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BERICHT/174: Herrschaft in der Krise - Synthese im Widerspruch (SB)


"Kapitalismus - Krise - Herrschaftssicherung"

Vortrag von Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Centro Sociale in Hamburg-St. Pauli am 20. November 2013


Dr. Schneider während seines Vortrags - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Heinz-Jürgen Schneider
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wenn es den Begriff Krise noch nicht gegeben hätte, wäre er wohl spätestens vor fünf Jahren erfunden worden, als das weltweite Finanz- und Wirtschaftssystem vor dem Kollaps zu stehen schien mit unabsehbaren Folgen für die Menschen in eigentlich allen Regionen der Welt. Mit oberster Priorität konnte die Rettung der als systemwichtig bezeichneten Banken durchgeführt werden, so als wäre dies die einzige, wenn auch vielfach nur zähneknirschend akzeptierte Möglichkeit, mit dem schwer angeschlagenen Finanzsystem auch das Überleben der Menschheit sicherzustellen. Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem bürgerlicher Herrschaft schien seine eigene Basis verprellt zu haben. Es hagelte Proteste darüber, daß mit "unseren Steuergeldern" gerade diejenigen saniert worden waren, die durch ihre Profitmaximierungsstrategien die Krise erst herbeigeführt hätten.

Auf einen Schlag schien aus einer bislang weitgehend zufriedengestellten Mehrheitsbevölkerung ein Heer von Kapitalismuskritikerinnen und Kritikern geworden zu sein, die an Krise und Krisenmanagement und hier und da auch am "System" eine Menge auszusetzen hatten. Kurzum, der Kapitalismus selbst schien im Zuge der unter dem Label "Krise" aufs einfachste wie nichtssagendste subsumierten Entwicklung in die Krise geraten zu sein, was auch all die Menschen und gesellschaftlichen Kräfte beunruhigen mußte, die seit Bestehen der Bundesrepublik durch ihre Teilhaberschaft am bürgerlich- kapitalistischen System für dessen parlamentarische Legitimation gesorgt hatten.

Das traditionell eigentlich der Linken vorbehaltene Recht, dem Kapitalismus die Gefolgschaft nicht nur aufzukündigen, sondern ihn so rückhaltlos zu analysieren, daß die Frage nach der eigenen Beteiligung am großen Verhandeln über mehr oder weniger nicht außer acht gelassen werden kann, scheint ihr abhanden gekommen zu sein durch den großen Lärm, mit dem die bürgerliche Mitte das gesellschaftliche Feld der Kritik mit Beschlag belegt zu haben scheint. Die Schwierigkeit, in einem allgemeinen Stimmengewirr kapitalismuskritischer Töne, Schattierungen und Nuancen eine Position zu entwickeln, die nicht Gefahr läuft, als taktischer Manöverraum entgegen der behaupteten Absichten zum Zwecke der Herrschaftssicherung instrumentalisiert zu werden, läßt sich da schwerlich von der Hand weisen. Formen des Protestes, die dem von vielen Menschen empfundenen Unbehagen oder auch der Überzeugung, daß "mit diesem System etwas nicht stimme", Entfaltungsraum bieten, ohne den Versuch zu unternehmen, ihm die Akzeptanz zu entziehen, tragen zu seiner Restauration zwangsläufig bei.

Die Schwierigkeit, ein linkes Profil einer kapitalismuskritischen Positionierung klar erkennbar zu schärfen, könnte nicht zuletzt darin begründet sein, daß die beanspruchte Abgrenzung gegenüber bürgerlichen Protesten keine belastbare Basis aufweist aus einem ganz einfachen Grund: Hier wie dort wird die Frage nach dem Beteiligungsinteresse an dem, was man zu kritisieren vorgibt, weder aufgeworfen noch mit der bei einem kompromißlosen Nein zu Gebote stehenden Ernsthaftigkeit verfolgt. Wird ein neoliberal radikalisierter Kapitalismus zum Gegenstand von Analyse, Kritik und Protest gemacht, erscheint der Status Quo vor Ausbruch der Krise, wie auch immer ihr Beginn datiert werden mag, als das geringere Übel. Fragen grundsätzlicherer Art, beispielsweise danach, ob die herrschende, sich qualifizierende und die eigene Unabänderlichkeit anstrebende Verfügungsgewalt mit Konzepten, die auf eine Korrektur eines Wirtschaftssystems abzielen, überhaupt in ihren gegenwärtigen Entwicklungen und absehbaren Zuspitzungen erfaßt werden kann, bleiben da leicht auf der Strecke.

