Internationale Humanitäre Hilfsorganisation (IHH) - gechartert worden war, sowie weiteren griechisch-schwedischen Frachtschiffen der "Europäischen Kampagne gegen die Blockade", sollte die nach der israelischen Bombardierung vom Dezember 2008 und Januar 2009 von nahezu allen Hilfsgütern isolierten Gazabewohner mit dringend benötigtem Baumaterial, medizinischem Gerät sowie Medikamenten versorgen. Alle Schiffe des Konvois wurden von den Israelis nach Ashdot umdirigiert, die Ladung wurde einstweilen konfisziert und die Besatzung zum Teil auf Wochen menschenrechtswidrig kaserniert und aufs schärfste verhört.

Als am 2. Dezember verheerende Waldbrände im Naturschutzgebiet um den Berg Carmel bei Haifa ausbrachen und die israelischen Behörden das Ausland dringend um Hilfe baten, schickte auch die Türkei zwei Löschflugzeuge - und das innerhalb weniger Stunden. In Tel Aviv wurde die Geste Ankaras mit großer Dankbarkeit aufgenommen. Premierminister Benjamin Netanjahu bedankte sich per Telefon persönlich bei seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan. In den Tagen darauf tauchten erstmals Berichte über Verhandlungen in Genf auf, bei denen beide Seiten den blutigen Vorfall vom Sommer zu bereinigen versuchten.

Das NATO-Mitglied Türkei ist traditionell ein wichtiger Partner Israels in der Region. Zwischen beiden Staaten besteht seit längerem ein geheimes Militärabkommen, das umfangreiche Waffenlieferungen zur Modernisierung der türkischen Streitkräfte miteinschließt, wofür der israelischen Armee im Gegenzug bis vor kurzem gestattet wurde, Militärübungen im türkischem Hoheitsgebiet - insbesondere Luftmanöver - durchzuführen. Nachdem Erdogan dem israelischen Präsidenten Schimon Peres im Januar 2009 auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos öffentlich Kriegsverbrechen im Gazakrieg vorgeworfen hatte, war Israel von Ankara von den NATO-Militärübungen ausgeschlossen worden. Der Zwischenfall mit der Gaza-Flotille trug zur einer drastischen Verschlimmerung der ohnehin gespannten bilateralen Beziehungen bei.

Seit Monaten drängt und beharrt die Türkei auf eine öffentliche Entschuldigung Israels für den Angriff auf die Free-Gaza-Flotille und auf Schadensersatzzahlungen an die türkischen Opferfamilien, was bei der israelischen Regierung und Opposition gleichermaßen jedoch auf taube Ohren stößt. Netanjahus konservative Koalition ist in dieser Frage zerstritten. Auf der einen Seite möchte man in Tel Aviv an die vormals guten Beziehungen zur Türkei anknüpfen, andererseits sich vor der Weltöffentlichkeit keine Blöße geben.

Außenminister Avigdor Lieberman vom ultrarechten Koalitionspartner Yisrael Beiteinu stellt sich in der Sache stur und begründet dies mit der Behauptung, eine formelle Entschuldigung wäre eine Grußadresse an den "internationalen Terrorismus". Lieberman spricht hinsichtlich des Überfalls auf die Gaza-Flotille gar vom Recht Israels auf Selbstverteidigung und klagt seinerseits Erdogan und Konsorten an, die Konfrontation mit den israelischen Sicherheitsinteressen durch die Unterstützung der Hilfsflotte bewußt in Kauf und provoziert zu haben.

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters ist Israel inzwischen bereit, zumindest teilweise auf die türkischen Forderungen einzugehen. Der Nachrichtensender CNN-Türk meldete zudem, daß Israel jeweils 100.000 US-Dollar für die Angehörigen der türkischen Opfer der Mavi Marmara in Aussicht gestellt hat. In israelischen Regierungskreisen hält man sich unterdessen weiterhin bedeckt. So dementierte Liebermans Außenministerium kurzerhand letztere Meldung und verwies auf die noch laufenden Verhandlungen mit Vertretern der Türkei in Genf.

Ihrerseits beharrt Ankara auf eine Entschuldigung, die für die israelische Seite nicht hinnehmbar zu sein scheint. Nach Angaben der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahranoth verfolgt die israelische Militärführung das Entgegenkommen an die Türkei mit großer Sorge. Man befürchtet, daß die finanziellen Zuwendungen an die türkischen Opfer als Schuldeingeständnis ausgewiesen werden könnte, was ein Fehlverhalten der Streitkräfte schlechthin miteinschließen würde. Für Israel eine heikle und verfahrene Situation, denn verscherzt man es sich mit Ankara, sind langfristig geplante Projekte wie der Med Stream, eine Pipeline für den Transport von Elektrizität, Erdgas, Rohöl und Wasser vom türkischen Ceyhan nach Haifa, gefährdet, gibt man klein bei, dann könnten internationale Gerichtshöfe dies zum Anlaß nehmen, Haftbefehle gegen führende israelische Militärs zu erlassen. Deshalb verlangt Israel, daß eine Einigung mit der Türkei die noch laufende Untersuchung des Vorfalls durch die Vereinten Nationen überflüssig machen muß.

Die israelischen und türkischen Unterhändler in Genf, Yosef Ciechanover und Feridun Sinriliogu, müssen daher den Spagat zwischen formellem Zugeständnis und weitreichender Entlastung der Vorwürfe an das israelische Militär meistern. So drängt die israelische Seite darauf, keine Entschuldigung auszusprechen, sondern bestenfalls ein Bedauern, was soviel bedeutet wie man bedauere die tragischen Todesfälle, ohne die Rechtmäßigkeit der Militärintervention in Frage zu stellen.

Die Frage wird also sein, wie sich einerseits die zu Tode gekommenen Aktivisten unter den Teppich kehren lassen, ohne daß die türkische Regierung vor der eigenen Bevölkerung das Gesicht verliert, und andererseits Israel auf die Rückendeckung aus Ankara bei eventuellen rechtlichen Schritten gegen die israelische Marine bauen kann. Die Toten von der Mavi Marmara stellen nichts anderes als eine Verhandlungsmasse auf der Suche nach einem Kompromiß dar, der es beiden Seiten erlaubt, ihre offiziellen Interessenvertretungen auf diplomatischer Ebene wieder einzusetzen. Die Entschädigungen sind in diesem Sinne das sprichwörtliche Schweigegeld im Handschlag zweier Regierungen, deren Perspektiven weit über erlittenes Leid und menschliche Tragödien hinausgehen. Von der Drangsalierung der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen und den israelischen Drohgebärden gegenüber dem Iran, der libanesischen Hisb Allah und der palästinensischen Hamas wird dann nur mehr über diplomatische Depeschen verhandelt.

15. Dezember 2010