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BERICHT/141: Schismen, Patchwork und Die Linke (SB)


Politischer Jahresauftakt der Partei Die Linke am 13. Januar 2013 in der Volksbühne Berlin


Foto: © 2013 by Schattenblick

Projektion zum Jahresauftakt in der Volksbühne - Foto: © 2013 by Schattenblick

In der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die vom Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit geprägt ist, muß jede Partei Farbe bekennen und erklären, auf welcher Seite sie steht. Das Alleinstellungsmerkmal der Partei Die Linke, von dem oft und gern die Rede ist, läge klar auf der Hand, definierte sie sich glaubhaft als antikapitalistisch. Unterläßt sie dies in der vagen Hoffnung auf Regierungsbeteiligung, bleibt sie ein bloßer Ableger der Sozialdemokratie, der über kurz oder lang wieder von dieser absorbiert wird. Hatte der Erfurter Parteitag im Herbst 2011 noch "rote Linien" gezogen, die eine Beteiligung am neoliberalen und bellizistischen politischen Mainstream ausschließen sollten, so ist davon inzwischen keine Rede mehr. Die Parteiführung will künftig auf Vorbedingungen für die Beteiligung an einer Regierung verzichten und statt dessen prüfen, ob sich Projekte für den Einstieg in eine Bundesregierung ergeben. Gesucht und gefunden wurden solche Einstiegsprojekte in den Programmen der potentiellen Koalitionspartner SPD und Grüne, denen sich die Linkspartei mit der Argumentation anempfiehlt, sie habe solche Forderungen seit jeher erhoben. Die damit verknüpfte Perspektive, man könne die Sozialdemokraten vor sich her treiben und zu einer Zusammenarbeit zwingen, entbehrt jedoch jeder Grundlage.

Die SPD wird nicht müde zu versichern, daß sie auf Bundesebene niemals mit der Linkspartei paktieren wird, und ruft regelmäßig dazu auf, keine Stimme an sie zu verschwenden, da dies nur den Konservativen und Liberalen diene. Wenn eine Partei, die deutsche Kriegseinsätze, Agenda 2010 samt Hartz-Gesetzen und eine repressive Innenpolitik maßgeblich auf den Weg gebracht hat, sich nun aus wahltaktischen Erwägungen mit einem sozialen Mäntelchen maskiert, hat das nicht das geringste mit einer Annäherung an Die Linke zu tun. Da diese mit jeder Wahlniederlage in den Ländern um so mehr von radikaleren Positionen Abstand nimmt und dem Anspruch auf Veränderung dieser Gesellschaft entsagt, vollendet sie aus freien Stücken das, was ihre Kritiker ihr unentwegt abzunötigen trachten.

Das Debakel in Niedersachsen eingeschlossen hat die Linkspartei nur bei einer der acht Landtagswahlen in Westdeutschland in den vergangenen beiden Jahren hinzugewonnen und ist nun aus drei Landesparlamenten in Folge herausgeflogen. Bürgerliche Kommentatoren sprechen längst vom Ende der Partei im Westen und bezeichnen ihr gesamtdeutsches Projekt als so gut wie gescheitert. Bei der Niedersachsenwahl konnte die Linkspartei weder bei Wirtschaftspolitik, noch sozialer Gerechtigkeit überzeugen und verlor im Vergleich zu 2008 weit mehr als die Hälfte ihrer Wähler. Rund 36.000 ehemalige Wähler der Linkspartei zogen sich in das Lager der Nichtwähler zurück, die höchsten Verluste waren unter den Arbeitern und Jungwählern zu verzeichnen. Wenngleich der ausgeprägte Lagerwahlkampf zweifellos zu Lasten der Partei Die Linke ging, zeichnete sich doch in aller Deutlichkeit ab, daß ihre Strategie keine Fortschritte zeitigt und sie insbesondere bei ihrer angestammten Klientel dramatisch verliert. Mit der Anbiederung an die SPD in der Hoffnung auf eine eventuelle Regierungsbeteiligung geht die Linkspartei daran, sich selbst überflüssig zu machen.

