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NAHOST/1322: Iraks Kurdistan vor der staatlichen Unabhängigkeit? (SB)


Iraks Kurdistan vor der staatlichen Unabhängigkeit?

Kurden im Irak wenden sich immer mehr von Bagdad ab



Der Auftakt der neuen Legislaturperiode des Parlaments in Bagdad, dessen Abgeordnete am 30. April gewählt worden waren, hat am 1. Juli nicht gerade zum Erhalt des durch Bürgerkrieg erschütterten Staates Irak beigetragen. Das Gegenteil ist der Fall. Die tumultartigen Szenen in der Abgeordnetenkammer spiegelten die aufgeladene Atmosphäre im ganzen Land angesichts der aktuellen Offensive sunnitischer Aufständischer wider. Die Feindseligkeit nicht weniger schiitischer Volksvertreter gegenüber ihren kurdischen Kollegen dürfte, was das Streben der autonomen Region Kurdistan im Norden Iraks in Richtung Unabhängigkeit betrifft, jener Tropfen gewesen sein, der das Faß zum Überlaufen brachte.

Als wichtigste Aufgabe an diesem Tag galt die Wahl eines Premierministers, der den Irak aus der momentanen politischen und militärischen Krise führen sollte. Nuri Al Maliki, der seit 2006 Premierminister ist und seit mehreren Jahren auch die Ressorts für Inneres und Verteidigung leitet, wird für die Krise verantwortlich gemacht. In der Zeit hat es der schiitische Politiker versäumt, auf die Sunniten und Kurden zuzugehen und sie in den neuen Staat der Nach-Saddam-Hussein-Ära einzubinden. Vielmehr hat er die Sunniten diskriminiert, ihre Politiker verfolgt, die Reihen der Armee und Polizei mit eigenen Glaubensgenossen gefüllt und sich einen niemals endenden Streit mit den Kurden über die Aufteilung der Einnahmen aus dem Ölexport geliefert.

Die Leichtigkeit, mit der vor drei Wochen die Kämpfer der sunnitischen Salafistengruppe ISIS und deren Verbündete die zweitgrößte irakische Stadt Mossul eroberten und die staatlichen Streitkräfte in die Flucht schlugen, hat Malikis Ansehen zerstört. Selbst die iranische Führung in Teheran und der höchste schiitische Geistliche des Iraks, Großajatollah Ali Al Sistani, gehen inzwischen auf Distanz zu ihm. Angesichts der heftigen Kämpfe im Irak - im Juni ist die Zahl der gewaltsamen Todesfälle laut den Vereinten Nationen von 799 im Mai auf 2661 hochgeschnellt und hat damit den höchsten Stand seit 2008 erreicht - haben viele Akteure im In- und Ausland zur Bildung einer Notstandsregierung aufgerufen, in der Sunniten, Schiiten und Kurden vertreten sind, dafür aber Maliki nichts mehr zu suchen hat. Wegen der Dringlichkeit der katastrophalen Situation hat Al Sistani sogar gefordert, die Bildung einer neuen Regierung gleich bei der Eröffnung des neuen Parlaments in die Wege zu leiten.

Die Wirklichkeit an diesem Tag sah anders aus. Gemäß der Verfassung sollten nacheinander Parlamentssprecher, Präsident und Premierminister gewählt werden, die jeweils Sunnit, Kurde und Schiit sein müssen. Offenbar waren sich jedoch die politischen Parteien der jeweiligen Volksgruppen unter sich nicht einig, wen sie jeweils für das ihnen zustehende Amt aufstellen wollten. Als nach nur einer halben Stunde die kurdische Abgeordnete Nadschiba Naschib das Wort ergriff und sich darüber beschwerte, daß die Staatsbeamten im kurdischen Autonomiegebiet seit sechs Monaten ihre Gehälter von Bagdad nicht ausgezahlt bekommen, wurde sie von männlichen Abgeordneten aus dem schiitischen Wahlbündnis Rechtsstaatsallianz, in dem Al Malikis Islamische Dawa-Partei die stärkste Gruppierung darstellt, wüst beschimpft.

