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NAHOST/1523: Deeskalationszonen kündigen Aufteilung Syriens an (SB)


Deeskalationszonen kündigen Aufteilung Syriens an

Syrische Kurden beanspruchen Recht auf Zugang zum Mittelmeer


In Syrien könnte das Abkommen, das am 4. Mai in der kasachischen Hauptstadt Astana mit Einverständnis der Regierung in Damaskus von Vertretern Rußlands, des Irans und der Türkei über die Schaffung von vier "Deeskalationszonen", in denen nicht mehr gekämpft und die Belagerung von Städten und Dörfern eingestellt werden soll, damit die Zivilbevölkerung in diesen Regionen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt werden und sich wieder frei bewegen kann, ein wichtiger Schritt zur Beendigung eines grauenvollen Krieges sein, der seit 2011 Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet und Millionen zu Flüchtlingen gemacht hat. Schließlich haben die USA einen Gesandten zu den Gesprächen nach Astana geschickt, während über das Ergebnis der Beratungen dort bei den UN-Friedensverhandlungen, deren Beginn für den 16. Mai in Genf geplant ist, diskutiert werden soll. Leider steht zu befürchten, daß die Einigung von Astana den Konfliktparteien lediglich eine Atempause vor der nächsten Eskalation verschafft. Für diese pessimistische Einschätzung sprechen zahlreiche Gründe.

Ausgenommen von der Vereinbarung von Astana sind namentlich die beiden wichtigsten sunnitischen Rebellenformationen, die Al-Nusra-Front und die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) sowie alle Gruppen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Den Waffenstillstand mit der Freien Syrischen Armee (FSA) und anderen "gemäßigten" Verbänden wollen die Syrische Arabische Armee (SAA) und die mit ihr kooperierende libanesisch-schiitische Hisb-Allah-Miliz, die russische Luftwaffe und die iranischen Revolutionsgarden nutzen, um in den vier Deeskalationszonen - die erste liegt im syrischen Norden und umfaßt die Provinz Idlib sowie angrenzende Bezirke von Hama, Aleppo und Latakia, die zweite befindet sich im Norden der Provinz Homs, die dritte ist die Ostghouta-Region östlich von Damaskus und die vierte verläuft entlang der südwestlichen Grenze zu Jordanien - endlich mit Al-Nusra und IS aufzuräumen.

Damaskus verfolgt unverkennbar die Absicht, den bevölkerungsreichen Westen Syriens, von Deraa im Süden entlang der libanesischen Grenze über die Hauptstadt und Hama bis Aleppo und die Mittelmeerprovinz Latakia im Norden zu befrieden und sich erst danach dem weitläufigen, schwer kontrollierbaren, zum Teil aus Wüste bestehenden Osten des Landes zuzuwenden. Doch da fangen schon die Probleme an. Immer wieder greift die israelische Luftwaffe in das Kriegsgeschehen ein, um zu verhindern, daß die SAA die südliche Provinz Quneitra, zu der eigentlich auch die seit 1967 von Israel besetzten Golan-Höhen gehören, zurückerobert. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat sogar mehrmals öffentlich die Kriegswirren in Syrien als Rechtfertigung angeführt, weshalb Tel Aviv die Golanhöhen niemals von den eigenen Truppen und Siedlern werde räumen lassen.

Hinzu kommen Befürchtungen, daß Israel die Kampfhandlungen im südwestlichen Syrien nutzen könnte, um gegen die Hisb-Allah-Miliz eine erneute Militäroffensive zu starten, die unter Beteiligung der USA, Großbritanniens, Jordaniens und Saudi-Arabiens in einen regelrechten Regionalkrieg gegen den Iran ausarten könnte. Seit Wochen warnen ranghohe Oppositionspolitiker in Großbritannien, daß dort die konservative Regierung von Premierministerin Theresa May den zu erwartenden Sieg bei den Unterhauswahlen am 8. Juni nutzen könnte, um das Vereinigte Königreich an der Seite der USA in einen neuen Nahost-Krieg zu stürzen. Bereits Ende April hatte Syriens Präsident Baschar Al Assad von Hinweisen auf einen bevorstehenden jordanisch-amerikanischen Einmarsch in den Süden seines Landes gesprochen. Aktuell nehmen rund 7400 hauptsächlich amerikanische, britische, jordanische und saudische Soldaten im Norden Jordaniens nahe der Grenze zu Syrien an einem Großmanöver namens "Eager Lion" teil. In den iranischen Medien wird vermutet, daß aus dem Kriegsspiel eine Aktion zur Unterstützung syrischen Rebellen bzw. zur Bekämpfung des IS in Syrien hervorgehen könnte. Schließlich hat der neue US-Präsident Donald Trump nach dem US-Luftangriff auf den SAA-Fliegerhorst Schairat bei Homs am 7. April weitere Direktinterventionen des Pentagons im Syrienkrieg in Aussicht gestellt.

Schon jetzt nehmen im syrischen Nordosten rund 1000 amerikanische Militärberater und Angehörige von Spezialstreitkräften illegal am Syrienkrieg teil. Dort leisten sie den Demokratischen Kräften Syriens (Syrian Democratic Forces - SDF) Schützenhilfe, in denen die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), eine Schwesterorganisation der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalans, mit Abstand das größte Truppenkontingent stellen. Wenn es nach dem Weißen Haus und dem US-Verteidigungsministerium geht, sollen die SDF demnächst den IS aus seiner Hochburg Rakka, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im zentralen Norden Syriens, vertreiben. Gegen den Plan läuft seit Monaten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Sturm, weil er durch die Waffenhilfe der USA die Entstehung eines neuen kurdischen Staates im syrischen Norden befürchtet, dem sich die Kurden im Südosten der Türkei und im Norden des Iraks anschließen könnten.

Erdogan dürfte sich deshalb durch einen brisanten Bericht der Londoner Sonntagszeitung Observer vom 7. Mai über die "Expansionspläne" der syrischen Kurden in seinen Befürchtungen bestätigt gefühlt haben. In dem Artikel, der die Überschrift "Syria's Kurds march on to Raqqa and the sea" wurde Hediya Yousef, Föderalismus-Beauftragter der selbsternannten "Demokratischen Föderation Nordsyrien - Rojava" dahingehend zitiert, daß die SDF nach der Einnahme von Rakka ihren Vorstoß nach Westen fortsetzen und damit nicht aufhören wollten, bis sie durch die Provinzen Idlib und Latakia hindurch eine eigene Landzunge zum Mittelmeer geschaffen hätten. "Das Mittelmeer zu erreichen ist ein Projekt für Nordsyrien. Wir haben das Recht, uns einen Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen", so Yousef. Im Observer-Bericht hieß es dazu, mit solchen Ambitionen befänden sich die syrischen Kurden auf "Kollisionskurs" mit der Türkei. Doch nicht nur für Ankara, auch für Rußland und die Regierung in Damaskus, die nach wie vor an der Einheit des syrischen Staats innerhalb seiner bisher bestehenden, völkerrechtlich anerkannten Grenzen festhält, dürften die Mittelmeerpläne der SDF vollkommen inakzeptabel sein.

9. Mai 2017


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