Die seit ihrer Gründung gehegte Skepsis, daß eine linke Sammlungspartei, die sich nicht Fundamentalopposition und wachsende Verankerung in außerparlamentarischen Bewegungen, sondern Regierungsbeteiligung auf ihre Fahnen geschrieben hat, Kompromiß für Kompromiß dem sozialdemokratischen Reformismus anheimfallen werde, scheint sich zu bestätigten. Im Unterschied zu den Grünen, die jahrzehntelang das links-alternative Spektrum abgegrast, abgeschöpft und in ein innovatives Establishment transformiert haben, fehlt es der Linkspartei schlichtweg an wohlfeilen Themen im Kontext der herrschenden Verhältnisse, einer gutsituierten mittelständischen Klientel und mithin an politischem Einfluß und Erfolg. Daß sich die Anpassungsbereitschaft allenfalls für die Führungsriege in gewisser Weise auszahlt, nicht jedoch für die Partei als solche, sollte jenem Teil ihrer Basis, der die Veränderung dieser Gesellschaft noch nicht völlig abgeschrieben hat, zu denken geben.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Katja Kipping
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Wie weit die Einschätzung der Parteispitze und die Realität beim Urnengang auseinanderklaffen, hatte die Rede Katja Kippings beim Politischen Jahresauftakt der Linkspartei in der Berliner Volksbühne am 13. Januar gezeigt. Die Parteivorsitzende erklärte, man habe nach einem reinigenden Gewitter neue Handlungsfähigkeit erlangt, Einfluß auf die gesellschaftliche Debatte genommen und wichtige Alternativen ins Gespräch gebracht. Man sei immer mehr Ideengeberin für die Debatten geworden und könne nun zu Recht sagen, daß Die Linke zurück sei. Das "reinigende Gewitter" im vergangenen Jahr, also die abgewendete Spaltung zu Lasten des linken Flügels, mündete wenige Tage nach den hoffnungsvollen Worten Kippings in die ernüchternden 3,1 Prozent von Niedersachsen, nach denen der Co-Vorsitzende Bernd Riexinger einräumen mußte, daß die Wählerschaft die Anstöße seitens seiner Partei offensichtlich nicht wahrnehme.

Katja Kipping bezeichnete es als ein Alleinstellungsmerkmal ihrer Partei, daß sie Nahziele mit Fernzielen verbinde. So wenig nachzuvollziehen ist, wieso andere Parteien angeblich keine langfristigen Ziele verfolgen, so dürftig blieben die von der Vorsitzenden genannten Fernziele der Linkspartei. Sie nannte den sozial-ökologischen Umbau, wie er im Plan B diskutiert werde, eine andere Verteilung der Arbeitszeiten sowie die Frage, wie und was produziert wird. Letztlich gehe es "um die Aneignung der Verfügungsgewalt auch über das eigene Leben. Ja uns geht es um das gute Leben. Mit weniger sollten wir uns nicht zufrieden geben."

Mit dem Konzept des "guten Lebens", das in Gewerkschaftskreisen - auch mit dem äquivalenten, den Zwangscharakter der Lohnarbeit ignorierenden Begriff der "guten Arbeit" - die Absage an einen entschiedenen Kampf für die Interessen der gesamten arbeitenden wie auch der ausgegrenzten Bevölkerungsteile zugunsten einer Arbeiteraristokratie besiegelt und den Grünen gleichermaßen der Fokussierung auf eine relativ gutsituierte Klientel dient, schwimmt Kipping im Fahrwasser einer mittelschichtsorientierten Reformpolitik, die mitnichten ein Alleinstellungsmerkmal der Linken sein kann. Das "gute Leben" unter den Bedingungen des Klassenantagonismus zu realisieren setzt die Ausgrenzung der jeweils schwächeren, politisch machtlosen Gruppe voraus. Selbst wenn die in der Bundesrepublik dazu notwendige Umverteilung von oben nach unten erfolgte, würde das der kapitalistischen Verwertungsordnung konstitutive ökonomische Gewaltverhältnis lediglich exportiert, es ginge in der neokolonialistischen Ausbeutung internationaler Produktivitätsdifferenzen weiterhin zu Lasten des globalen Südens. Da Bundesrepublik und EU vollständig in den neoliberalen Standortwettbewerb integriert sind, ist jede Umverteilung unterhalb der Schwelle antikapitalistischer Systemüberwindung der Sachzwanglogik gegeneinander konkurrierender Regionen und Staaten unterworfen, was die Denk- und Handlungsverbote erklärt, mit denen politische Kräfte gemaßregelt werden, die sich nicht mit partizipativen Konsenskonzepten zufriedengeben wollen.

