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NAHOST/1199: In Syrien droht laut Brahimi ein zweites Somalia (SB)


In Syrien droht laut Brahimi ein zweites Somalia

Boden-Luft-Raketen liefern der NATO einen Interventionsgrund



Nach seiner Wiederwahl als US-Präsident steht ganz oben auf Barack Obamas Liste der zu erledigenden Aufgaben die Suche nach einem neuen Außenminister, denn Hillary Clinton will bekanntlich Anfang des kommenden Jahres das State Department verlassen. Ob die ehemalige First Lady und Senatorin von New York sich gänzlich von der politischen Bühne verabschiedet oder doch noch eine erneute Kandidatur bei der Präsidentenwahl 2016 vorbereitet, ist seit Monaten Gegenstand heftiger Spekulationen in den US-Medien. Fest steht, daß Amerikas Chefdiplomatin auf Abruf in Syrien ein blutiges Chaos hinterläßt. Wie keine zweite Person in der internationalen Diplomatie hat Bill Clintons Gattin seit Beginn der Syrien-Krise im Frühjahr 2011 am energischsten den Standpunkt vertreten, daß Präsident Baschar Al Assad "weg" müsse, und damit sämtliche Bemühungen um eine Kompromißlösung zwischen der Regierung in Bagdad und der syrischen Opposition konsequent torpediert.

Mit jedem Tag bekommt man immer grausamere Nachrichten aus Syrien zu hören. Während die Regierungstruppen schwere Artillerie und Kampfjets gegen Positionen der Aufständischen in Damaskus, Aleppo, Homs und anderswo einsetzen, greifen letztere zu Bombenanschlägen und Massakern an Soldaten und Zivilisten, um Schrecken zu verbreiten und den Widerstandsgeist der Gegenseite zu brechen. Inzwischen wird die Zahl der Syrer, die in dem Bürgerkrieg ihr Leben verloren, auf rund 40.000 geschätzt. Hunderttausende Syrer sind vor den Kämpfen in die Türkei und nach Jordanien geflohen. Ein Ende des Blutvergießens ist nicht in Sicht. Im Gegenteil nimmt die Gewalt in Syrien an Heftigkeit zu. Der wochenlange Versuch des UN-Sondervermittlers Lakhdar Brahimi, die Konfliktparteien für einen Waffenstillstand zu gewinnen, scheint gescheitert zu sein. In einem von der Zeitung Al-Hayat am 6. November veröffentlichten Interview äußerte der ehemalige algerische Außenminister die Befürchtung, daß Syrien zu einem zweiten Somalia wird, sollten die Waffen nicht bald zum Schweigen gebracht werden. In Somalia gibt es seit 1991 keine staatliche Ordnung mehr. Banden, allen voran die gefürchteten Islamisten von Al Schabab, treiben dort ihr Unwesen.

Hillary Clinton hat kräftig Öl ins Feuer gegossen, als sie am 31. Oktober bei einen Besuch in der kroatischen Hauptstadt Zagreb völlig überraschend die Unterstützung der USA für den Syrischen Nationalrat, den Washington seit über einem Jahr als "legitime Vertretung" des syrischen Volkes protegiert hatte, zurückzog. Clinton kritisierte das Gremium, in dem Syriens Moslembruderschaft die Hauptrolle spielte, als einen hoffnungslosen Haufen Exilanten, die über wenig Rückhalt im eigenen Land verfügten. Washington wolle künftig enger mit denjenigen zusammenarbeiten, "die an der Front kämpfen und dort ihr Leben riskieren", erklärte Obamas Fintenweib.

Auch wenn Washington jetzt nach außen hin auf "nicht-extremistische" Kräfte innerhalb der syrischen Opposition setzt und auf deren aktuellen, mehrtägigen Treffen in der katarischen Hauptstadt Doha entsprechende Figuren zu den neuen "demokratischen" Galionsfiguren küren will, so enthält Clintons Aussage doch eine eigene, zwingende Logik. Die USA und ihre Verbündeten - allen voran die Türkei, Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Katar und Jordanien - beabsichtigen, in Syrien dieselben sunnitisch-salafistischen Extremisten zum Sieg zu verhelfen, die der Westen in den achtziger Jahren in Afghanistan gegen die Sowjetarmee, in den Neunzigern in Bosnien-Herzegowina und Kosovo gegen die Serben und die Truppen Slobodan Milosevic' und im vergangenen Jahr beim Sturz von Libyens Staatschef Muammar Gaddhafis höchst erfolgreich als seine Handlanger eingesetzt hat.

Bereits im November 2011 wurden die ersten Dschihadisten aus Nordafrika - Mitglieder der al-kaida-nahen Libyan Islamic Fighting Group (LIFG) - an der türkischen Grenze zu Syrien gesichtet. Die Angehörigen der LIFG und ihre aus anderen Teilen der islamischen Welt hinzugezogenen Kampfgefährten sind auch in Syrien ihrem Ruf als erbarmungslose Meuchelmörder, die vor keiner Greueltat zurückschrecken, gerecht geworden. Unschuldige Christen, Alewiten, Kurden und Atheisten werden von ihnen als "Ungläubige" hingerichtet. Viele ihrer Opfer wurden davor gefoltert. Medienberichte, wonach am 6. September ein Schiff mit 400 Tonnen Waffen und Munition aus Libyen den Süden der Türkei erreichte, erklären die Eskalation der Kämpfe in den zurückliegenden Wochen.

Rußlands Außenminister Sergej Lawrow erklärte bei einem Treffen mit dem zur Opposition übergelaufenen ehemaligen syrischen Premierminister, Riad Hijab, in der jordanischen Hauptstadt Amman, daß die Aufständischen in Syrien inzwischen über 50 Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger verfügen, die sie gegen Kampfhubschrauber und Flugzeuge der staatlichen Streitkräfte einsetzen würden. Bekanntlich hat der Einsatz solcher Stinger-Raketen, die von der CIA kamen, vor einem Vierteljahrhundert den Krieg in Afghanistan zugunsten der Mudschaheddin entschieden. Die Aufrüstung der islamistischen "Terroristen" in Syrien mit Boden-Luft-Raketen, die wahrscheinlich aus den früheren Waffenarsenalen Gaddhafis stammen, ist für die NATO in mehrfacher Hinsicht recht nützlich. Zum einen wird dadurch der Bewegungsraum der syrischen Luftwaffe stark eingeschränkt, zum anderen regen die Türkei und ihre NATO-Verbündeten nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Associated Press vom 8. November an, wegen der von Syrien ausgehenden Raketengefahr eigene Raketenabwehrbatterien vom Typ Patriot entlang der türkischen Südostgrenze aufzustellen. Eine solche Aktion käme der Schaffung einer Flugverbotszone in Nordsyrien gleich. Nach Monaten, in denen westliche Spezialstreitkräfte die Rebellen in Syrien logistisch und personell unter die Arme greifen, rückt der Zeitpunkt der offenen Militärintervention des Auslands immer näher.

8. November 2012