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BERICHT/118: Arbeitswelt in China vom Klassenkampf bestimmt (SB)


Arbeitswelt in China vom Klassenkampf bestimmt

Vortrag "China für Betriebsräte" DGB-Haus Hamburg, 20.08.2012

Nahaufnahme von Geffken und Grund - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rolf Geffken und Gastgeber Uwe Grund vom DGB-Hamburg
Foto: © 2012 by Schattenblick

In der allgemeinen Berichterstattung über China herrscht das Bild der aufstrebenden Supermacht und einer wachsenden chinesischen Bourgeoisie vor, deren Konsumwünsche denjenigen der Europäer und Nordamerikaner in nichts nachstehen. Hinter der Wirklichkeit des historisch einzigartigen wirtschaftlichen Aufschwungs der Volksrepublik verbirgt sich jedoch eine ungeheure Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung, was im Westen nur punktuell wie anhand des Dokumentarfilms "China Blue" über die erschütternden Verhältnisse in der Bekleidungsindustrie oder der spektakulären Selbstmordreihe verzweifelter Angestellter des Apple-iphone-Lieferanten Foxconn wahrgenommen wird. Erhellende Einblicke in den sozialen Kampf der chinesischen Arbeiterschaft um bessere Produktionsbedingungen, höhere Löhne und verläßliche Rechtsnormen erhielten die Teilnehmer der Veranstaltung "China für Betriebsräte - Arbeitskonflikte im Reich der Mitte" am 20. August im Haus des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Hamburg. Der Arbeitsrechtler Dr. Rolf Geffken und die chinesische Politikwissenschaftlerin Can Cui traten als Referenten auf und stellten sich nach ihrem gemeinsamen Vortrag den Fragen des Publikums. Die Moderation hatte Uwe Grund, der Landesvorsitzende des DGB-Hamburg inne.

Geffken erläuterte den Transformationsprozeß in China von der Mao-Ära der sogenannten "Eisernen Reisschüssel" mit dem Anspruch auf Arbeit und Grundversorgung für alle, über die wirtschaftliche Öffnung für ausländisches Kapital ab Anfang der achtziger Jahre unter Deng Xiaoping, die von der Privatisierung der Staatsbetriebe und Flexibilisierung der Arbeit geprägt war, bis hin zur Verabschiedung des neuen Arbeitsgesetzes von 2008 und dessen Auswirkungen. Unter dem Motto "Das Regieren mit Gesetzen" tritt die kommunistische Partei China ganz klar für den Rechtsstaat ein. Unter anderem werden die Arbeiter der Volksrepublik mit im Comicstil illustrierten Großplakaten vom Staat angehalten, ihre gesetzlichen Rechte einzufordern.

Arbeitskämpfe sind in China kein neues Phänomen. In den ehemaligen Staatsbetrieben hatten die Mitarbeiter lange Zeit, aber letztlich erfolglos gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsverhältnisse angekämpft. In solchen Betrieben waren die Kernbelegschaften meistens sozial gut abgesichert. Die Erinnerung an diese Art der kollektiven Rundumversorgung gilt heute noch als Maßstab, zumal die wichtigsten Rüstungsbetriebe von der Privatisierungswelle ausgeschlossen blieben und somit die Produktionsverhältnisse dort noch eine gewisse Strahlkraft besitzen.

Heute findet man qualifizierte und gutbezahlte Arbeitnehmer in den Bereichen Dienstleistung und Hochtechnologie, während die schlechtbezahlten Wanderarbeiter in den lohnintensiven Industrien - zum Beispiel im Baugewerbe - anzutreffen sind. Doch auch bei letzteren steigen die Ansprüche. Im Vergleich zur ersten Generation der chinesischen Wanderarbeiter läßt sich die zweite mit um die 250 Millionen Menschen längst nicht mehr alles bieten. Nichtsdestotrotz ist deren Position innerhalb der chinesischen Gesellschaft alles anderes als rosig. Geffken verglich sie gar mit derjenigen der Kaste der Unberührbaren, die in Indien die körperlich härteste und gesundheitsschädigendeste Arbeit verrichtet.

Zwischen den Städtern Chinas und den Arbeitsmigranten vom Lande, mehrheitlich aus den armen und unterentwickelten Westprovinzen, herrscht eine große gesellschaftliche Distanz. Die Wanderarbeiter haben im Rahmen des Hukou-Systems kein Recht auf Niederlassung, halten sich jahrelang "illegal" in der Stadt auf und werden bestenfalls geduldet. Ohne festen Wohnsitz werden ihnen Sozialversicherung und Gesundheitsversorgung verwehrt; ihre Kinder dürfen keine Schulen besuchen; und sie sind nahezu machtlos, wenn ihr Arbeitgeber sie um ihren Lohn verprellt.

Das Publikum hört Geffken und Cui zu - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rolf Geffken und Can Cui vor interessiertem Publikum
Foto: © 2012 by Schattenblick

Hinsichtlich der einzelnen Metropolen und Provinzen Chinas existieren große Einkommensdisparitäten. Hongkong steht an der Spitze, erst danach rangieren Schanghai und Peking. Das Mindesteinkommen wird je nach Region bestimmt. Das Wirtschaftswachstum hat Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt gebracht: höhere Löhne und eine größere Auswahl an Einstellungsmöglichkeiten. Dies hat dazu geführt, daß relativ viele Menschen auf eigenen Wunsch häufig den Arbeitsplatz wechseln. Das Phänomen des sogenannten Jobhoppings ist nicht nur bei Hoch-, sondern auch Niedrigqualifizierten anzutreffen. Geffken sieht darin eine Art Gegenwehr gegen Ausbeutung.