In der Hamburger Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" wollen sich die Veranstalter, wie sie selbst erklärten, "den staats-, kriegs- und machtpolitischen Folgen der Krise nach innen und außen widmen" [1]. Doch was heißt das? Sicherlich wird "Krise" mit "Kapitalismus" in Zusammenhang gebracht, gleichwohl tritt letzterer bei einem solchen Ansatz ins zweite Glied, unterstellt doch das Fokussieren auf die Krise des Kapitalismus sprachlogisch auch seinen nicht-krisenhaften Zustand. Dabei wäre die Frage, ob denn der Begriff "Kapitalismus" seinerseits oder das Adressieren des "Systems", wie in kritischen Kreisen weitverbreitet, tatsächlich zu halten in der Lage ist, was er bzw. seine letztbegründende Verwendung verspricht, noch nicht einmal berührt. Die in der Veranstaltungsreihe angesprochenen ebenso brisanten wie brandaktuellen Fragen der Herrschaftssicherung, des Abbaus des bürgerlichen Rechtsstaats, einer rigorosen Umverteilungspolitik von unten nach oben und viele Themen mehr laufen somit womöglich Gefahr, in den indifferenten Fahrwassern einer auf Krisenbewältigung abzielenden Problemstellung zu versanden, ohne je zu den Grundlagen der Herrschaft des Menschen über den Menschen, aber auch andere Lebewesen und den zur bloßen Ressource der herrschenden Verbrauchs-, Verfügungs- und Verwertungsordnnug deklarierten Planeten vorzustoßen.

Am 20. November 2013 hielt der Hamburger Strafverteidiger und Publizist Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Café "Tatort Kurdistan" des Centro Sociale in Hamburg-St. Pauli in dieser Reihe einen Vortrag zum Thema "Kapitalismus - Krise - Herrschaftssicherung" [2]. Nach einer Begrüßung durch Wolfgang Struwe, der für den Veranstalter "Tatort Kurdistan" sprach und auf das inzwischen 20jährige Verbot der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) hier in Deutschland ebenso hinwies wie auf die in Berlin anläßlich dessen mit großem Erfolg durchgeführte Demonstration, ergriff Christian Arndt, der den Abend moderierte, das Wort.

Der Moderator des Abends in Aktion - Foto: © 2013 by Schattenblick

Christian Arndt
Foto: © 2013 by Schattenblick

Zur Einstimmung wies er auf eine vom Weltwirtschaftsforum durchgeführte Umfrage hin, deren Ergebnis auf dem jüngsten Jahrestreffen führender Manager, Politiker und Intellektueller in Davos veröffentlicht wurde. Demnach sehen die befragten 1500 "globalen Entscheider" Armut und wirtschaftliche Ungleichheit als die größten Herausforderungen der kommenden Monate an, was "Die Welt" titeln ließ: "Die globale Elite fürchtet den Aufstand der Massen." [3] Schon im vergangenen Jahr hätten die Vereinten Nationen vor sozialen Unruhen und Krawallen wegen der hohen Arbeitslosigkeit gerade auch in Europa gewarnt. Die Internationale Arbeitsorganisation der UN (ILO) habe gefordert, es müsse "etwas passieren". Passiert sei seitens der Europäischen Union die sogenannte Solidaritätsklausel in Art. 222 des "Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV), eine Beistandspflicht, die den Einsatz militärischer Mittel durch die EU-Staaten und damit möglicherweise auch der Bundeswehr im Falle einer Katastrophe einschließt, zu der auch soziale Unruhen oder streikende Polizisten wie in Griechenland oder Portugal gehören könnten. [4]

Damit war der grobe Bogen schon einmal gespannt. Dr. Heinz-Jürgen Schneider erläuterte zunächst zu den im Titel seines Vortrags nur lose aneinandergereihten Begriffen "Kapitalismus - Krise - Herrschaftssicherung", daß er auf den Kapitalismus als eigentumsgestützte Gesellschaftsordnung ebensowenig einzugehen bräuchte wie auf dessen in Zyklen wie auch aus anderen Anlässen auftretende Krisen. Herrschaftssicherung, das eigentliche Thema dieses Abends, werde von den in diesem Land politisch Verantwortlichen nicht so genannt, sie sprächen eher von einer "Politik der inneren Sicherheit" oder von der These "Keine Freiheit ohne Sicherheit". Die Begriffe der marxistischen Gesellschaftswissenschaft "Basis" und "Überbau" könnten Schneider zufolge hier Anwendung finden, in dem die ökonomische Basis, sprich die Eigentumsverhältnisse, als Quelle der politischen Macht benannt werden, während als Überbau staatliche Einrichtungen der unterschiedlichsten Art, aber auch Kultur, Ideologie und viele Dinge mehr, die in einem wechselseitigen Verhältnis stünden, begriffen werden.