Kippings Modell von "drei strategischen Blöcken" entwirft eine überaus schlichte strukturelle Unterteilung der Gesellschaft, die mit nicht nachvollziehbaren Interventionsmöglichkeiten hausiert. Während Schwarz- Gelb "knallhart das Geschäft der Superreichen und Konzerne" mache, versuche Rot-Grün lediglich rhetorisch, soziale Fragen aufzugreifen. Sozialdemokraten und Grüne konzentrierten sich auf die Mittelschichten, seien aber "in doppelter Hinsicht blind": "Zum einen gegenüber den Nöten der Erwerbslosen. Zum anderen entlassen sie die ganz Oben aus der Verantwortung." Die Linke hingegen "stelle Projekte in den Mittelpunkt, die eine Brücke schlagen zwischen der Mittelschicht und denen, denen es nicht so gut geht. Und wir haben den Biss nach oben. Wir sind bissig gegen die Super-Reichen, Banken und Spekulanten."

Das klassische Konzept eines Bündnisses der Mittel- und Unterschichten gegen die Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie krankt seit jeher an einer angemessenen Analyse der konkurrenz- und abgrenzungsgetriebenen Interessenlage eines Bürgertums, das nicht in der Herrschaft des Kapitals und seiner staatlichen Sachwalter, sondern vielmehr in den Unterschichten seinen Feind ausmacht. Mit der Verschärfung der Verelendung geht ein aggressiver Sozialrassismus einher, der die Ursache eigener Nöte mehr denn je in den Ansprüchen der Habenichtse und kulturell Fremden verortet. Beschränkte sich die Linkspartei darauf, Superreiche, Banken und Spekulanten für das wachsende Elend verantwortlich zu machen, verzichtete sie endgültig auf eine fundierte Kritik der herrschenden Verhältnisse und böte wohlfeile Pseudoerklärungen für die Misere an, wie man sie heutzutage bis tief in das konservative Lager hinein zu hören bekommt.

Bezeichnenderweise spricht Katja Kipping nicht von einer Gesellschaftsveränderung, einem Grundwiderspruch der Klassen und dem Kapitalismus, sondern lediglich von einer Wende, die es einzuleiten gelte. Wenn die Parteivorsitzende moniert, daß Schwarz-Gelb das Geschäft der Obersten mache und "unsozial, wirtschaftlich unvernünftig und europapolitisch gefährlich" sei, unterstellt sie demgegenüber den gesellschaftlichen Konsens einer vernünftigen und erfolgreichen Politik zugunsten fast aller, die man einer kleinen Oberschicht abringen müsse. Wo sie SPD und Grünen vorwirft, sie wollten "das Privileg der Solidarität" nur auf die Mittelschichten anwenden, während "eine Politik der wirklichen Solidarität" die "Perspektiven der mittleren Schichten mit denen der prekären Beschäftigten sowie den Erwerbslosen" verbinde, unterschlägt dies die tiefgreifende Beteiligung an den Herrschaftsverhältnissen als komplementäre Vervollständigung des Gewaltmonopols.