Geffken schätzte die Zahl der jährlich auftretenden Arbeitskonflikte in China auf mehr als 100.000. Zwar gibt es in der Volksrepublik kein Streikrecht, gleichwohl sind Arbeitsniederlegungen auch nicht ausdrücklich verboten. In China sind die Gewerkschaften nicht unabhängig, sondern im staatlichen Dachverband organisiert und an den jeweiligen Betrieb gebunden. Die Gewerkschaftsführung wird häufig sogar vom Management ernannt. Häufig hat der örtliche kommunistische Parteisekretär auch die Gewerkschaftsführung beim größten Betrieb des Bezirks inne.

Can Cui hält ihren Teil des Vortrages - Foto: © 2012 by Schattenblick

Can Cui zur Lage der Wanderarbeiter
Foto: © 2012 by Schattenblick

Can Cui berichtete vom Kampf der Wanderarbeiter der zweiten Generation. Diese Gruppe, die ab 1980 geboren wurde und in der Zeit des Aufschwungs aufgewachsen ist, führte die jüngsten Streiks in der High-Tech-Industrie bei Siemens und Foxconn an. Die meisten von ihnen haben keinerlei Erfahrung in der Landarbeit und sind gleich nach dem Schulabschluß in die Stadt gezogen. 70 Prozent von ihnen haben die untere Mittelschule, 30 Prozent die obere Mittelschule absolviert. Ihr Durchschnittsalter liegt bei 23 Jahren. 80 Prozent sind ledig. Sie drängen in die Fertigungs- und Dienstleistungsindustrie. Anders als die Angehörigen der ersten Generation sind sie an Weiterbildung und neuen Arbeitserfahrungen interessiert. Sie lernen vom Ausland und nehmen ihre Rechte als Arbeiter zunehmend kollektiv wahr.

Bei der anschließenden Diskussion sorgte die Tatsache, daß bis auf den Moderator Uwe Grund kein einziger Betriebsrat oder weiteres Gewerkschaftsmitglied anwesend war, für Heiterkeit angesichts des Titels der Veranstaltung. Nichtsdestotrotz stellte das Publikum, darunter Studenten der Sinologie, zwei Vertreter des spartakistischen Bundes, ein Leiter eines Unternehmens in China und ein Lufthansa-Mitarbeiter, der demnächst mehrere Jahre in der Volksrepublik arbeiten wird, eine ganze Reihe intelligenter und wohlüberlegter Fragen, von denen hier nur einige besprochen werden, an Geffken und Cui.

Titelseite des Buchs 'Das chinesische Arbeitsgesetz' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eins von Geffkens vielen Publikationen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf die Frage, was geschähe, wenn eine ausländische Firma versuchte, das Arbeitsrecht ihres Heimatlandes durchzusetzen, antwortete Geffken, daß sich die Frage andersherum stelle. Seiner Meinung nach geht das individuelle Arbeitsrecht Chinas teilweise weiter als das der meisten europäischen Staaten, einschließlich der BRD. Es wäre viel geholfen, würden sich die ausländischen Firmen daran halten. Einige Unternehmen werben sogar damit, daß sie das chinesische Arbeitsrecht befolgen, und hoffen auf diese Weise, besser qualifizierte Mitarbeiter anzulocken. Einige Städte wie zum Beispiel Schanghai schreiben sogar höhere Standards als die nationalen vor. Sie setzen ebenfalls auf Qualität statt Quantität. Anderes sieht es laut Geffken beim kollektiven Arbeitsrecht aus. Das läßt sich schwerlich durchsetzen, weil die rechtliche Grundlage fehlt. Dazu berücksichtigen die chinesischen Gewerkschaften seiner Ansicht nach viel zu sehr die Interessen des Betriebes und der Arbeitgeber. Sie agieren im Sinne der KP. Darum muß aus dem Ausland mehr Hilfe für die unabhängigen Gewerkschaften in der Volksrepublik kommen.

Ferner kam die Frage nach der Rolle des chinesischen Militärs und seiner ökonomischen Interessen auf. Geffken verglich die Situation in der Volksrepublik mit der in Ägypten. Die Volksarmee sei wirtschaftlich in Bereichen tätig, wo man es nicht vermuten würde. Er führte dies darauf zurück, daß die Volksarmee im Grunde die einzige Institution sei, die die Wirrungen der Kulturrevolution unbeschadet überstanden habe. Trotz der Verflechtung zwischen militärischem Komplex und zivilgesellschaftlichen Wirtschaftsstrukturen besteht für Geffken keine Putschgefahr.

Dafür sitze die KP zu fest im Sattel. Gleichwohl verwies er auf die fragile geopolitische Lage und erwähnte in diesem Zusammenhang den jüngsten Inselstreit zwischen China und Japan. Über den großen Streik vor kurzem bei Honda war in den chinesischen Medien in aller Ausführlichkeit berichtet worden, weil es sich um ein japanisches Unternehmen handelt. Bis heute haben die Chinesen die blutigen Jahre der Unterdrückung durch die japanischen Invasoren im Zweiten Weltkrieg nicht vergessen. Sie fühlen sich durch die Eindämmungsstrategie der USA unter Beteiligung Japans bedroht, so Geffken. In China spiele der Nationalismus eine immer größere Rolle, weil die KP infolge der wirtschaftlichen Öffnung, des um sich greifenden Konsumdenkens und der vielen Korruptionsfälle ihre ideologische Hegemonie über das Volk verloren habe.

Frontalansicht der Hamburger DGB-Zentrale - Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Hamburger DGB-Haus im Besenbinderhof
Foto: © 2012 by Schattenblick

29. August 2012