Die erklärte Absicht des Referenten war es aufzuzeigen, daß Herrschaftssicherung tatsächlich eine Aufgabe des Staates ist, die auf vielfältige Weise - politisch, juristisch, militärisch und kulturell sowie durch Polizei und Geheimdienste - wahrgenommen werde; es gäbe allerdings auch eine nichtstaatliche Herrschaftssicherung etwa durch Medienkonzerne. In jeder Klassengesellschaft habe es Herrschaftssicherung gegeben, beispielsweise im Römischen Reich oder, wenn auch mit anderen Inhalten, früher in der DDR oder im heutigen China. Schneiders Kernthese lautete, daß es zwei Varianten der Herrschaftssicherung gibt, für die sich bereits im 19. Jahrhundert das Begriffspaar "Zuckerbrot und Peitsche" eingebürgert habe. Mit "Zuckerbrot" als Methode der Integration sei der "sanfte Weg" gemeint, um durch materielle Zugeständnisse eine allgemeine Zufriedenheit mit dem vorherrschenden System und eine breite Akzeptanz des gesellschaftlichen Status Quo zu erzielen. Unter "Peitsche" sei selbstverständlich die Methode der Repression zu verstehen, was die Einrichtung eines Frühwarnsystems gegen systemkritische Störungen ebenso impliziere wie die Verfolgung Oppositioneller sowie das Verbot bis hin zur Vernichtung der Systemopposition.

In Deutschland habe es in den 160 Jahren kapitalistischer Herrschaft stets ein Nebeneinander dieser beiden Varianten gegeben, wobei in der Regel eine dominiert habe. Als Beispiel benannte der Referent die SPD im ausgehenden 19. Jahrhundert, die im kaiserlichen Deutschland eine revolutionäre Kraft gewesen sei, zu deren Bekämpfung sich der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck eine Doppelstrategie überlegt habe. Durch das Sozialistengesetz wurde die Sozialdemokratie - mit Ausnahme des Rechts, bei Wahlen zu kandidieren - verboten; zugleich wurden durch die Einführung einer Rentenversicherung und anderer Sozialleistungen soziale Zugeständnisse gemacht, um die SPD klein zu halten. Das Konzept sei gescheitert, nach 12 Jahren wurde das Sozialistengesetz wieder aufgehoben. Die Sozialreformen blieben zwar bestehen, reichten jedoch nicht an die Forderungen der Arbeiterbewegung, die jahrzehntelang für den 8-Stunden-Tag kämpfte, heran.

Zwischen 1918 und 1945 kam es zu zum Teil schnellen Wechseln zwischen den beiden Varianten der Herrschaftssicherung. Die Weimarer Republik begann mit einer Phase der scharfen Repression, nämlich der Niederschlagung der Novemberrevolution in Berlin, München und anderen Städten. Dem folgte eine Stabilisierungsphase, in der in politisch- parlamentarischer Hinsicht Zugeständnisse gemacht wurden, bevor dann nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 abermals ein Kurswechsel einsetzte, in dem die staatlichen Organe der Weimarer Republik stark repressive Züge entfalteten, die ab 1933 in eine offen faschistische Diktatur mündeten. All diese verschiedenen Formen hatte es in einem Zeitraum von nur 14 Jahren gegeben, wobei auch bei der brutalsten repressiven Herrschaftsvariante im Faschismus die andere Form nicht gänzlich außer acht gelassen wurde und im Führerkult sowie der Formierung einer sogenannten "Volksgemeinschaft" ihren Ausdruck fand.

Den eigentlichen Schwerpunkt seines Referats legte Schneider jedoch auf die Herrschaftssicherung in den genannten Varianten in der Bundesrepublik Deutschland ab 1949, wobei natürlich schon aufgrund der großen Veränderungen im Kommunikationsbereich zwischen dem Westdeutschland von 1953 und dem gesamtdeutschen Staat von 2013 gravierende Unterschiede bestehen. Obwohl es "den typischen Deutschen" unter 80 Millionen Bundesbürgern nicht gibt, könne von einem Massenbewußtsein ausgegangen werden, daß gekennzeichnet sei durch eine "starke Entpolitisierung", die laut Schneider in manchen Bereichen, die gesellschaftliche Forderungen betreffen, schon an Verblödung heranreiche, und eine "starke Duldungsmentalität der gesellschaftlichen und politischen Zustände" mit der Folge, daß eine große Mehrheit das politische System selbst dann, wenn es für sie persönlich negative Auswirkungen habe, für unabänderlich hielten. Gepaart seien diese Linien mit einem stark entwickelten Individualismus sowie einer Isolation und Vereinzelung, die jeder Art kollektiver Entwicklung entgegenwirken sollte.