Das Ganze artete schnell in eine Kakophonie gegenseitiger Drohungen aus, weswegen der geschäftsführende Parlamentssprecher, Mehdi Al Hafidh, eine Pause anordnete, damit sich die Gemüter wieder beruhigen konnten. Waren wegen der generell unsicheren Lage ursprünglich lediglich 255 der 328 Abgeordneten zu der Sitzung erschienen, tauchten nach der Pause am Nachmittag nur noch 60 wieder auf. Damit gab es kein Quorum - mindestens Zweidrittel der Abgeordneten sind dafür erforderlich - mehr. Die Sitzung wurde um eine Woche auf den 8. Juni verschoben.

Die Chancen auf politischen Fortschritt im Bagdader Parlament sind nach dieser katastrophalen Vorstellung extrem gering geworden. Ex-Premierminister Ijad Allawi vom Wahlbündnis Al Watanija hat wegen der ständigen Eigenmächtigkeiten Al Malikis die Sunniten zum Boykott aufgerufen. Die Abgeordneten der Kurden fühlen sich nach den jüngsten Verbalattacken ihrer schiitischen Parlamentskollegen ihres Lebens in der Grünen Zone in Bagdad nicht mehr sicher und lehnen eine Rückkehr bis auf weiteres ab. Für Al Maliki dürften sich die jüngsten politischen Ereignisse als Pyrrhussieg erweisen: Er behält zwar als geschäftsführender Premierminister seine Macht, aber nur noch in einem schiitischen Rumpfstaat, während die sunnitischen Aufständischen die Mitte des Iraks kontrollieren und der kurdische Norden zunehmend in Richtung Unabhängigkeit abdriftet.

Im Westen sprechen sich immer mehr Kommentatoren und Politiker für die staatliche Souveränität des irakischen Teils des kurdischen Siedlungsraums aus. In Israel, das Ende Juni die erste Öllieferung per Schiff aus Kurdistan erhalten hat, und in der Türkei, über dessen Boden die Ölpipelines laufen und die sich zunehmend als Schutzmacht Nordiraks geriert, stößt die Idee auf großen Zuspruch. Nach der Erstürmung Mossuls durch sunnitische Aufständische am 10. Juni haben kurdische Peschmergas die Kontrolle über die Stadt Kirkuk, die im Zentrum der wichtigsten Ölfelder Nordiraks steht, übernommen. Unter Saddam Hussein war Kirkuk verwaltungstechnisch den Kurden entrissen und durch die Ansiedlung zahlreicher Araber ethnisch umstrukturiert worden. Nach dem angloamerikanischen Einmarsch 2003 kehrten viele Kurden nach Kirkuk und in die umliegende Region zurück. 2007 sollte eine Volksabstimmung über die Frage entscheiden, ob Kirkuk und weitere einst kurdische Teile der Provinzen Diyala, Salah ad Din und Nineweh der Autonomen Region Kurdistan zugeschlagen werden. Doch die Abstimmung wurde immer wieder verschoben, nicht zuletzt deshalb, weil Al Maliki die vereinbarten Vorkehrungen - Volkszählung, Entarabisierung usw. - verweigerte.

Die Blockadehaltung Al Malikis hat Kurdenchef Massud Barsani dazu veranlaßt, am 29. Juni die Durchführung der Volksbefragung mit Hilfe der Vereinten Nationen anzukündigen. Darüber hinaus droht Barsani damit, Kurdistan völlig aus dem irakischen Staatsgebilde herauszulösen, sollte die Zentralregierung in Bagdad kein Entgegenkommen zeigen. Um den für Sunniten und Kurden unerträglichen politischen Stillstand zu beenden, hat sich Barsani schließlich schriftlich an Großajatollah Sistani mit der Bitte gewandt, dafür zu sorgen, daß Al Maliki als Premierminister abgesetzt wird. Dies meldete am 2. Juli die kurdische Nachrichtenagentur Rudaw. Ungeachtet seines schwindenden Einflusses hat Al Maliki Barsani vor der Durchführung einer Volksabstimmung in den von Kurden beanspruchten Gebieten gewarnt und seinerseits mit Gegenmaßnahmen gedroht. Wie Al Maliki den Kurden jedoch die Handschellen anlegen will, während er Bagdad gegen die Einnahme durch die ISIS-Armee verteidigen muß, ist ein Rätsel. Es scheint, als wollte der Dawa-Politiker nicht einsehen, wie prekär seine eigene Position ist.

2. Juli 2014