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NAHOST/1242: Libyen bekommt seine Milizen nicht in den Griff (SB)


Libyen bekommt seine Milizen nicht in den Griff

Vom Rechtsstaat keine Spur im Libyen der Nach-Gaddhafi-Ära



Nach tagelanger Belagerung und teilweiser Besetzung der wichtigsten Ministerien in Tripolis hat am 5. Mai das libysche Parlament dem Druck der bewaffneten Milizen nachgegeben und das umstrittene "Gesetz der politischen Isolation" verabschiedet. Das Gesetz sieht vor, daß alle Personen, die dem 42 Jahre währenden 2011 untergegangenen "Regime" Muammar Gaddhafis gedient haben, aus dem Staatsdienst verbannt werden. Nun droht etlichen Abgeordneten, Premierminister Ali Zeidan, Parlamentspräsident Mohammed Magarief, den meisten Richtern, zahlreichen Beamten und den leitenden Angestellten sämtlicher Staatsunternehmen, darunter des wichtigen Ölmonopols, die Entlassung. Von dieser Maßnahme erhoffen sich viele Milizionäre, eine Festeinstellung als Polizist oder privater Wachmann bei Ministerien oder Raffinerien zu bekommen. Die Moslembruderschaft, derzeit Opposition im Volkskongreß, hat mit der von ihr maßgeblich initiierten Aktion einen wichtigen politischen Erfolg gegenüber ihrer wichtigsten Konkurrenz, der National Forces Alliance um den linksliberalen Mahmud Dschibril, errungen. Daß dabei alle demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze mit Füßen getreten worden sind, scheint die Sieger in diesem Streit nicht zu stören, verheißt aber nichts Gutes für die Zukunft Libyens.

Bereits im Vorfeld der erzwungenen Abstimmung haben die Milizionäre in Tripolis friedliche Demonstranten, die es gewagt haben, auf die Straße zu gehen, um gegen die Rücksichtslosigkeit der Gesetzesbefürworter zu protestieren, malträtiert und zusammengeschlagen. Auch nach der Verabschiedung des Gesetzes dauerte das politische Durcheinander fort. Die Belagerung der Ministerien hielt an, weil die Milizionäre unter anderem ihre Aufnahme in den Staatsdienst erzwingen wollten. Am 7. Mai gab Mohammed al-Barghati auf einer Pressekonferenz aus Protest gegen die jüngsten Vorgänge sein Ausscheiden als Verteidigungsminister wie folgt bekannt: "Ich werde niemals akzeptieren, daß Politik mit Waffengewalt praktiziert wird. Es handelt sich hier um einen Angriff auf die Demokratie, die zu beschützen ich geschworen hatte." Innerhalb weniger Stunden wurde der Rücktritt al-Barghatis jedoch zur Makulatur; einfach weil der Premierminister sich weigerte, sein Ersuchen anzunehmen.

Eine ähnlich dramatische Kehrtwende leistete sich am Tag danach auch Zeidan selbst. Nachdem die Milizionäre versprochen hatten, die Besetzung vom Verteidigungs- und Justizministerium zu beenden, hieß er nachträglich deren selbstherrliche Vorgehensweise in aller Öffentlichkeit mit den Worten "Wir haben keine Milizionäre; wir haben nur Revolutionäre" gut. Derselbe Zeidan hatte im Wahlkampf im vergangenen Herbst diejenigen, die ihre politischen Ziele mit Gewaltdrohungen durchsetzen und sich nicht an die neuen demokratischen Spielregeln halten wollten, als "Verlierer" bezeichnet. Sein demonstratives Entgegenkommen den Milizionären gegenüber speist sich vermutlich aus der Hoffnung, daß das neue Gesetz der politischen Verbannung im Gegenzug bei ihm nicht zur Anwendung kommt.

Die Kapitulation vor den Milizen hat am 10. Mai erste Konsequenzen gefordert. An diesem Tag demonstrierten Tausende Menschen in Tripolis, Benghazi und den anderen Städten des Landes gegen die anhaltende Gesetzeslosigkeit, die Untätigkeit von Armee und Polizei und die Demontage der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Moslembruderschaft. Zur selben Zeit gaben die britische Botschaft in Tripolis und das britische Ölunternehmen BP den Abzug eines Teils ihrer Belegschaft aus Libyen unter Hinweis auf die unsichere Lage in dem nordafrikanischen Land bekannt. Die Angst unter den ausländischen Diplomaten in Tripolis ist nicht unbegründet. Bereits am 23. März demolierte eine Autobombe die französische Botschaft und verletzte zwei Mitglieder der Wachmannschaft schwer. Ebenfalls am 10. Mai meldete die Nachrichtenagentur Associated Press, das Pentagon hätte wegen der sich zuspitzenden politischen Krise in Libyen das US-Militär in Europa im allgemeinen, Einheiten der Spezialstreitkräfte bei Stuttgart in Deutschland sowie der Marineinfanterie bei Moron in Spanien im besonderen in Alarmbereitschaft versetzt.

Währenddessen setzte sich die Gewaltspirale unvermindert fort. Am 10. und 12. Mai kam es zu schweren Bombenanschlägen auf mehrere Polizeiwachen in Benghazi. Zum Glück gab es nur Sachschäden. Niemand hat sich bisher zu den Angriffen bekannt. Dennoch werden die Täter im salafistischen Milieu vermutet. Es ist aber nicht auszuschließen, daß hier Kräfte am Werk sind, die auf eine Abspaltung des ölreichen Ostens mit Benghazi als Hauptstadt eines Staates Cyrenaika hinarbeiten. Die Anhänger von Ahmed Zubair al-Senussi, dem Vetter des von einer Gruppe von Gaddhafi angeführten Armeeoffizieren 1969 abgesetzten libyschen Königs Idris, haben für den 1. Juni in der Stadt Al Baida eine große politische Veranstaltung angekündigt, mit der sie ihrer Forderung nach einem starken föderalen Staat Libyen Nachdruck verleihen wollen. Eineinhalb Jahre nach dem Sturz und der Ermordung Gaddhafis durch Al-kaida-nahe Milizen und die Luftwaffe der NATO ist mit keinem baldigen Ende der politischen Auflösungserscheinungen im Staate Libyen zu rechnen. Das Gegenteil ist der Fall. Für sozialen Sprengstoff in dem krisengeschüttelten Land dürfte die Ankündigung der Regierung in Tripolis vom 1. Mai sorgen, innerhalb der nächsten drei Jahre die staatliche Subventionierung aller Treibstoffe einzustellen.

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Nachtrag: Am Nachmittag des 13. Mai explodierte in unmittelbarer Nähe des städtischen Krankenhauses von Benghazi eine schwere Autobombe. Neun Menschen, darunter drei Kinder, wurden getötet, dreizehn weitere verletzt. Bis zur Stunde hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt.

13. Mai 2013