Weitere Triebkräfte, wie Schneider es nannte, dieses Massenbewußtseins seien über Jahrzehnte hinweg, mindestens bis zum Ende der DDR, der Antikommunismus gewesen sowie die Erzeugung politischer Feindbilder, die beim Kommunisten, der Kommunistin nicht halt machten, sondern qualifiziert und erweitert wurden durch Bezeichnungen wie "Extremist" und "Terrorist" als Sammelbegriffe für all diejenigen, die "nicht Teil des guten deutschen Volkskörpers sein sollten". Diese auf eine Spaltung der Gesellschaft abzielende bzw. sie vollziehende Ausgrenzung betraf auch den Versuch - Stichwort Sozialschmarotzerdebatte -, arme und arbeitslose Menschen gegen welche, die noch Arbeit haben, auszuspielen. Der schwarz-rot-goldene Nationalismus, in Westdeutschland ein Spätstarter, doch nach 1990 stärker ausgeprägt, korrespondierte schließlich mit den Bestrebungen Deutschlands, politisch, aber auch militärisch in der Weltpolitik mitzumischen. Als Triebkräfte, die dieses Massenbewußtsein erzeugen und damit integrative Herrschaftssicherung betreiben, sind nach Ansicht des Referenten die Medien als größter Faktor zu nennen. Zur Wirksamkeit dessen gehöre es sowohl bei kapitalistischen Medienkonzernen als auch bei öffentlich-rechtlichen Sendern dazu, eine "kritische Abteilung" mitzuerzeugen, in der Skandale und Skandälchen enthüllt und an bestimmten Fragen auch drangeblieben, unterm Strich aber dafür gesorgt wird, daß systemkritische Fragen nicht gestellt und Dinge, die nicht publiziert werden sollen, auch totgeschwiegen werden.

Als zweiten großen Träger integrativer Herrschaftssicherung benannte Schneider die Parteien bzw. das parlamentarische System. In Anspielung auf die "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" (SED), wie die staatstragende Partei zu Lebzeiten der DDR genannt wurde, benutzte Schneider den fiktiven Begriff einer "Kapitalistischen Einheitspartei Deutschlands", wie die im Bundestag vertretenen oder auch nicht vertretenen Parteien der bundesdeutschen Parteienlandschaft mit Ausnahme der Partei "Die Linke" zusammengefaßt werden könnten, um zu veranschaulichen, daß sie sich zwar um Posten und Mandate stritten, in den Kernfragen jedoch, also der Akzeptanz dessen, was für das System aktuell notwendig sei - Stichwort: Sozialabbau und Kriegseinsätze - übereinstimmten. Diese Politik der "Kapitalistischen Einheitspartei" werde von den herrschenden Medien unterstützt.

Auch das Parteiensystem habe beispielsweise mit den Piraten oder der AfD eine kritische Flanke entwickelt, die "das kritische Potential wie einen Schwamm aufsaugen und einer Selbstorganisation systemkritischer Kräfte entgegenwirken" solle. Ergänzt werde diese Parteienstruktur durch politische Bildungsnetzwerke, den Parteien nahestehende Stiftungen und Lobbygruppen, aber auch staatliche Einrichtungen des Bildungswesens sowie Kulturträger in den Bereichen Kino, Theater und Videospielen. Wie der Referent anmerkte, gäbe es sicherlich auch gute und unterhaltsame Kultur, in der herrschenden Kultur jedoch, die eine Kultur der Herrschenden sei, werde vieles zur Spaßgesellschaft runtergemacht. Und natürlich hätten auch staatliche Institutionen wie die Bundeswehr, aber auch die Kirchen, ihren Anteil an der integrativen Herrschaftssicherung.

Plakat der Veranstaltungsreihe 'Bürgerliche Herrschaft in der Krise' im Veranstaltungsraum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Hoffnung schöpfen aus der Krisenhaftigkeit bürgerlicher Herrschaft?
Foto: © 2013 by Schattenblick

Zur Variante der "Peitsche", also der repressiven Herrschaftssicherung, ging Schneider noch einmal zurück in die Zeit nach der Befreiung vom Faschismus und las aus dem Kontrollratsgesetz Nr. 31 vom Juni 1946 vor, in dem es geheißen hatte: "Alle deutschen Polizeibüros und Agenturen, die der Überwachung und Kontrolle der politischen Betätigung von Personen dienen, werden hiermit für ganz Deutschland aufgelöst." Leider habe sich dieses Verbot nicht lange gehalten mit der Folge, daß viele Deutsche, die vor 1945 im Reichssicherheitshauptamt, in der Gestapo oder der Nazijustiz tätig gewesen waren, in den Justizorganen des Nachfolgestaates Bundesrepublik Deutschland Aufnahme fanden oder die dessen Geheimdienste mitbegründeten. Der deutsche Sicherheitsapparat befände sich heute "sehr auf der Höhe der Zeit" und sei, auch was die Personalstärke beträfe, bestens aufgestellt und ausgerüstet. Dazu gehöre ein System der Überwachung und eine Art Frühwarnsystem für systemkritische Tendenzen, wofür die sattsam bekannten Organe - Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst - zuständig seien.

