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NAHOST/1475: Jemen - Zahl der Kriegstoten erreicht 10.000 (SB)


Jemen - Zahl der Kriegstoten erreicht 10.000

Militärintervention im Jemen wird für Saudi-Arabien zum Desaster


Mindestens 10.000 Menschen sind dem 18monatigen Krieg im Jemen zum Opfer gefallen. Dies gab am 30. August auf einer Pressekonferenz in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa der UN-Koordinator für humanitäre Hilfsmaßnahmen bekannt. Laut Jamie McGoldrick habe der Konflikt drei Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. 14 der 26 Millionen Jemeniten seien zum Überleben auf Lebensmittelhilfe des Auslands angewiesen, während 7 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen seien. McGoldrick nannte die Situation im Armenhaus Arabiens "tragisch".

Die Hauptverantwortung für Blutvergießen und Zerstörung im Jemen trägt Saudi-Arabien. Zwei Monate nach der Inthronisierung von König Salman hat im März 2015 dessen damals 29jähriger Sohn und Wunschnachfolger Kronprinz Mohammed als neuer Verteidigungsminister militärisch in den innenpolitischen Konflikt im Jemen eingegriffen. Mit der Unterstützung Ägyptens, Jordaniens und der anderen sunnitischen Monarchien am Persischen Golf sollte die Operation Entschlossener Sturm nach innen und außen zu einer eindrucksvollen Demonstration der Macht des Hauses Saud werden. Statt dessen wurde die Invasion zum Fiasko. Trotz rüstungstechnologischer Überlegenheit gelingt es der von den saudischen Streitkräften angeführten Koalition nicht, die schiitischen Huthi-Rebellen, die Ende 2014, Anfang 2015 Sanaa eingenommen und das Kabinett unter Hausarrest gestellt hatten, in die Knie zu zwingen. Die Anhänger des gestürzten Interimspräsidenten Abd Rabbu Mansur Hadi haben die strategisch wichtige Hafenstadt Aden am Indischen Ozean zur provisorischen Hauptstadt erklärt. Seit der Flucht aus Sanaa hält sich Hadi selbst "aus Sicherheitsgründen" im Exil in Riad auf.

Zu den Gründen, warum die ausländischen Invasoren nicht einfach durchmarschiert sind, gehören die mangelnden soldatischen Fähigkeiten der Saudis und ihrer Verbündeten vom Persischen Golf, die Widerstandskraft der Huthi-Rebellen und die schwierigen topographischen Bedingungen. Doch der wichtigste Grund von allen ist die Entscheidung des früheren langjährigen Präsidenten des Jemens, Ali Abdullah Saleh, sich auf die Seite der Huthis zu schlagen. Als Saleh Anfang 2012 im Zuge des "Arabischen Frühlings" von den USA und Saudi-Arabien zum Rücktritt zugunsten Hadis gezwungen wurde, war der Militärapparat von seinen Anhängern und den Angehörigen seines Klans durchsetzt. Sie haben personell alle Ränge bei den Streitkräften dominiert. Salehs Sohn Ahmed Saleh war Kommandeur der 80.000 Mann starken Republikanischen Garde. Als der innenpolitische Konflikt eskalierte, sich die Saleh-Leute gegen Hadi stellten und quasi zu den Huthis überliefen, nahmen sie den allergrößten Teil der Waffen und Munition der Armee mit.

Seit Monaten befindet sich der militärische Konflikt im Jemen in einer Pattsituation. Huthis und Saleh-Getreue kontrollieren den Norden einschließlich Sanaa; Hadis Leute, südliche Separatisten sowie die Truppen der saudi-geführten Allianz Aden den Süden und den Osten. Um die Stadt Taiz, die mitten auf der wichtigsten Nord-Süd-Achse zwischen Sanaa und Aden liegt, liefern sich beide Seiten seit Monaten einen erbitterten Stellungskrieg. Unfähig, am Boden nennenswerte Geländegewinne zu erzielen, terrorisieren die saudischen Luftstreitkräfte die einfache Bevölkerung in den vom Huthi-Saleh-Bündnis kontrollierten Gebieten mit Bomben- und Raketenangriffen auf zivile Wohnhäuser, Schulen, Betriebe, Krankenhäuser und Marktplätze. Die Rücksichtslosigkeit der saudischen Kampfpiloten hat Riad den Vorwurf eingebracht, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Aufgeschreckt durch die Fernsehbilder aus dem Jemen, fordern inzwischen Politiker im Washingtoner Kongreß eine Aussetzung des US-Waffennachschubs für die saudische Armee.

Vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung profitieren die sunnitischen "Terrornetzwerke" Al Kaida auf der arabischen Insel (AQAP) und Islamischer Staat (IS). Bei einem Selbstmordanschlag mit einer Autobombe hat am 29. August in Aden ein IS-Freiwilliger mindestens 71 Menschen, die meisten von ihnen junge Männer, die sich vor einem Rekrutierungsbüro der Hadi-Armee versammelt hatten, in den Tod und ließ mindestens 60 weitere schwer verletzt zurück.

Anfang August waren monatelange Friedensverhandlungen in Kuwait gescheitert. Die Huthi-Saleh-Delegation lehnte den vom mauretanischen UN-Sondervermittler Ismail Ould Cheikh Ahmed vorgelegten Friedensplan als Kapitulation ihrerseits ab (Der Entwurf sah vor, daß Huthis und Saleh-Leute alle schwere Waffen abgeben und sich aus allen Gebieten, die sie seit Ende 2014 kontrollieren, zurückziehen müssen, bevor es zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit kommen kann). Statt dessen hat die Ansarullah-Bewegung der Huthis mit der mächtigen politischen Partei Salehs, dem Allgemeinen Volkskongreß, eine eigene provisorische Regierung gebildet, die aus zehn Personen besteht und von beiden Seiten paritätisch besetzt wird. Am 29. August hat der Chef des neuen Hohen Politischen Rates in Sanaa, Saleh Al Sammad, die Bereitschaft der Hadi-Gegner zu einer Friedenslösung verkündet, gleichzeitig die Forderung gestellt, daß sie nicht einseitig ausfallen dürfte.

Je länger der Krieg im Jemen anhält, desto mehr wächst er zu einer Gefahr für den Erhalt Saudi-Arabiens - und daß nicht nur, weil die kostspielige Intervention den durch niedrige Ölpreise gebeutelten Staatshaushalt Riads schwer belastet. Immer wieder greifen die Huthis von Nordjemen aus Militärstützpunkte und Ortschaften im saudischen Südwesten mit Raketen an und wagen gelegentliche Vorstöße über die Staatsgrenze hinweg. Gelänge es ihnen, die schiitische Mehrheit in Saudi-Arabien aufzuwiegeln, wäre das für Riad ein gigantisches Problem. Am Rande des Besuchs einer Huthi-Delegation zu politischen Gesprächen in der irakischen Hauptstadt Bagdad hat am 29. August Abu Azrael, der populäre Kommandeur der schiitischen Imam-Ali-Brigade bei der aktuellen Militäroffensive gegen IS vor laufender Kamera erklärt: "Wir kommen für euch Saudis, vom Jemen her. Wo wollt ihr hinflüchten? Wir werden euch zu Staub zermahlen."

Währenddessen sieht man im Iran mit einer gewissen Zufriedenheit zu, wie der Erzfeind Saudi-Arabien in der kargen jemenitischen Einöde versinkt. Bis heute begründet Riad die Intervention im Nachbarland mit der angeblichen Notwendigkeit, iranischen Umtrieben auf der Arabischen Halbinsel Einhalt zu gebieten. Teheran bestreitet, die Huthis finanziell oder militärisch zu unterstützen. Riad hat immer noch keinen Beweis für die These vorgelegt, die Huthis seien der verlängerte Arm des schiitischen "Mullah-Regimes". In einem Artikel der Online-Zeitung Middle East Eye vom 30. August zitierte Journalist Jonathan Steele Heshmatollah Falahatpisheh, ein konservatives Mitglied des außen- und sicherheitspolitischen Ausschusses des iranischen Parlaments, mit der treffenden Aussage: "Saudi-Arabien ist ein wichtiges Land in der islamischen Welt. Doch meiner Meinung nach begehen sie derzeit außenpolitischen Selbstmord."

31. August 2016


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