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NAHOST/1262: Libyen der Nach-Gaddhafi-Ära vor der Zerreißprobe (SB)


Libyen der Nach-Gaddhafi-Ära vor der Zerreißprobe

Der Osten Libyens erklärt sich zum autonomen Gebiet Barka



Zwei Jahre nach dem Sturz der Regierung Muammar Gaddhafis kommt Libyen immer noch nicht zur Ruhe. Der Staat befindet sich quasi in der Auflösung. Die Wirtschaft steht wegen Streitereien um die Verteilung der Öleinnahmen am Rande des Zusammenbruchs, was dazu geführt hat, daß die meisten Raffinerien und Förderanlagen nur teilweise, wenn überhaupt, gefahren werden. Nach offiziellen Angaben treiben bis zu 225.000 Milizionäre in dem nordafrikanischen Land ihr Unwesen. Ein funktionierender Sicherheitsapparat ist nicht in Sicht. Das Alptraumszenario, vor dem Kriegsgegner die NATO schon damals gewarnt haben, nämlich die Entstehung eines zweiten Somalias, diesmal am Mittelmeer, bewahrheitet sich.

Jüngster Höhepunkt dieser traurigen Entwicklung war die Bekanntgabe der Bildung der Autonomen Region Barka im ölreichen Osten Libyens um Benghazi. In jener Hafenstadt hat Anfang 2011 der Aufstand begonnen, der nach monatelangen Kämpfen mit Hilfe der Luftwaffe und Spezialstreitkräfte der NATO die 42jährige Herrschaft Gaddhafis beenden sollte. Zur Begründung der Schaffung der neuen autonomen Region mit Namen Barka, welche die Provinzen Benghazi, Tobruk, Ajdabija und Jebel Akhdar in sich vereinigt, erklärte deren neuer Premierminister Abd-Rabbo al-Barassi am 24. Oktober, man strebe eine gerechtere Verteilung der Einnahmen aus dem Ölgeschäft und ein Ende des bisher angeblich korrupten Systems der Zentralregierung in Tripolis an.

Zu einer Stellungnahme zu dem gefährlichen Schritt des libyschen Ostens in Richtung Unabhängigkeit fühlte sich in der Hauptstadt behördlicherseits zunächst niemand aufgerufen. Das liegt vielleicht daran, daß man an dem Tag in Tripolis hauptsächlich mit der Anklageverlesung gegen 38 Angehörige des früheren "Regimes" Muammar Gaddhafis, darunter dessen Sohn Seif Al-Islam, der ehemalige Regierungschef al-Baghdadi al-Mahmudi und der ehemalige Geheimdienstchef Abdullah al-Senussi, befaßt war.

Ohnehin herrscht in Tripolis das politische Chaos, seit im Mai die oppositionelle Muslimbruderschaft mit Gewalt vom Volkskongreß die Verabschiedung eines Gesetzes erzwungen hat, das die Verbannung aller Angehörigen des alten "Regimes" aus staatlichen Ämtern vorschreibt. Mittels dieser Regelung hofft die Muslimbruderschaft das Staatswesen mit den eigenen Getreuen zu füllen. Ob der Plan aufgeht, muß sich noch zeigen. Bisher ist der Versuch, durch die Aufnahme aller Milizionäre in den Staatsdienst, die als Wachmänner für Regierungsgebäude, Raffinerien und im Straßenverkehr eingesetzt werden, eine funktionierende Armee und Polizei aufzubauen, gründlich gescheitert. Nichts verdeutlicht dies besser als die Entführung von Premierminister Ali Zeidan am 10. Oktober aus dem Hotel Corinthia, das bis dahin als sicherster Ort in ganz Tripolis galt. Zeidan hat die achtstündige Geiselnahme als einen "versuchten Putsch" bezeichnet. Für die Teilnehmer der spektakulären Aktion, den Milizenführer Abdelmonem al-Said und seine Anhänger, hat es bislang nicht die geringsten rechtlichen Konsequenzen gegeben.

Hinter der vorübergehenden Festnahme Zeidans wird die Muslimbruderschaft vermutet, deren Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt es in den Tagen zuvor nicht gelungen war, im Volkskongreß einen Mißtrauensantrag gegen den Premierminister durchzubringen. Angesichts der Entwicklung in Ägypten, wo Anfang Juli das Militär den gewählten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi per Staatsstreich abgesetzt hat, steht die Muslimbruderschaft in Libyen dem Vorhaben Zeidans, wieder einen starken staatlichen Sicherheitsapparat zu schaffen, um die Milizen endlich in ihre Schranken zu weisen, ablehnend gegenüber. Doch eine Fortsetzung der instabilen Lage dürfte unweigerlich zur Verstärkung der Auflösungstendenzen führen. Noch vor der Ausrufung des östlichen Autonomiegebiets Barka hatten Milizionäre bereits im September die südliche Provinz Fezzan für unabhängig erklärt. Um das Gewaltmonopol des Zentralstaats wieder durchzusetzen, hat Zeidan vor kurzem die NATO dringend um Hilfe gebeten. Aus Angst, in den sich abzeichnenden Bürgerkrieg in Libyen hineingezogen zu werden, haben sich die NATO-Verantwortlichen in Brüssel bislang lediglich bereit erklärt, Berater aber keine Militärausbilder nach Tripolis zu schicken.

26. Oktober 2013