Darüberhinaus gäbe es, wie es im Polizeijargon heißt, "kleine" und "große Lagen". Unter einer "kleinen Lage" sei eine Demonstration oder vielleicht eine Hausbesetzung zu verstehen, die mit normalen polizeilichen Mitteln unter Kontrolle gehalten werden könne. Als "große Lage" werden größere, vielleicht zeitgleich in verschiedenen Regionen Deutschlands durchgeführte Demonstrationen oder auch Streiks bezeichnet, wenn zu ihrer Bewältigung Einheiten der Bundes- oder der Bereitschaftspolizei, die in großen Verbänden organisiert und dementsprechend ausgebildet wurden, erforderlich sind. Als letzten "Berstschutz", wie Schneider es nannte, gäbe es dann noch die Möglichkeit eines Einsatzes der Bundeswehr im Innern.

Seit 20 Jahren sei der Sicherheitsapparat nicht mehr gewachsen. Er umfasse ohne die Bundeswehr rund 60.000 Personen, die über eine entsprechende Ausbildung verfügten und in den genannten staatlichen Institutionen tätig seien. Innerhalb des Polizeiapparates, der insgesamt über 200.000 Angehörige umfasse, seien nur die in Sonderkommandos oder der Bereitschaftspolizei tätigen Kräfte eingerechnet, nicht die vielen kleinen Reviere. Um darzulegen, woran seitens des Staates gearbeitet werde, um dieses System noch zu verbessern, begann der Referent mit dem Thema Überwachung, bei dem es angesichts der technologischen Entwicklung geradezu einen Urknall gegeben habe. Vor 40 Jahren habe das BKA mit acht Großrechnern angefangen, die aussahen wie überdimensionierte Kühlschränke.

Der Referent zählte auf, was heute auf gesetzlicher Basis und größtenteils online alles gemacht werden dürfe: Telekommunikations-, Wohnraum- und Büroüberwachung, wobei das Eindringen in einen Rechner durch einen Staatstrojaner möglich, aber rechtlich ein bißchen umstritten sei, dann die standardmäßige Durchführung einer Handyortung (so wurden 2012 328.000 stille SMS, die ein Signal zur Handyortung auslösten, verschickt). Zur Überwachung gehörten aber auch Kameras im öffentlichen Raum, wobei es Pilotprojekte zur biometrischen Gesichtsfelderkennung gäbe, die Kontrolle von Geldüberweisungen und Fluggastdaten sowie die herkömmlichen, "old school" genannten Überwachungsmethoden wie Observation, den Einsatz verdeckter Ermittler und polizeilicher Provokateure, Internetrecherche, Veranstaltungs- und Demobeobachtung und die bei den unterschiedlichsten Organen geführten Daten über sogenannte Verfassungsfeinde in Kategorien wie "Gewalttäter links", "gewaltbereite Demonstranten" und vieles mehr. Eine Vollkontrolle gäbe es in diesem Bereich - noch - nicht. Maßnahmen und Eingriffe dieser Art, die an einen Verdacht anknüpften, erforderten eine richterliche Genehmigung und müßten nachvollziehbar gehalten und dokumentiert werden. Die Sicherheitsorgane würden hier gern mehr machen, hätten jedoch Schwierigkeiten bei der juristischen Durchsetzung.

Zur Herrschaftssicherung via Repression gehörten auch, so fuhr Schneider fort, Verbote von Parteien oder Organisationen. Seit Bestehen der Bundesrepublik, in fast 65 Jahren, habe es davon zwar nicht viele gegeben, doch die seien sehr einschneidend gewesen und hätten Auswirkungen bis heute. Das KPD-Verbot von 1956 sei ein Schlüssel für die anschließende Strafverfolgung von Kommunistinnen und Kommunisten und ihre Ausgrenzung aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik gewesen. Das Verbot der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und anderer Vereine und Organisationen von 1993 hätte eine vergleichbare, bis heute anhaltende Wirkung gehabt und sei die Grundlage einer politischen Strafverfolgung geworden mit der Folge, daß politische Gespräche mit kurdischen Organisationen unmöglich gemacht und ihre Repräsentanten ausgegrenzt wurden. In diesem Zusammenhang erwähnte der Referent die Terrorliste der Europäischen Union, an deren Zustandekommen die Sicherheitsorgane und Geheimdienste der Bundesrepublik Deutschland mitwirkten. Auf dieser Liste befänden sich keine deutschen, aber in Deutschland tätige ausländische Organisationen wie eben die PKK oder die türkische Organisation DHKP-C. Diese Liste habe ihre Vorbilder in der Bundesrepublik und sei ein außerhalb des Bereichs der Justiz installiertes Instrument der politischen Ausgrenzung und Diskriminierung.