Heraus kommt dabei zwangsläufig ein bloßes Umverteilungsmodell, das eine "couragierte Besteuerung von Konzernen und Millionären" anmahnt, um "die Renten zu sichern, in Bildung zu investieren, den sozialen Wohnungsbau zu beleben, die Energie- und Verkehrswende zu finanzieren und um Mindestsicherung und Mindestrente durchzusetzen". So unterstützenswert diese Forderungen im einzelnen sein mögen, fehlt es doch vollständig an einer Analyse der Krisendynamik, die eben jene forcierte Verelendung zur Sicherung der Kapitalrenditen hervorbringt. Der Politikansatz, die erzwungene Umverteilung von unten nach oben in den Grenzen des bestehenden Gesellschaftssystems umzukehren, bricht an den immanenten Mechanismen und Zwängen dieser Verwertungsordnung, die fundamental in Frage zu stellen und zu überwinden offenbar nicht mehr auf der Agenda der Linkspartei steht.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Maite Mola
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Dies scheint nicht für eine weitere Rednerin beim Politischen Jahresauftakt der Linken in der Berliner Volksbühne zu gelten. Maite Mola ist Vizepräsidentin der Partei der Europäischen Linken und gehört als Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) dem linken Parteienbündnis Izquierda Unida an. Sie unterstrich in ihrer Rede den großen Bedarf an antikapitalistischer Kampfbereitschaft mit einer kurzen Schilderung der verheerenden sozialen Lage, in der sich die spanische Arbeiterschaft wie die in Spanien lebenden Migrantinnen und Migranten befinden. Izquierda Unida, in dem die PCE die stärkste Kraft stellt, bildete zusammen mit der antikapitalistischen, republikanischen Linken heute die drittstärkste politische Kraft des Landes, die zusammen mit der Bewegung der Indignados wie der Gewerkschaftsbewegung den sozialen Widerstand auf der Straße organisiere. Maite Mola beschwor den Zusammenhalt der europäischen Linken und forderte sie auf, "den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit als zentralen Punkt ihres Diskurses" zu nutzen. Allein die europäische Linke könne Alternativen für einen Ausweg aus der Krise aufzeigen, so die spanische Politikerin, die für ein anderes Wirtschaftsmodell kämpft und ihre Rede mit geballter Faust unter viel Beifall beschloß.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Alexis Tsipras
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Nicht minder kämpferisch, aber im Tenor doch wesentlich mehr auf eine EU-integrative Lösung der Probleme Griechenlands ausgerichtet fiel die Rede des SYRIZA-Vorsitzenden Alexis Tsipras aus. Die gebotene Schärfe der Analyse neoliberaler Politik, des Versuchs, ein dauerhaftes Austeritätsregime mit Hilfe des Fiskalpakts in der EU zu errichten und sein Land zu einer "Sonderwirtschaftszone Europas" zu degradieren, mündete in den Vorschlag einer "demokratischen und progressiven Neugründung Europas", der unter anderem dazu dienen solle, "die Eurozone aus der Falle der Austerität und der Rezession" zu befreien. Die von Tsipras verlangte "demokratische und politische Kontrolle der Märkte", die "Garantie der Spareinlagen in der gesamten Eurozone" wie die "Einberufung einer europäischen Schuldenkonferenz" verzichtete denn auch gänzlich auf jede Kapitalismuskritik, ohne die ein Neubeginn der Einigung Europas auf der Spur einer Zurichtung der Gesellschaft auf die Interessen der Kapitalmacht verbleibt. Diese lediglich zu zügeln und einzuhegen führt absehbar zu weiteren sozialen Ausgrenzungen, wird die Logik einer rentablen und profitablen Kapitalverwertung doch stets neue Sachzwänge hervorbringen, die dem Primat des Marktes den Vorzug vor der sozialen Befreiung des Menschen gibt.

Dabei wirft die Anprangerung dessen, wie mit den Menschen in Griechenland verfahren wird, sofort die Frage danach auf, wie derartige Entwicklungen unter den herrschenden Gesellschaftsverhältnissen jemals auszuschließen sein sollen. Daß Die Linke hier zumindest die wertvolle Aufgabe erfüllt, den antihumanistischen Konsens der bürgerlichen Parteien anzuprangern, zeigte sich jüngst bei einer Rede des Abgeordneten der Linksfraktion im Bundestag, Michael Schlecht. Er hatte, noch unter dem Eindruck eines Besuchs in einem Athener Kinderkrankenhaus stehend, aus der Verantwortung der Bundesregierung zum Beispiel für den deutlichen Anstieg von Suizidraten unter griechischen Kindern kein Hehl gemacht. Seine Schlußfolgerung, daß die deutsche Politik "mittlerweile mindestens durch Südeuropa eine breite Blutspur" ziehe, wurde von der Grünenabgeordneten Kerstin Andreae unter Beifall aller Fraktionen außer der Linken scharf als populistisches und billiges Wahlkampfmanöver zurückgewiesen. Deutlicher hätte sich die Grünenpolitikerin nicht in der Verteidigung der sozialfeindlichen Regierungspolitik darstellen können, und eben das ist eine der Leistungen einer Oppositionspartei, die nicht auf Bündnisse mit den Sachwaltern des deutschen Imperialismus schielt.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Bernd Riexinger
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Bernd Riexinger ging in seinem Redebeitrag auf den Zusammenhang zwischen dem Lohndumping in Deutschland und der gesamteuropäischen Krise ein. Wie er hervorhob, fänden die Auseinandersetzungen in Europa nicht zwischen Griechen und Deutschen, Spaniern und Italienern, sondern zwischen "oben und unten" statt. Es werde eine Politik des Nationalismus und Chauvinismus hoffähig gemacht, dem Die Linke eine internationale Solidarität entgegensetze. Die Interessen der politischen Eliten richteten sich gegen alle Erwerbstätigen, Erwerbslosen, Rentner und die Zukunft der Jugend in ganz Europa. Daher erwarte man von den deutschen Gewerkschaften mehr Engagement und Solidarität auch weit über das eigene Land hinaus. Sie dürften nicht tatenlos zusehen, wie ihre Schwesterorganisationen in anderen Ländern mit dem Rücken an der Wand kämpfen. Es gehe um nichts weniger als die Herausbildung eines sozialen und demokratischen Europa.

