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NAHOST/1241: USA halten am "Regimewechsel" in Damaskus fest (SB)


USA halten am "Regimewechsel" in Damaskus fest

Spannungen zwischen Washington und Moskau nehmen spürbar zu



Wie zu befürchten war, erweist sich die neue amerikanisch-russische Friedensinitiative für Syrien allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz als Totgeburt. Nur zwei Tage nach dem erstem Besuch als US-Außenminister in Moskau hat John Kerry bei einem Auftritt in Rom am 9. Mai die erzielte Einigung mit dem Kreml torpediert. Dort hatten sich der US-Chefdiplomat, Amtskollege Sergej Lawrow und Rußlands Präsident Wladimir Putin auf die Einberufung einer Friedenskonferenz verständigt, auf der vermutlich im Juni in Genf die Opposition und Regierung Syriens ohne Vorbedingungen einen Ausweg aus der Krise aushandeln sollten. In Rom rückte der ehemalige Senator aus Massachusetts hiervon ab und erklärte kategorisch, in der durch die Verhandlungen zu konstituierenden "Übergangsregierung" für Syrien gäbe es für den derzeitigen Präsidenten Baschar Al Assad keinen Platz. Damit hat Kerry lediglich mit anderen Worten das berühmt-berüchtigte Ultimatum seiner Vorgängerin Hillary Clinton - "Assad muß weg" - erneuert.

Von der Doppelzüngigkeit westlicher Gesprächspartner dürfte man in Moskau nicht sonderlich überrascht sein. Die USA werfen Präsident Assad vor, Giftgas gegen sein eigenes Volk eingesetzt zu haben, obwohl es nach Angaben der Schweizer UN-Ermittlerin Carla del Ponte die Rebellen waren, die im März bei Aleppo sarinhaltige Granaten verschossen. Zwei Tage vor der Ankunft Kerrys in der russischen Hauptstadt haben die Israelis - man kann das Einverständnis der Regierung Barack Obamas voraussetzen - schwere Luftangriffe auf mehrere Militärinstallationen bei Damaskus durchgeführt, die einer unbekannten Anzahl syrischer Soldaten das Leben kostete. Anschließend behauptete Tel Aviv, es hätte sich um keinen Kriegsakt gehandelt; der Angriff hätte lediglich iranischen Raketen, die für die schiitisch-libanesische Hisb Allah gedacht waren, gegolten. London, Paris und Washington äußerten Verständnis für die "Präventivmaßnahme", genießt doch aus westlicher Sicht die nationale Sicherheit Israels einen höheren Rang als die aller anderen Staaten der Region.

Derzeit diskutieren Amerikaner, Briten und Franzosen über direkte Rüstungshilfe für die syrischen Rebellen, die seit zwei Jahren, koordiniert von der CIA, größere Mengen Waffen aus Libyen, Katar, Kroatien und Saudi-Arabien erhalten. Im US-Kongreß hat ein demokratischer Parteikollege von Kerry und Obama, Robert Menendez, Senator aus New Jersey, einen entsprechenden Gesetzesentwurf eingebracht. Die Regierungen von David Cameron und Francois Hollande wollen deshalb das Waffenembargo der Europäischen Union für die Aufständischen in Syrien aufheben lassen und drängen auf eine positive Entscheidung beim nächsten EU-Außenministertreffen am 27. Mai. Und das alles, obwohl immer offensichtlicher wird, daß die Anti-Assad-Kräfte zum größten Teil aus sunnitischen Dschihadisten bestehen, die keine "Demokratie", sondern ein Kalifat unter strengster Auslegung der Scharia in Syrien, dem Libanon, dem Iran und Jordanien errichten wollen. Die Tatsache, daß die USA die führende oppositionelle Miliz in Syrien, die Al-Nusra-Front, auf ihre Terrorliste gesetzt haben und Frankreich und Großbritannien innerhalb der EU denselben Schritt befürworten, beruhigt in keiner Weise.

Ein aufschlußreicher Artikel, der am 9. Mai beim Londoner Guardian erschienen ist, straft die Behauptung der NATO-Partner, in Syrien die gemäßigten Kräften zuungunsten der "extremistischen" stärken zu wollen, Lüge. Dort schreiben Mona Mahmood und Ian Black schwarz auf weiß: "Syriens wichtigste Oppositionsgruppe, die Freie Syrische Armee (FSA), verliert Kämpfer und Fähigkeiten an die Jabhat Al-Nusra, eine islamistische Organisation mit Verbindungen zu Al Kaida, die sich immer mehr zu der am besten ausgerüsteten, finanzierten und motivierten Kampftruppe gegen das Regime Baschar Al Assad entwickelt". Offenbar sorgen Jenseitsvorstellungen für den besonderen moralischen Auftrieb der Dschihadisten. Über die "Ideologie" als "mächtiger Faktor" heißt es im Guardian wie folgt:

"Die Kämpfer wechseln zur Al-Nusra wegen ihrer islamischen Doktrin, Aufrichtigkeit, guten Finanzierung und ihren hochmodernen Waffen", erklärte Abu Islam von der Al-Tawid-Brigade der FSA in Aleppo. "Mein Kollege, der bei der Ahrar-Suriya-Brigade der FSA kämpfte, fragte mich: 'Ich kämpfe bei der Ahrar-Suriya-Brigade, doch ich will wissen, wenn ich bei einer Schlacht getötet werde, werde ich als Märtyrer gelten oder nicht?' Es dauerte bei ihm nicht lange, bis er die FSA verließ und zur Al-Nusra ging. Dort fragte er nach einem Scharfschützengewehr und bekam sofort eines".