Ergänzend zum Sicherheitsapparat sei noch die politische Justiz zu erwähnen mit der Bundesanwaltschaft und speziellen Gerichten, die gegen alle vorgingen, die diese Ordnung stören. In der frühen Phase der Bundesrepublik hatte die Kommunistenverfolgung durch die politische Strafjustiz zu etwa 125.000 Ermittlungsverfahren und fast 7.000 Verurteilungen geführt. In den sogenannten Terrorismusverfahren der 1970er, -80er und -90er Jahre, wobei noch nicht einmal an die großen RAF-Prozesse zu denken sei, habe es rund eintausend Verurteilungen gegeben. Mit § 129a StGB wurde eine Vorschrift geschaffen, durch die auch die bloße Mitgliedschaft, Unterstützung oder Werbung für eine terroristische Vereinigung unter Strafe gestellt wurde. Die meisten der rund 7.000 eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurden wieder eingestellt und verfehlten dennoch nicht ihre Wirkung. § 129a erwies sich als Ausforschungs- und Gesinnungsparagraph, der es den Staatsschutzabteilungen ermöglichte, gegen bestimmte Personen, Organisationen und Szenen vorzugehen.

Seine Ausweitung auf in Deutschland tätige ausländische Organisationen durch § 129b StGB führte dazu, daß Aktivisten bestraft wurden, die in Deutschland keine Straftat begangen hatten, sondern Grundrechte politischer Betätigung wahrgenommen hatten, indem sie Büros eröffnet, Vereine gegründet, Demonstrationen abgehalten oder Spendengelder gesammelt hätten. Dies geschah (und geschieht), wie Schneider erläuterte, anhand des Konstrukts einer Zweifrontentheorie, derzufolge es im Ausland eine "terroristische Front" gäbe, die von Deutschland aus unterstützt werde durch Personen, die eine "Rückfront" bildeten. Beide Fronten ergäben zusammen die terroristische Vereinigung, weshalb im Ausland begangene Straftaten auch den Aktivisten im Inland in einer Weise zuzurechnen sei, die ihre Kriminalisierung nach deutschem Strafrecht ermögliche. Später sollte der Referent diesen Paragraphen auf Nachfrage noch als einen Gummiparagraphen bezeichnen, der eigentlich abgeschafft gehöre. Er ist die einzige Strafvorschrift, bei der das Bundesjustizministerium jede Ermittlungstätigkeit vorab genehmigen muß und dabei zugrundelegen kann, ob eine Strafverfolgung den außenpolitischen Interessen Deutschlands widersprechen würde.

Zum Thema Strafjustiz erwähnte der Referent abschließend noch die Diskussion um das sogenannte Feindstrafrecht. Ausgehend von dem auf "islamistische Terroristen" gemünzten Ausspruch Otto Schilys in seiner Zeit als Bundesinnenminister, "wenn sie den Tod wollen, können sie ihn von uns bekommen", hätten etliche Professoren die Frage erörtert, ob bestimmte Kategorien von Angeklagten gar nicht mehr vor ordentliche Gericht gestellt, sondern durch Spezialgerichte wie etwa Militärtribunale abgeurteilt werden sollten. Die Diskussion der Frage, ob es notwendig sei, bestimmte Menschen einem gesetzlichen Richter zu entziehen, sei in Deutschland zwar abgeflaut, habe in den USA jedoch zu praktischen Konsequenzen geführt, den Weg nach Guantanamo geebnet, das Folterverbot gelockert und eine ideologische Grundlage für Liquidierungen durch Kampfdrohnen in anderen Ländern unter Verletzung rechtsstaatlicher Garantien geliefert.

