Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1495: Ägypten in der Krise - Bald Hungerrevolte am Nil? (SB)


Ägypten in der Krise - Bald Hungerrevolte am Nil?

Lebensmittelknappheit und Wirtschaftsreformen lösen Widerstand aus


In Ägypten verschärft sich die gesellschaftliche Krise zusehends. Fünfeinhalb Jahre nach dem durch Massenproteste erzwungenen Rücktritt Hosni Mubaraks und etwas mehr als drei Jahre nach dem Militärputsch gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten, Mohammed Mursi von der Moslembruderschaft, befindet sich die Wirtschaft des mit 87 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Lands der arabischen Welt weiterhin auf Talfahrt. Die Regierung um Diktator General Abdel Fattah Al Sisi hat sich bislang trotz des Baus einer zweiten Fahrrinne für den Suezkanal als unfähig erwiesen, den ökonomischen Aufschwung und die Stabilität, welche sie beim blutigen Sturz Mursis versprochen hatte, herbeizuführen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit seinem jüngsten Fehltritt hat Kairo die Saudis mächtig verärgert und dies ungeachtet der Tatsache, daß seit drei Jahren Riads Finanzhilfe Ägypten praktisch über Wasser hält. Seit einiger Zeit mischen sich Ägypter unter die Wirtschaftsmigranten und politischen Flüchtlinge, die per Boot von Nordafrika nach Europa zu gelangen versuchen. Verbessern sich die Verhältnisse am Nil nicht bald, dürfte die Fluchtbewegung aus Ägypten erheblich zunehmen.

Derzeit verhandelt die Sisi-Regierung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über die Gewährung eines 12 Millionen Dollar schweren Kredits. Dafür soll Kairo eine Reihe von "Reformen", darunter die Privatisierung staatlicher Betriebe, die Reduzierung der Steuerlast für Unternehmen sowie die allmähliche Streichung aller staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmitteln, durchführen. Insbesondere die letztgenannte Auflage dürfte die vielen Armen schwer treffen und deshalb Massenproteste auslösen.

Vor dem Hintergrund der schleichenden Umsetzung der Reformen sind Hamsterkäufe im vollem Gange. Ende Oktober haben Regierungsbeamte vom Ministerium für öffentliche Versorgung rund 9000 Tonnen Zucker bei den Lebensmittelherstellern Pepsi und Edita beschlagnahmt, um den Süßstoff in Kairo und Alexandria auf den unterversorgten Markt zu bringen. Am 1. November hat die Armee begonnen, 8 Millionen Portionen Grundnahrungsmittel an Arme zu verteilen bzw. zum halben Preis zu verkaufen. Jede Kiste, in der sich eine Familienportion Pasta, Reis, Zucker und Speisefett befindet, trägt die Aufschrift "Lang lebe Ägypten", als könnte der Patriotismus helfen, die Notleidenden über ihre erbärmliche Lebenssituation hinwegzutäuschen.

Am 3. November hat die Zentralbank in Kairo in Absprache mit dem IWF in Washington das ägyptische Pfund um 40 Prozent abgewertet, sich vom bisher festen Wechselverhältnis verabschiedet und den Kurs der Landeswährung den internationalen Finanzmärkten überlassen. Dies wird ägyptische Exporte billiger und Ägypten für ausländische Touristen attraktiver machen, jedoch die Preise für Importe in die Höhe schießen lassen. Das Problem der Lebensmittelknappheit bzw. der steigenden Preise für Grundnahrungsmittel und ausländische Medikamente wird sich weiter verschärfen. Die Entwertung des ägyptischen Pfunds könnte auch zu einer schweren Inflation führen, welche die Bankguthaben einfacher Bürger auffrißt. Wegen zunehmender Not und Verzweiflung hat die bisher unbekannte Bewegung Ghalaba (Bewegung der Ausgestoßenen) auf Facebook zu landesweiten Protesten am 11. November aufgerufen. Auch wenn die Sisi-Diktatur die kommenden Demonstrationen, hinter denen sie "ausländische Kräfte" vermutet, mit harter Hand niederschlagen sollte, könnte man es hier mit den Vorläufern einer Entwicklung zu tun haben, die mittelfristig der Kontrolle jeglicher Militärgewalt entgleitet.