Die Perfidie Washingtons zeigt sich im Umstand, daß Kerry nach den Gesprächen mit Putin und Lawrow den ehemaligen US-Botschafter in Syrien, Robert Ford, in die Türkei entsandte, um den neuen "Friedensplan" mit Vertretern der syrischen Opposition zu diskutieren. Ford, der sich früher in Damaskus mit seiner Destabilisierungsarbeit sehr unbeliebt gemacht hat und deshalb letztes Jahr abgezogen werden mußte, beließ es nicht bei seinem Besuch am 8. Mai in Istanbul sowie in den Flüchtlingslagern, sondern überquerte am darauffolgenden Tag illegal die syrische Grenze und fuhr nach Aleppo, um sich dort mit Rebellenkommandeuren zu treffen. Dies berichtete am selben Abend der Onlinedienst des US-Fernsehsenders ABC. Über den Inhalt der Gespräche zwischen Ford und den führenden Aufständischen ist nichts bekannt.

Dafür weiß man, daß Rußland über die jüngste Entwicklung mehr als verärgert ist. Am Tag nach dem israelischen Luftangriff auf Damaskus soll Putin Benjamin Netanjahu, der zu dem Zeitpunkt gerade zu einem viertägigen Staatsbesuch in der Volksrepublik China gelandet war, angerufen und ihn wegen Tel Avivs mutwilliger Gefährdung der internationalen Sicherheit gerügt haben. Dies schrieb jedenfalls der langjährige indische Diplomat M. K. Bhadrakumar am 9. Mai in der Asia Times Online. Am selben Tag meldete das neokonservative Wall Street Journal, Moskau stehe kurz davor, für 900 Millionen Dollar vier Batterien des sehr leistungsstarken russischen Raketenluftabwehrsystems S-300 an die Syrer zu verkaufen. Über die bevorstehende Waffenlieferung sollen die Israelis Washington vor wenigen Tagen informiert haben.

Jene Nachricht dürfte bei der NATO die Alarmglocken ausgelöst haben. Mit der S-300 lassen sich modernste Kampfflugzeuge, ballistische Raketen und Marschflugkörper abschießen; jede Batterie verfügt über sechs Abschußröhren und 144 Raketen mit jeweils einer Reichweite von 200 Kilometer. Derzeit mehren sich im US-Kongreß die Stimmen, welche die Verhängung einer Flugverbotszone über Syrien verlangen, die natürlich nur für die Syrer gelte. Um sie durchzusetzen, müßte die NATO vorher die gesamte syrische Luftabwehr lahmlegen. Hierzu wäre ein mehrwöchiger Bomben- und Raketenangriff erforderlich. Bekämen die syrischen Streitkräfte rechtzeitig die russische S-300, wäre die Durchführung einer solchen Operation für die NATO viel gefährlicher und ginge vermutlich mit höheren Verlustraten einher. Im Bericht des Wall Street Journal heißt es unter Verweis auf nicht namentlich genannte Regierungsvertreter in den USA sowie in der Nahost-Region lapidar, die Inbetriebnahme der S-300 würde eine "internationale Intervention erheblich komplizierter machen". Das Wall Street Journal verweist zudem auf eine entsprechende Analyse des Pentagons, wonach die bereits bestehende Luftabwehr Syriens fünfmal respektive zehnmal besser sei als diejenige, welche die NATO 2011 in Libyen und 1999 im sogenannten Kosovo-Krieg gegen Jugoslawien zerstörte.

Auf einer Pressekonferenz am 9. Mai in der ewigen Stadt mit der neuen italienischen Außenministerin Emma Bonino mußte Kerry Fragen zur spektakulären Wall-Street-Journal-Enthüllung beantworten. Mit konsternierter Miene kritisierte der dekorierte Vietnamkriegsheld den geplanten Transfer der russischen S-300-Luftabwehrraketen - immerhin eine Defensivwaffe - als "potentiell destabilisierend in Bezug auf den Staat Israel", um praktisch im gleichen Atemzug dem "Partner" in Rußland davon abzuraten. Kerry war nicht der einzige Würdenträger, der an diesem Tag von der Destabilisierung des Nahen Ostens sprach. Bei einem Besuch in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia sagte Beshara Boutros Rai, der Patriarch der christlichen Maroniten im Libanon, in Syrien, Jordanien, Israel und Zypern, "der internationalen Gemeinschaft" und "den Ländern, welche die Flammen des Krieges in Syrien anfachen": "Hören Sie auf, das Töten zu unterstützen und zu finanzieren, Terroristen zu bewaffnen und ein stabiles Land zu destabilisieren." Leider ist anzunehmen, daß Rai mit seiner dringenden Bitte bei den Adressaten auf taube Ohren stoßen wird. Wegen allzu entschiedener Kritik an den Gewaltexzessen der bewaffneten Opposition in Syrien hatte die Obama-Regierung das Oberhaupt der Maroniten bereits im September 2011 von einem geplanten Besuch in Washington einfach ausgeladen.

10. Mai 2013