Zum Bundeswehreinsatz im Innern, dem letzten Punkt repressiver Herrschaftssicherung, sei noch zu sagen, daß in den Sicherheitsorganen und der Politik, da er mit einer großen Hürde versehen ist, seit Jahren die Tendenz vorherrsche, die Einsatzschwelle zu senken. Es gäbe das starke Interesse, die Bundeswehr nicht nur beim Objektschutz oder der Fluthilfe einzusetzen, sondern auch im Innern. Die Stellungnahme der Kanzlerin auf der Sicherheitskonferenz von 2005, daß die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit zunehmend verschwimmen und internationale Einsätze unter Beteiligung Deutschlands sowie der Einsatz der Bundeswehr im Innern deshalb zwei Seiten derselben Medaille sind, sei mehr als eine politische Absichtserklärung.

Das werde bereits praktisch umgesetzt, wie Manöver und Übungsszenarien der sogenannten zivil-militärischen Zusammenarbeit unter Beteiligung von Polizei, Bundeswehr und Bundesministerien, aber auch zivilen Einrichtungen wie dem Technischen Hilfswerk zeigten. Auch gäbe es Übungen der Bundeswehr für Kriegseinsätze, die genausogut in Deutschland selbst durchgeführt werden könnten. So wurde im Oktober auf den Truppenübungsplätzen in Bergen und Munster ein Szenario geprobt, bei dem unter Beteiligung von 3.500 Soldaten die Bekämpfung Aufständischer trainiert wurde mit allem, was die Bundeswehr "crowd riot control" nennt: Häuserkampf, Feindaufklärung, Schießen und Kommandoaktionen gegen Führungspersönlichkeiten. Das sah dann so aus, daß Soldaten gegen eine aufgebrachte Menschenmenge, die Transparente mit sich führten und laute Sprechchöre skandierten, vorgingen.

Zum Abschluß seines informativen und von den Zuhörenden positiv aufgenommenen Vortrags stellte Schneider die Frage, ob die in der Bundesrepublik zur Zeit noch dominierende Variante der integrativen Herrschaftssicherung, also die durch ideologische Beeinflussung und materielle Zugeständnisse erreichbare Systemloyalität, auch in Zukunft ausreichen wird oder ob sich eine latent ohnehin vorhandene Unzufriedenheit zu einem antikapitalistischen Bewußtsein, einer dementsprechenden Organisierung und politischen Praxis zuspitzen könnte. Die Krisenhaftigkeit des Systems spräche eher dafür, so das Fazit des Referenten, daß diese Frage unklar bleiben werde, weshalb es sein könne, daß der Herrschaftssicherung per Zuckerbrot die größte Bewährungsprobe erst noch bevorstehe.

Das System der Repression sei wie ein Eisberg, von dem man nur die Spitze sähe und das meiste unter Wasser sei. Die Gefahr sei ziemlich deutlich, und so sei es angesichts der Debatte um die Überwachung durch die NSA fraglich, ob es den deutschen Sicherheitsorganen möglich sein werde, eine digitale Vollüberwachung der Kommunikation in Deutschland durchzuführen. Technisch sei ein solcher Einsatz gegen den "Feind im Innern" sicherlich möglich und politisch eher erwünscht. Angeblich soll der Bundesnachrichtendienst bereits am "German Commercial Internet Exchange" in Frankfurt am Main, genannt DE-CIX, dem weltweit größten Internet-Knotenpunkt der Welt, präsent sein, um unter Verwendung von 16.000 Suchbegriffen die Auslandskommunikation abzugreifen.

Eine Vollkontrolle der Kommunikation durch den Staatsschutz wäre in legaler Form nicht möglich wegen des anerkannten Grundrechts auf Datenschutz und -sicherheit, des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das sich in jüngerer Zeit gegen einige Überwachungs- und Speicherformen wie die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen habe. Auch darin läge, so Schneiders Fazit, eine juristische Hürde, weshalb zu wünschen sei, daß es nicht zu einem "deutschen 11. September" kommen werde, um Ausnahmegesetze wie den US-amerikanischen Patriot Act aus den Schubladen zu holen.

Blick von hinten aufs Publikum, vorne der Referent - Foto: © 2013 by Schattenblick

Engagierte Diskussion über Herrschaftssicherung und die Frage "Was tun?"
Foto: © 2013 by Schattenblick

In der anschließenden Diskussion stellte sich schnell heraus, daß der Vortrag von den Anwesenden durchweg positiv aufgenommen und durch viele Anmerkungen, Stellungnahmen und weiterführende Fragestellungen ergänzt wurde. Ein Teilnehmer brachte zum Ausdruck, daß ihm der Faschismus im Vergleich zu dem heutigen Überwachungsapparat relativ primitiv erscheine und wollte wissen, ob das System bürgerlicher Herrschaft heute so gut funktioniere, daß es nicht mehr auf den Faschismus zurückgreifen müsse. Ein weiterer Diskutant merkte dazu an, daß das Herrschaftssystem im Faschismus noch auf Spitzel und Denunzianten angewiesen gewesen sei und daß sich eine solche "Mitarbeit" heute vollständig erledigt zu haben scheint. Jürgen Schneider stellte klar, daß er zwischen Faschismus und dem heutigen System einen markanten Unterschied sehe in der Intensität, in der die repressive Herrschaftsvariante angewandt werde. 1934, ohne Internet und nur mit Festnetztelefon, hätte es überhaupt noch nicht die Möglichkeiten zur Überwachung gegeben wie heute.

