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NAHOST/1398: Am anhaltenden Bürgerkrieg geht der Irak zugrunde (SB)


Am anhaltenden Bürgerkrieg geht der Irak zugrunde

Im Irak nehmen die ethnischen und religiösen Spaltungstendenzen zu


Im Irak spitzt sich der Bürgerkrieg zu. Nach Angaben von Margaret Griffis, die seit Jahren das laufende Kriegsgeschehen im Irak verfolgt und jeden Tag bei antiwar.com die Vorkommnisse der vergangenen 24 Stunden auflistet, sind im April mindestens 4.811 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Infolge des Vormarsches der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) im vergangenen Jahr und der laufenden Gegenoffensive der staatlichen Streitkräfte, die von der US-Luftwaffe und schiitischen Milizen unterstützt werden, sind mehr als zwei Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen geworden. Am 30. April hat deshalb Jean-Louis de Brouwer, der Leiter der humanitären Hilfsmission der Europäischen Union im Irak, zu verstärkten Spenden aufgerufen. "Die Situation verschärft sich ... Das Schlimmste kommt noch", so die pessimistische Einschätzung de Brouwers. Kaum, daß der belgische Diplomat seine alarmierenden Worte ausgesprochen hatte, rissen in Bagdad und der vierzig Kilometer südlich davon liegenden Stadt Al-Mada'in mehrere Autobomben 21 Menschen in den Tod und ließen weitere 65 schwer verletzt zurück. Zu den Anschlägen bekannte sich der IS.

Nach wochenlangen heftigen Kämpfen gelang es den Truppen der Zentralregierung um Premierminister Haider Al Abadi Ende März die IS-Dschihadisten aus der Stadt Tigrit, die 160 Kilometer nördlich von Bagdad liegt, zu vertreiben. Doch bis heute gleicht der Heimatort Saddam Husseins einer Geisterstadt. Dies ist nicht allein auf die schweren Schäden an der Bausubstanz und Infrastruktur zurückzuführen. Viele Flüchtlinge aus der hauptsächlich von Sunniten bewohnten Stadt haben Angst vor den schiitischen Milizionären und kehren deshalb vorerst nicht dorthin zurück. Nach der Einnahme Tigrits war es zu blutigen Vergeltungsmaßnahmen an männlichen Sunniten im wehrfähigen Alter gekommen, welche die schiitischen Kämpfer verdächtigten, während der Besatzung mit dem IS kollaboriert zu haben.

Die irakische Armee hat sich seit ihrem spektakulären Zusammenbruch im vergangenen Sommer, als der IS Mossul, die mit zwei Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt des Zweistromlandes, eroberte, nicht mehr erholt. In den US-Medien berichten amerikanische Militärs, die Präsident Barack Obama im letzten Herbst zu Beratungs- und Ausbildungszwecken in den Irak schickte, einhellig vom desolaten Zustand der irakischen Streitkräfte. Einzig die einige tausend Mann starken Spezialstreitkräfte gelten noch als zuverlässig. Als die irakische Armee nach der Einnahme von Tigrit im April zur Rückeroberung von Ramadi, Hauptstadt der sunnitisch dominierten Provinz Anbar, ansetzte, geriet sie dermaßen in Schwierigkeiten, daß sich Abadi entgegen früherer Überlegungen gezwungen sah, die schiitischen Milizen zur Unterstützung hinzuziehen.

Wie sich der Einsatz der schiitischen Kampfformationen in Anbar auswirkt, muß sich noch zeigen. Auch wenn sich die Anführer dieser Gruppen irakisch-patriotisch geben, besteht die große Gefahr, daß die einfachen Mitglieder in Reaktion auf blutige IS-Anschläge ihre Wut an der sunnitischen Zivilbevölkerung auslassen. Das würde den Irak vollends in den schiitisch-sunnitischen Konfessionskrieg zurückkatapultieren, der zwischen 2006 und 2008 mit ungeheurer Kraft wütete. An einer solchen Entwicklung dürfte vor allem der IS, der bereits letztes Jahr die Staatsgrenzen des Nahen Ostens à la Sykes/Picot für überholt und deshalb nichtig erklärt hat, Interesse haben. Nachrichten, denen zufolge der IS vor wenigen Tagen mindestens 70 der mehr als 1.000 Jesiden, die die Gruppe auf einem ehemaligen Militärstützpunkt bei Tal Afar, der 50 Kilometer westlich von Mossul in der Provinz Ninawa liegt, aus bisher unbekannten Gründen einfach hingerichtet hat, läßt tatsächlich das Schlimmste befürchten.

Während in und um Ramadi die Kämpfe weiter toben, haben IS-Freiwillige in den letzten Tagen unter anderem durch den Einsatz von motorisierten Selbstmordattentätern, die mit Sprengstoff beladene Panzerfahrzeuge zur Explosion brachten, weite Teile des Geländes der größten irakischen Ölraffinerie bei Baidschi besetzt. Dort sind nun mehrere Dutzend Soldaten von den Angreifern eingekesselt und müssen aus der Luft versorgt werden. Am 5. April hat das Oberkommando der irakischen Streitkräfte Verstärkung nach Baidschi entsandt, um den bedrängten Armeeangehörigen zu helfen, während die US-Luftwaffe dort acht Angriffe auf IS-Positionen flog. Baidschi ist nicht nur wegen der Raffinerie wichtig. Die Stadt liegt auf halber Strecke an der wichtigsten Straßenverbindung zwischen Bagdad und Mossul. Um die geplante Rückeroberung von Mossul irgendwann einmal durchführen zu können, muß die Zentralregierung sie unter ihre Kontrolle bringen.

Unterdessen hat ein Vorstoß des US-Kongresses, an Bagdad vorbei die Sunniten und Kurden des Iraks mit Waffen und Munition zu versorgen, in der irakischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst und zugleich die ohnehin vorhandenen Zentrifugalkräfte, die den Einheitsstaat zu sprengen drohen, zusätzlich verstärkt. Der umstrittene Gesetzentwurf ist auf Betreiben der republikanischen Mehrheit vom Verteidigungsausschuß des Repräsentantenhauses ausgearbeitet worden. Um die Rüstungsgüter direkt an die irakischen Sunniten und Kurden ausliefern zu können, müßte der US-Kongreß zunächst aber die Siedlungsgebiete beider Volksgruppen als eigenständige Staaten anerkennen. Dies sieht der Gesetzentwurf entsprechend vor.

Auch wenn das Weiße Haus das Vorhaben kritisiert und Obama damit gedroht hat, gegebenenfalls sein Veto dagegen einzulegen, hat die Provokation der oppositionellen US-Republikaner die gewünschte Wirkung im Irak erzielt. Der sogenannte "Radikalprediger" Muktada Al Sadr hat damit gedroht, seine schiitische Mahdi-Armee wiederzubeleben und sie zu Angriffen auf sämtliche US-Ziele im Irak aufzurufen. In der irakischen Presse wird daran erinnert, daß US-Vizepräsident Joe Biden 2006, als er noch Senator war, die Verwandlung des Iraks in einen Bundesstaat, bestehend jeweils aus weitgehend autonomen kurdischen, sunnitischen und schiitischen Regionen, befürwortet hatte. In der kurdischen Autonomieregion sieht man in der aufgekommenen Diskussion die Richtigkeit des eigenen Unabhängigkeitsstrebens bestätigt. Unmittelbar nach einem Treffen am 6. Mai mit Obama im Weißen Haus erklärte Massud Barsani, Präsident der kurdischen Autonomieregierung, die Unabhängigkeit des irakischen Kurdistans sei nur noch eine Frage der Zeit.

Einen Tag zuvor, bei einer aufsehenerregenden Pressekonferenz am 5. Mai in der heiligen Stadt Nadschaf, hatte Qais Khalazi, der Chef einer der mächtigsten schiitischen Milizen, der Asaib Ahl Al Hak, die USA, den Iran, die Türkei, Saudi-Arabien und Katar bezichtigt, auf die Auflösung des irakischen Staates hinzuarbeiten. In diesem Zusammenhang sprach er laut der kurdischen Nachrichtenagentur Rudaw vom IS als "Instrument" fremder Mächte, "um die Geopolitik des Nahen Ostens neu zu ordnen". Khalazi, der 2007, während der US-Besatzung, wegen des Verdachts der Teilnahme am Aufstand in Camp Cropper vorübergehend gefangen gehalten wurde, behauptet einerseits, "die Mehrheit der irakischen Sunniten" stünden "zu einem einheitlichen Irak", erklärt andererseits, seine Kämpfer würden sich "einer kurdischen Unabhängigkeit" nicht in den Weg stellen.

7. Mai 2015


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