Der Co-Vorsitzende führte mit Blick auf die dramatische soziale Lage in Griechenland einige Beispiele an. Dort verdiene eine Krankenschwester 750 Euro brutto, ein Arzt 1040 Euro im Monat und das bei gleichen Lebenshaltungskosten wie in Deutschland. 50 Prozent der Jugendlichen seien arbeitslos, die Selbstmordraten bei Kindern und Jugendlichen stiegen dramatisch an, Mütter gäben ihre Kinder bei SOS-Dörfern ab, weil sie sie nicht mehr ernähren können. Das sei ein Szenario, wie man es bisher nur aus der Dritten Welt kannte.

Deutschland schaffe mit seinen Exportüberschüssen gestützt auf Lohndumping, aber auch eine hochproduktive Wirtschaft die Defizite und Schulden der anderen Länder. Diese müßten abgebaut werden, wofür nicht zuletzt höhere Löhne in Deutschland und eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte notwendig seien. In Deutschland und damit einem der reichsten Länder Welt gebe es 1,5 Millionen Menschen, die weniger als 5 Euro pro Stunde verdienen. Menschen gingen arbeiten und blieben doch arm. Deshalb fordere Die Linke, daß jeder einen Lohn bekommen müsse, von dem er ordentlich leben kann. Es gelte prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie befristete Verträge und Leiharbeit, die man als moderne Sklaverei bezeichnen müsse, abzuschaffen,

Demgegenüber fordere Die Linke, Selbstverständliches wieder selbstverständlich zu machen. Menschen müssen von ihren Löhnen leben können, Erwerbslose dürfen nicht in Armut gestürzt und von den Agenturen und Jobcentern drangsaliert werden. Es darf kein Krieg durch Waffenexporte befördert werden. Es muß wieder selbstverständlich sein, daß sich Reiche und Vermögende am Gemeinwohl beteiligen. Wenn die anderen Parteien diese Selbstverständlichkeiten nicht akzeptieren könnten, bedürfe es einer starken Linken, die das durchsetzt. Die Farbe Rot müsse wieder Mode werden, schloß Riexinger seine Vortrag.

Daß man das Rad zurückdrehen und den verlorenen Sozialstaat wiedergewinnen müsse, ist die Hoffnung vieler, die alt genug sind, ihn noch kennengelernt zu haben. Wenngleich sich die Lebensverhältnisse für zahllose Menschen in Deutschland und um so mehr in anderen europäischen Ländern seither dramatisch verschlechtert haben, kann der bundesrepublikanische Sozialstaat doch nicht als positiv konnotierter Gesellschaftsentwurf hochgehalten werden. Er stellt das gesellschaftspolitische Äquivalent zu einer bestimmten Phase kapitalistischer Verwertung dar, die es grundsätzlich zu kritisieren gilt, will man ernsthaft über die Krise, deren Folgen und daraus abzuleitende Handlungskonsequenzen sprechen.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Oskar Lafontaine
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Oskar Lafontaine ging mit dem Konzept Angela Merkels ins Gericht, man müsse eine marktkonforme Demokratie schaffen. Die Linke fordere demgegenüber eine menschenfreundliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die dramatischen Verhältnisse in Südeuropa zeigten, wohin eine Politik führe, welche die Märkte und nicht die Menschen im Auge habe. Wenn eine Politik propagiert werde, die das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen will, halte man dem entgegen, daß man das Vertrauen der Menschen in die Zukunft wiedergewinnen müsse. Die Bundeskanzlerin spalte Europa in zwei Zonen: In diejenigen Länder, denen es immer noch relativ gut geht, und die Schuldner, denen man diktiert, welche Politik sie auszuführen haben. Europa müsse gemeinsam handeln, damit sich in den südlichen Ländern nicht länger Menschen wegen der Politik Merkels umbringen.

Das Vertrauen unersättlicher Monster wie der Märkte könne man niemals gewinnen, das sei ein völlig hoffnungsloses Unterfangen, so Lafontaine. Es gelte vielmehr, die Märkte an die Kette zu legen, wofür Die Linke ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt habe. Erforderlich sei die strenge Regulierung des Finanzsektors und eine direkte Kreditvergabe durch die EZB an die in Not geratenen Staaten. Die Zentralbanken müßten wieder in ihre ursprüngliche Aufgabe zurückgeführt werden, die Staaten mit Geld zu versorgen. Man müsse den Irrsinn beenden, daß Zentralbanken Geld für 0,75 Prozent an Geschäftsbanken geben, die es für bis zu sieben Prozent weiterverleihen. Zudem verlange man Klarsicht beim Abbau der Schulden, wofür Die Linke als einzige Partei über ein Rezept verfüge. Der Schuldenturm des Staates sei nämlich genauso hoch wie der Geldturm der Millionäre, da das untrennbar miteinander zusammenhänge. Wolle man den Schuldenturm des Staates abbauen, dürfe man nicht Löhne, Renten und Sozialleistungen kürzen, sondern sich nicht scheuen, den Geldturm der Millionäre abzubauen. In früheren Kulturen habe Freiheit nichts anderes als Freiheit von Schulden bedeutet. Man brauche in diesem Sinne einen Schuldenschnitt insbesondere für die Länder Südeuropas, damit sie wieder frei würden und ihre eigene Politik gestalten könnten. Wer gute Nachbarschaft wolle, dürfe nicht wie Deutschland mit seinem Lohndumping auf Kosten seiner Nachbarn leben.

Das Umverteilungsmodell Lafontaines vermeidet eine grundlegende Auseinandersetzung mit Armut und Reichtum, da er nicht bis zu den Mechanismen ihrer fortgesetzten Produktion vordringt. So suggeriert die assoziative numerische Gleichsetzung von Schuldenturm und Geldturm einen klaren und gangbaren Lösungsweg des gerechten Ausgleichs unter Beibehaltung der herrschenden Verhältnisse, sofern es nur gelänge, einen Politikwechsel dafür in Gang zu setzen. Der Ansatz, den gesellschaftlichen Kernwiderspruch mittels Reformen auflösen zu wollen, mündet in eine wenngleich energischere, so doch ihrem Wesen nach sozialdemokratische Ausgestaltung der Verwertung und Verfügung.

Dies wird deutlich, wenn Lafontaine weiter ausführt, daß der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Peer Steinbrück den Politikstil der Kanzlerin mit dem Vorwurf kritisiere, sie wäre nicht in der Lage gewesen, Hartz IV zu konzipieren. Da stelle sich doch die Frage, wie ein Politikwechsel überhaupt möglich sei. Er selbst unterstütze die Initiative der Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, ein Angebot an SPD und Grüne zu machen und sich bereitzuerklären, gemeinsam einen Politikwechsel einzuleiten. Es gelte eine Mehrheit links der Mitte zu schaffen, die inhaltlich bestimmt sei: Mindestlohn, höhere Rente, bessere Arbeitslosenversicherung und nie wieder Krieg.

Vieles, was heute von anderen Parteien aufgegriffen werde, sei von der Linkspartei vorgeschlagen worden, die dabei zunächst auf vehemente Ablehnung gestoßen sei. Als sie von Mindestlohn sprach, sei sie für ökonomisch inkompetent erklärt worden. Heute sei jedoch die Mehrheit der politisch Verantwortlichen dafür. Als man die Rente mit 67 kritisiert habe, hieß es, Die Linke könne nicht mit Geld umgehen. Jetzt rücke die SPD langsam davon ab. Als man Hartz IV kritisiert habe, bekam man zu hören, es gebe dazu keine Alternative. Jetzt fingen SPD und Grüne an, Hartz IV zu überprüfen. Die Praxisgebühr sei von der FDP als letzter Strohhalm ergriffen und abgeschafft worden.