Wie sich die Generäle in Kairo angesichts dieses beunruhigenden Panoramas einen Zwist mit ihrem bisherigen finanziellen Lebensretter Saudi-Arabien leisten können, ist ein Rätsel. Offenbar gehen Sisi und Konsorten davon aus, daß Ägypten zu wichtig ist, als daß Saudi-Arabien es jemals wagen würde, das Land am Nil dem wirtschaftlichen Kollaps zu überlassen. Sie könnten sich täuschen. In Riad ist man seit Monaten darüber verärgert, daß sich das mehrheitlich sunnitische Ägypten nicht stärker an der Militärintervention zur Niederschlagung des schiitischen Huthi-Aufstands im Jemen beteiligt hat. Ägypten verfügt über die größten Landstreitkräfte der arabischen Welt, nimmt aber an der seit März 2015 laufenden Jemen-Operation lediglich mit einigen Kriegsschiffen teil. Deshalb ist Kairo aus Sicht Riads dafür mitverantwortlich, daß die Bodentruppen Saudi-Arabiens und dessen Verbündeten vom Persischen Golf im Jemen seit über einem Jahr quasi im Sand steckenbeiben und den erwünschten Erfolg auf dem Schlachtfeld nicht einfahren können.

Statt sich an Saudi-Arabiens Jemen-Feldzug gegen die pro-iranischen Huthis zu beteiligen, nähert sich Ägypten Rußland an. Kairo und Moskau verhandeln über die Stationierung russischer Streitkräfte an der ägyptischen Mittelmeerküste. Ihre beiden Armeen haben in den letzten Monaten gemeinsam Manöver durchgeführt. Gleichzeitig unterstützt Ägypten diplomatisch das militärische Eingreifen Rußlands in den Krieg in Syrien, wo sich die Streitkräfte Bashar Al Assads seit fünf Jahren mit einer wesentlich von Saudi-Arabien, Katar, der Türkei und den USA unterstützten Rebellion sunnitischer Dschihadisten konfrontiert sehen. Bei den internationalen Verhandlungen Ende Oktober in Lausanne über einen Ausweg aus der Syrienkrise hatte der Iran auf eine Teilnahme Ägyptens - sozusagen als Gegengewicht zu den sunnitischen Förderstaaten der Gotteskrieger - erfolgreich beharrt.

Für Riad war es vor allem die Entscheidung Kairos, Anfang Oktober im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Syrien-Resolution Rußlands zu unterstützen, die das Faß zum Überlaufen brachte. Daraufhin hat die staatliche saudische Ölgesellschaft Aramco die 2014 mit Ägypten beschlossene Lieferung von 700.000 Tonnen Öl monatlich für die nächsten fünf Jahren ohne Erklärung bis auf weiteres ausgesetzt. Dieser Aspekt des 23 Milliarden Dollar schweren Hilfspakets war besonders günstig, weil Ägypten eine Frist von 15 Jahren zur Abzahlung der Lieferung eingeräumt worden war. Nun ist der ägyptische Ölminister Tarek El Molla seit Wochen unterwegs, um Treibstoff aus anderen Quellen zu halbwegs ähnlich günstigen Bedingungen zu akquirieren. Als mögliche Lieferanten sind Rußland, Kuwait und der Irak im Gespräch. Bei einem Besuch El Mollas in Bagdad Ende Oktober wurde Ägyptens Energiekonzernen angeblich die Möglichkeit eröffnet, in die Erschließung und den Betrieb von zwölf irakischen Ölfeldern zu investieren.

Für die Entfremdung zwischen Kairo und Riad sowie die anhaltende Instabilität Ägyptens - sowie übrigens auch für das Chaos in Syrien und im Jemen - hat Nahost-Experte David Hearst in einem aufschlußreichen Artikel, der am 2. November bei der Onlinezeitung Middle East Eye unter der Überschrift "Saudi Arabia reaps what it has sowed", (Saudi-Arabien sät, was es erntet") erschienen ist, die Saudis als Hauptverantwortliche ausgemacht. Hearst berichtete von einem erstaunlichen Angebot, das Mohammed Mursi bei seinem ersten Auslandsbesuch als ägyptischer Präsident den Machthabern in Riad gemacht hatte. Der Chef der Moslembruderschaft regte an, daß die Saudis und seine Organisation ihre langjährige Feindschaft endlich begraben sollten. Mursi schlug eine regelrechte Allianz vor, derzufolge die Moslembruderschaft formal die Rolle der Saudis als Hüter der heiligen Städte Mekka und Medina anerkennen sollte, wofür Riad im Gegenzug nicht länger den gemäßigten politischen Islam bekämpfen sollte. Kairo wollte Saudi-Arabien politisch und militärisch unterstützen, während Riad Ägypten helfen sollte, finanziell und wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Nach Meinung Hearsts hätten sich viele der heutigen Probleme im Nahen Osten nicht so manifestiert, wäre die saudische Königsfamilie auf den vernünftigen Vorschlag Mursis eingegangen. Doch statt dessen haben sie Al Sisi dazu angestiftet, das Kriegsrecht zu verhängen und die junge ägyptische Demokratie zu zerschlagen.

10. November 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang