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NAHOST/1239: Verfügen die Rebellen in Syrien über Chemiewaffen? (SB)


Verfügen die Rebellen in Syrien über Chemiewaffen?

UN-Ermittlerin Carla Del Ponte durchkreuzt die NATO-Propagandapläne



In den USA steigt der Druck auf die Regierung von Präsident Barack Obama, im Bürgerkrieg in Syrien zugunsten der Rebellen militärisch zu intervenieren, immer mehr an. Die Befürworter eines "Regimewechsels" in Damaskus, angeführt von dem notorischen Militaristen, dem republikanischen Senator John McCain, glauben zu wissen, daß die regulären syrischen Streitkräfte Chemiewaffen gegen die Aufständischen eingesetzt und damit die letztes Jahr von Obama verkündete "rote Linie" überschritten hätten, weshalb zur Aufrechterhaltung der Glaubwürdigkeit der Supermacht USA militärische Strafmaßnahmen erforderlich seien. Während McCain die Ausschaltung der syrischen Luftwaffe samt Flugabwehr fordert, erwägt die Obama-Regierung laut Medienberichten die direkte Bewaffnung der Rebellen, die bisher ihre Rüstungsgüter mit Hilfe der CIA indirekt über Saudi-Arabien, Katar, Libyen und Kroatien erhielten. Angesichts dieser Gemengelage hat das Weiße Haus mit Unverständnis und Ablehnung auf die Feststellung der Schweizer Diplomatin und Juristin Carla Del Ponte reagiert, derzufolge die bisherigen Erkenntnisse der Ermittler der Vereinten Nationen dafür sprechen, daß die Rebellen und nicht die Truppen Baschar Al Assads Chemiewaffen eingesetzt haben.

Im Mittelpunkt der Diskussion stehen vor allem drei Vorfälle: einer im vergangenen Dezember bei Homs und zwei am 19. März bei Aleppo sowie in einem Vorort von Damaskus. Bei dem Zwischenfall bei Aleppo, dem schwersten der drei, kamen 26 Menschen ums Leben - zehn Zivilisten und 16 Soldaten. Gerade die Verluste bei der Armee deuten darauf, daß die Rebellen hinter dem Raketenangriff gestanden haben könnten. Sie wiederum behaupten, die syrische Armee hätte fälschlicherweise eine Stellung der eigenen Truppen beschossen. Die Regierung in Damaskus bestreitet dies. Auch über die Art des Giftgases, das hier tödlich wirkte, herrscht Uneinigkeit. Laut Regierung wurde Chlorgas verwendet. Bekanntlich haben Rebellen der salafistischen Al-Nusra-Front im August 2012 nahe Aleppo die einzige Fabrik in Syrien erobert, in der Chlorgas hergestellt werden kann. Die Aufständischen behaupten ihrerseits, daß sarinhaltiges Gas, das aus den umfangreichen Chemiewaffenbeständen der syrischen Streitkräfte stammte, zum Einsatz gekommen ist.

Auf Betreiben Frankreichs und Großbritanniens wurde Ende März ein UN-Ermittlerteam zusammengestellt, das den Vorwürfen nachgehen sollte. Anfangs war auch die syrische Regierung bereit, die UN-Ermittler einreisen zu lassen. Dies änderte sich aber, als zur Bedingung gemacht wurde, daß die ausländischen Inspekteure nicht nur zu den drei Tatorten reisen, sondern in ganz Syrien herumfahren dürften. Aus nicht unberechtigter Angst vor NATO-Spionage unter dem Vorwand der Ermittlung verweigert Damaskus den UN-Inspekteuren die Einreise. Paris und London legen seitdem in der öffentlichen Debatte die Haltung von Damaskus als Schuldeingeständnis aus. Washington verhält sich wegen der "roten Linie" und des ihr innewohnenden Handlungszwangs bisher vorsichtiger. Nach Angaben von Obama können die US-Geheimdienste nicht mit Sicherheit sagen, welche von den Kriegsparteien in Syrien gegen die andere Giftgas eingesetzt hat.

Für Aufregung in der Debatte um dieses Thema sorgte am 5. Mai Carla Del Ponte. Im Interview mit dem Schweizer Fernsehen erklärte die ehemalige Chefanklägerin des Kriegsverbrechertribunals für Jugoslawien unter Verweis auf die Interviews, welche ihre Kollegen von der UN-Untersuchungskommission in Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens mit Opfern und Ärzten durchgeführt hatten, daß es "konkrete Verdachtsmomente, aber noch keine unwiderlegbaren Beweise für den Einsatz von Saringas" gäbe. "Der Einsatz ging auf die Opposition, die Rebellen, und nicht auf die Regierungsbehörden zurück", so Del Ponte. Die Stellungnahme der Obama-Administration folgte prompt und fiel weit eindeutiger aus als die bisherige Position des Präsidenten. Auf der täglichen Pressekonferenz im Weißen Haus erklärte am 6. Mai Präsidentensprecher Jay Carney: "Wir stehen der Vermutung, daß die Opposition Chemiewaffen eingesetzt hat oder haben könnte, höchst skeptisch gegenüber. Wir halten es für höchst wahrscheinlich, daß der etwaige Einsatz von Chemiewaffen, der in Syrien stattgefunden hat, vom Assad-Regime ausging."

Mit klassischer britischer Untertreibung hieß es am 7. Mai im Londoner Guardian, Del Ponte hätte mit ihrem Beitrag zum Thema Chemiewaffen die laufende Diskussion innerhalb der NATO-Mitgliedstaaten um eine mögliche Militärintervention in Syrien "verkompliziert". In den letzten Wochen haben Berichte über den tonangebenden Einfluß sunnitischer Fundamentalisten innerhalb der syrischen Opposition diese in den Augen vieler Menschen im Westen diskreditiert. Deshalb raten einige Militärexperten davon ab, die Gegner Assads weiter aufzurüsten, und plädieren deshalb für einen politischen Dialog zur Beilegung der Krise in Syrien. Deshalb tun die Verfechter der militärischen Einmischung die Äußerungen Del Pontes als unausgegoren und unüberlegt ab.

In einem Bericht der New York Times vom 7. Mai erklärte ein nicht namentlich genannter ranghoher Mitarbeiter des Washingtoner State Department, man verfüge über "keine Informationen", daß die syrischen Rebellen "die Fähigkeit oder die Absicht" hätten, "solche Waffen einzusetzen oder von ihnen Gebrauch zu machen". Anders sieht Lawrence Wilkerson die Dinge. Als Stabschef von US-Außenminister Colin Powell hat Wilkerson 2002 und 2003 hautnah erlebt, wie im US-Sicherheitsapparat Geheimdiensterkenntnisse über "Massenvernichtungswaffen" gefälscht und manipuliert werden können, um einen Vorwand für einen Krieg - damals für einen schon länger geplanten Einfall in den Irak - zu konstruieren. Am 2. Mai erklärte bei einem Interview mit Current TV der heutige Professor für Politikwissenschaft am renommierten College of William and Mary im Bundesstaat Virginia, der Chemiewaffeneinsatz in Syrien könnte eine "Falsche-Flagge-Operation der Israelis" gewesen sein. Für den Verdacht Wilkersons spricht die Tatsache, daß es General Itai Brun vom israelischen Militärgeheimdienst war, der am 23. April mit seinen "Erkenntnissen" bezüglich des Chemiewaffeneinsatzes durch die regulären syrischen Streitkräfte an die Öffentlichkeit ging und sozusagen im Alleingang die unselige Diskussion um Obamas "rote Linie" lostrat.

7. Mai 2013