Spitzensteuer, Abgeltungssteuer, Vermögenssteuer, Tobinsteuer, Mietpreise, Energiepreisbegrenzung - all das sei heute kein Tabu mehr. Die Linke habe schon vor Jahren Eurobonds vorgeschlagen, um die Spekulation zu beenden, was damals von Merkel und Steinbrück zurückgewiesen wurde. Heute gebe es entsprechende Mechanismen, die unvermeidlich seien, da die Staaten Europas zusammenstehen müßten. Hätten die Länder noch eigene Notenbanken, könnten sie Geld nachdrucken und abwerten, doch würden sie niemals zahlungsunfähig werden. Diesen Konstruktionsfehler der Währungsunion habe Frau Merkel nicht verstanden. Wolle man die europäische Einigung, müsse man auch gemeinsam für die Schulden haften, die Deutschland durch das Lohndumping herbeigeführt hat. Heute behauptet selbst Steinbrück, er wolle die Waffenexporte einschränken. SPD und Grüne seien diesbezüglich jedoch unglaubwürdig, weil sie in der Frage der Kriege immer noch nicht umgedacht und umgelernt hätten. Nur Die Linke habe es von Anfang an abgelehnt, Politik mit Kriegen machen zu wollen. Nie wieder Krieg - darauf könne die Partei stolz sein, beendete Lafontaine seinen Redebeitrag.

Der Bundeskanzlerin zu attestieren, sie habe den Konstruktionsfehler der Währungsunion nicht begriffen, macht zweierlei deutlich. Lafontaine faßt die Währungsunion nicht grundsätzlich als Instrument auf, die schwächeren Mitgliedstaaten zum widerstandslosen Objekt deutscher Kapitalinteressen zu machen, und möchte lediglich bestimmte Fehler behoben sehen. Den politischen Eliten Blindheit vorzuwerfen, als hätten sie nicht die herrschenden Verhältnisse wissentlich herbeigeführt, zeugt von seiner Absicht, sich als Politiker mit der größeren Klarsicht zu profilieren, der die Mängel der europäischen Einigung beheben könne.

Worauf Lafontaines politisches Credo abzielt, wurde in der folgenden Passage seiner Rede besonders deutlich. "Ihr müßt dafür sorgen, daß den anderen Parteien das Wasser so hoch steht, daß sie zum letzten Strohhalm greifen müssen - nur dann wird es einen Politikwechsel geben", rief er seinen Zuhörern zu. SPD und Grüne dürfe man nie allein regieren lassen, da nur Mist dabei herauskomme. Dieser eindeutige Verzicht auf Fundamentalopposition oder auch nur unüberschreitbare Haltelinien setzt eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei auf die Tagesordnung, wie sie auf Bundesebene nicht stattfinden wird. Eine Partei, die man nach wie vor vom Verfassungsschutz beobachten läßt, deren führende Politiker nach jeder kritischen Positionierung von den Medien öffentlich abgestraft werden und die von der SPD als Intimfeind angesehen wird, kann sich nur um den Preis der Selbstaufgabe jeder Eigenständigkeit salonfähig machen, was jedoch gleichbedeutend damit wäre, daß niemand sie mehr braucht.

Parteiprominenz an der Gedenkstätte der Sozialisten - Foto: © 2013 by Schattenblick Parteiprominenz an der Gedenkstätte der Sozialisten - Foto: © 2013 by Schattenblick Parteiprominenz an der Gedenkstätte der Sozialisten - Foto: © 2013 by Schattenblick

Nur noch Pflichtübung oder im Kampf lebendiges Gedenken?
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Wer beim Politischen Jahresauftakt der Partei Die Linke in der Berliner Volksbühne fehlte, waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Es war erstaunlich, daß die beiden ausgerechnet an diesem Tag mit keinem Wort Erwähnung fanden, als habe man das Gedenken frühmorgens auf dem Friedhof Friedrichsfelde oder spätestens mit der Demonstration am Vormittag abgegolten. War das dieselbe Parteiführung, die in aller Frühe die traditionellen roten Nelken an der Gedenkstätte der Sozialisten abgelegt und damit der Wählerschaft in den neuen Bundesländern Tribut gezollt hatte, um am Nachmittag vor versammelter Presse uneingeschränkte Regierungsfähigkeit zur Schau zu stellen? An puren Zufall mag man an einem solchen Tag nicht glauben, stellte doch jede Ankündigung der Veranstaltung einen Zusammenhang mit dem Gedenken her. Waren Luxemburg, Liebknecht und der Sozialismus eine Kinderkrankheit der Partei Die Linke, von der sie endgültig genesen ist?

Volksbühne Berlin - Foto: © 2013 by Schattenblick

Erste Adresse für politische Kultur am Rosa-Luxemburg-Platz
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26. Januar 2013