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NAHOST/1691: Ägypten - nicht nur Kampf auf den Straßen ... (SB)


Ägypten - nicht nur Kampf auf den Straßen ...


In Kairo geht die Polizei seit mehreren Tagen mit einer Reihe von Razzien und Festnahmen rabiat gegen Mada Masr, quasi die letzte unabhängige Onlinezeitung Ägyptens, vor. Anlaß war ein wenig schmeichelhafter Bericht Mitte November über die Entlassung eines Sohns von Diktator Abdel Fatah Al Sisi als führendes Mitglied des Geheimdiensts und seine Abkommandierung als Militärattaché an die ägyptische Botschaft in Moskau. Hintergrund des jüngsten Angriffs auf die in Ägypten seit dem Putsch der Generäle gegen den ersten freigewählten Präsidenten Mohammed Al Mursi im Sommer 2013 fast nicht mehr existierende Pressefreiheit ist die begründete Sorge des Al-Sisi-"Regimes" um das eigene Überleben.

Im September war es in Ägypten wochenlang zu den heftigsten Straßenprotesten seit sechs Jahren gekommen. Auslöser der Demonstrationen waren YouTube-Videos des 2018 ins spanische Exil geflüchteten Bauunternehmers und Schauspielers Mohamed Ali über die ungeheure Korruption am Hofe des neuen Pharaohs Al Sisi. Ali warf dem Ex-Generalstabschef und seinen Armeeamigos vor, die Gesundung der ägyptischen Volkswirtschaft vernachlässigt, dafür um so mehr Paläste und Golfplätze für sich errichtet zu haben. Die ägyptischen Behörden reagierten extrem empfindlich auf Alis Enthüllungen, ließen die Proteste niederknüppeln und steckten mehr als 4000 Demonstranten zu den anderen 60.000 Oppositionellen, die seit dem blutigen Sturz Mursis unter grausamen Bedingungen hinter Gittern sitzen.

In der Zwischenzeit versucht die ägyptische Regierung die Bevölkerung, von der ein Drittel in bitterer Armut lebt, zu besänftigen, indem sie unter Verweis auf eine sinkende Inflationsrate die Subventionen für Grundlebensmitteln leicht erhöht und damit die Preise für den Verbraucher verbilligt. Am 21. November berichtete Mada Masr, Mahmud Al Sisi sei zum Militärattaché degradiert und nach Moskau entsandt worden, weil er erstens in seiner Funktion als Geheimdienstleiter für die wenig souveräne, fast hysterische Reaktion des Staates auf die Proteste im September verantwortlich gewesen ist, und zweitens aus Angst seines Vaters, die einfachen Leute könnten ansonsten denken, der Generalissimus baue seinen Sohn zum Nachfolger auf. Schließlich haben Hosni Mubaraks durchsichtige Bemühungen, seinen Sohn Gamal zum "Thronfolger" aufzubauen, dazu geführt, daß der frühere Luftwaffenchef Anfang 2011 nach mehr als 30 Jahren als Staatsoberhaupt fast über Nacht weggefegt wurde.

So oder so sieht sich die Al-Sisi-Diktatur einer gefährlichen und wachsenden Bedrohung ausgesetzt. Bei einem Kurzauftritt in Barcelona am 6. November erklärte Mohamed Ali gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press, er habe inzwischen Kontakt zu "allen" politischen Parteien und Oppositionsgruppen Ägyptens, darunter Liberale, Linke sowie auch die verbotene Moslembruderschaft, aufgenommen, um das Ende der Diktatur in Kairo herbeizuführen und das Land politisch und wirtschaftlich zu reformieren. Zum ersten Mal seien die Gegner der Diktatur in der Frage der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit einig, so Ali.

Am 20. November hat der 45jährige Exilant in groben Umrissen die neue politische Initiative auf einer Pressekonferenz in London vorgestellt. In einem längeren Interview, das am selben Tag bei der Onlinezeitung Middle East Eye erschienen ist, sagte Ali, er und seine Mitstreiter arbeiteten seit einiger Zeit an einem umfassenden Reformplan für Ägypten, der innerhalb der nächsten zwei Monate dem Volk als Onlinepetition vorgelegt werde und auch die Forderung nach einem Rücktritt Al Sisis enthalten soll. Damit ähnelt die Initiative jener Onlineaktion der Tamarod-Bewegung, die 2013 für ihre Rücktrittsforderung an Mursi mehr als 20 Millionen Unterschriften gesammelt und damit Al Sisis Militärjunta den Weg zur Macht geebnet hatte. Gegenüber MEE wollte Ali den Vergleich so nicht stehen lassen:

Tamarod war ein Betrug am ägyptischen Volk. Ihre Aktion war nicht echt. Wenn wir zur Volksbefragung aufrufen, wird es sich um kein Papier mit einem einfachen "Ja" oder "Nein" handeln. Wir werden ein Programm vorlegen, das die Leute erst durchlesen können, bevor sie sich entscheiden.

(...)

Ich habe weite Teile sowohl der Zivilgesellschaft als auch der Opposition Ägyptens einigen können. Wir arbeiten aktuell an einem Plan zur Behebung der Probleme Ägyptens, den bald alle zu sehen bekommen werden. Jedes erfolgreiche Land basiert auf der Arbeit und dem Wissen von Experten. Wir haben Kontakt zu ägyptischen Experten in vielen Feldern rund um die Welt aufgenommen. Sie sind diejenigen, die diesen Entwurf erarbeiten, sei es auf dem Feld der Wissenschaft, der Medizin, des Ingenieurswesens oder der Medien.

Zu den Fachleuten, die am großen Entwurf für Ägypten mitarbeiten, gehört laut Ali der Wasserkraftexperte Mohamed Hafez, der aktuell eine Professur für Ingenieurswesen an der privaten Universiti Tenaga Nasional (Uniten) in Malaysia innehat. Im MEE-Bericht wird spekuliert, die Aufgabe von Hafez könnte es sein, sich mit der Problematik des umstrittenen Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD), der seit 2010 am Oberlauf des Blauen Nils gebaut wird, Anfang 2020 in Betrieb gehen soll und Ägypten bis zu 30 Prozent seines jährlichen Nilwassers kosten könnte, zu befassen. Auf der Pressekonferenz in London warnte Ali vor einer Flüchtlingskrise infolge des gigantischen Staudammprojekts der Äthiopier und warf Al Sisi vor, die Gefahren des Mammutvorhabens unterschätzt zu haben. "Sobald die Leute Durst bekommen wird Europa ihr erstes Ziel sein. Das zeigt, daß die Existenz des derzeitigen ägyptischen Regimes eine Bedrohung sowohl des ägyptischen Volkes als auch der Regionalinteressen Europas ist", erklärte er.

28. November 2019


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