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NAHOST/1442: Syrienkrieg - wie weit geht Recep Tayyip Erdogan? (SB)


Syrienkrieg - wie weit geht Recep Tayyip Erdogan?

Ankara und Moskau auf brandgefährlichem Kollisionskurs


In Syrien droht sich der seit fünf Jahren andauernde Stellvertreterkonflikt in einenoffenen Krieg zwischen mehreren Großmächten zu wandeln. Akut ist die Gefahr einer direkten Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften Rußlands und der Türkei. Mit der Hilfe der russischen Luftwaffe - wie übrigens auch iranischer Militärberater, der libanesischen Hisb Allah sowie schiitischer Milizionäre aus dem Irak - hat seit September vergangenen Jahres die Syrische Arabische Armee (SAA) den Kriegsverlauf zu ihren Gunsten gewendet. Die Träume des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vom gewaltsamen Sturz des syrischen Amtskollegen Baschar Al Assad sind geplatzt. Schlimmer noch, dank russischer und amerikanischer Unterstützung sind die syrischen Kurden in Form der Miliz YPG dabei, die gesamte Region südlich der türkischen Grenze zu Syrien unter ihre Kontrolle zu bringen und damit die nördlichen Nachschubwege für die verschiedenen sunnitischen Dschihadistengruppen wie Ahrar Al Scham, Al-Nusra-Front und Islamischer Staat (IS) zu kappen.

In der Vergangenheit hat Erdogan mehrmals erklärt, die Türkei würde nie die Entstehung eines eigenständigen kurdischen Staats auf syrischem Territorium zulassen. Der Chef der in Ankara regierenden AK-Partei hat auch mehrmals mit einem Einmarsch türkischer Streitkräfte für den Fall gedroht, daß die YPG von ihrer Hochburg Rojave im Nordosten Syriens auf das Westufer des Euphrat übersetzt. Doch gerade das haben YPG-Verbände vor kurzem getan, um vom Osten her die aktuelle Offensive der SAA zur Rückeroberung der einstigen Wirtschaftsmetropole Aleppo zu unterstützen. Deswegen beschießt seit Tagen die türkische Artillerie das Gebiet der syrischen Kurden. Unbestätigten Berichten zufolge sollen sich türkische Spezialstreitkräfte bereits unter den Rebellen in der grenznahen Stadt Azaz befinden. Für den Fall, daß Aleppo demnächst gänzlich von der SAA eingenommen wird, wollen die Türken offenbar mit Azaz immer noch einen Brückenkopf im Nordwesten Syriens behalten.

Erdogan schmiedet mit den arabischen Staaten am Persischen Golf eine schon länger vom US-Kriegsfalken John McCain geforderte, regionale Militärallianz, deren Truppen unter dem Vorwand der "Terrorbekämpfung" demnächst versucht sein könnten, das derzeit vom IS beherrschte Gebiet im Osten Syriens und im Nordwesten des Iraks zu erobern. Zu diesem Zweck hat Saudi-Arabien bereits Spezialstreitkräfte und Kampfjets auf den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik verlegt. Zur Teilnahme an einer von der Türkei angeführten Bodenoperation haben sich die Saudis sowie die Regierungen in Bahrain, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten bereit erklärt. Wegen der Flüchtlingskrise hat Erdogan die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sogar dazu gebracht, sich für die Errichtung einer "Flugverbotszone" zwischen Aleppo und der türkischen Grenze auszusprechen. Für dasselbe Ansinnen setzt sich derzeit im US-Wahlkampf Hillary Clinton ein.

Auch wenn Erdogan durch den Bombenanschlag, der am 17. Februar in Ankara 28 Menschen, darunter 26 Militärangehörige, das Leben kostete, den perfekten Vorwand für ein militärisches Eingreifen der Türkei in den Syrienkrieg hat, sollte er sich diesen Schritt wirklich gut überlegen. Von der Kriegstreiberei McCains und Clintons abgesehen, löst innerhalb der NATO die Vorstellung, die Türkei könnte die nordatlantische Allianz in einen Krieg mit Rußland stürzen, wenig Begeisterung aus. In einem Bericht, der am 19. Februar bei Spiegel Online erschienen ist, erklärte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, der Beistandspakt gelte nur dann, wenn ein NATO-Staat "in eindeutiger Weise angegriffen wird". Die nordatlantische Allianz dürfe sich nicht von der Türkei in "militärische Eskalationen mit Rußland hineinziehen lassen", so Asselborn. Dessen Ermahnungen wurden mit ähnlichen Worten am selben Tag vom französischen Präsidenten François Hollande und dem norwegischen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigt.

Die Ängste der übrigen NATO-Partner vor der Unberechenbarkeit Erdogans sind begründet. Letztes Jahr hat die AK-Regierung den scheinbar längst beigelegten Konflikt mit der PKK wieder vom Zaun gebrochen, einfach weil sie ihre Niederlage bei der Parlamentswahl im Juni nicht akzeptieren wollte. Seitdem herrscht wieder Krieg in Südostanatolien. Im kurdischen Siedlungsgebiet nahe der Grenze zu Syrien und dem Irak gehen die türkischen Sicherheitskräften mit äußerster Brutalität vor. Dank der von ihr verschärften ethnisch-politischen Spannungen gelang es der AKP, bei Neuwahlen im November die verlorengegangene absolute Mehrheit zurückzuerlangen. In Erdogans neo-osmanischem Reich gilt die Presse- und Meinungsfreiheit längst nicht mehr, wofür die juristische Verfolgung der Journalisten, welche die enge Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Geheimdienst und den militanten Salafisten in Syrien publik machten, der beste Beleg ist.

Die USA lehnen ein Vorgehen des türkischen Militärs gegen die YPG nicht zuletzt deshalb ab, weil US-Spezialstreitkräfte als Berater und Ausbilder mit der syrischen Kurdenmiliz im Kampfgebiet unterwegs sind. Dies gab am 18. Februar der Pentagon-Sprecher Peter Cook bekannt, als er erklärte, die USA habe dem russischen Militär die Position ihrer Elitesoldaten in Syrien durchgegeben, damit Moskaus Kampfjets keine Luftangriffe in deren unmittelbarer Nähe durchführten. Moskau halte sich bisher an den Abmachungen zum gegenseitigen Schutz amerikanischer und russischer Militärangehöriger in Syrien, so Cook. Darüber hinaus macht man sich in Washington über die von einem russisch-türkischen Krieg ausgehende Eskalationsgefahr nichts vor. In diesem Zusammenhang schriebt der angesehene US-Investigativjournalist Robert Parry am 18. Februar auf seiner Website Consortiumnews.com folgende beunruhigende Sätze:

"Eine Quelle, die dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nahesteht, berichtete mir, die Russen hätten den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gewarnt, daß Moskau, falls nötig, bereit ist, taktische Atomwaffen zum Schutz seiner Truppen vor einem türkisch-saudischen Angriff einzusetzen. Da die Türkei NATO-Mitglied ist, könnte ein solcher Konflikt schnell in eine richtiggehende Nuklearkonfrontation [zwischen Rußland und den USA - Anm. d. SB-Red.] ausarten."

20. Februar 2016


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