Eine Teilnehmerin erweiterte die Bereiche integrativer Herrschaftssicherung noch um die Wohlfahrtsoligarchie sowie die Psychiatrie bzw. Medizin. Ein anderer ergänzte, daß die DKP nach ihrer Gründung zwar nicht verboten wurde, daß aber auch ohne Gefängnis eine Lähmung der kritischen Masse bewerkstelligt werden konnte durch die Praxis der Berufsverbote, die auch nach 40 Jahren noch nachwirkten und bis heute nicht aufgehoben seien. Angesprochen wurde auch die Zerstörung des Streikrechts, die in keinem der europäischen Nachbarländer so weitreichend durchgesetzt werden konnte wie in Deutschland, wo alles verboten ist, was tariflich nicht zwischen den Sozialpartnern ausgehandelt werde, also politische Streiks, aber auch Spontan- und Solidaritätsstreiks aller Art. Ein solches Streikverbot richte sich ganz unmittelbar gegen die Arbeiterbewegung. Ein weiterer Teilnehmer umriß kurz die sogenannte "Strategie der Spannung", die seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgt werde. Nazis hätten sich mit westlichen Geheimdiensten verbunden und den Kalten Krieg vorbereitet. Mit gezielten Aktionen - Stichwort: "Gladio" und "Stay behind" - sei durch rechten Terror ein Klima geschaffen worden, um immer einen Schritt voraus zu sein. 9/11 habe zu einer Akzeptanz des neuen Sicherheitssystems geführt.

Von einer "Erziehung zum Duckmäusertum" habe man früher gesprochen, so ein weiterer Kommentar zum Thema. Auf Anregung des Schattenblick, beim Thema Herrschaftssicherung in all den angesprochenen Varianten doch um einer Gegenposition willen auch die Seite der ihr gegenüberstehenden Menschen zu berücksichtigen, die nicht ohne ihre Bereitschaft zu Duckmäusern erzogen werden könnten, erklärte der Referent, daß dies nicht das Thema seines Vortrags gewesen sei und daß ein Ko-Referat eigentlich noch dazugehört hätte, um zu erörtern, wie unter Berücksichtigung der beschriebenen Herrschaftsvarianten dieser Politik etwas entgegengesetzt werden könne.

Auf die konkrete Nachfrage, ob es eine allgemein verbindliche Definition von Terrorismus gäbe, erklärte Schneider, daß die UN-Völkerrechtskommission dies einmal versucht habe, aber gescheitert sei. Terrorismus ist und bleibt ein Kampfbegriff, so der Referent, und werde zum Teil seit Jahrzehnten gegen nationale Befreiungsbewegungen in Stellung gebracht, die sich gegen die anhaltende Präsenz ihrer Kolonialherren zur Wehr setzten. Nelson Mandela, der (inzwischen verstorbene) erste schwarze Präsident Südafrikas, sei vor 50 Jahren auch als "Terrorist" zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Zum Abschluß unterstrich der Referent noch einmal seinen Standpunkt, daß der Kapitalismus die Schwachstelle sei und daß es möglich und notwendig sei, die Systemfrage zu stellen. Die Zukunft werde erst noch geschrieben, und so sei er sich keineswegs sicher, daß es einfach nur ein "weiter so" geben werde. Das Gefühl, daß mit dem kapitalistischen System, seinem Profitprinzip und seinen Sozial- und Politikfeldern grundsätzlich etwas nicht stimme, sei schon millionenfach vorhanden; es hapere noch an den nächsten Schritten. Die Frage danach, wieviele Menschen an der integrativen Herrschaftsvariante beteiligt sind, sei schwer zu beantworten, weil es dazu kaum Zahlen gäbe und viele auf der Zuckerbrot-Seite - beispielsweise auch in den Gewerkschaften - glaubten, etwas Positives bewirken zu können.

Befragt danach, was auf der Seite der Repression präventiv noch auf uns zukommen könnte, schilderte Schneider die Situation in Großbritannien, wo es zum einen eine stärkere Videoüberwachung und zum anderen Gesetze gäbe, die, was nach deutschem Polizeirecht nicht möglich ist, eine Internierung über Monate hinweg vorsehen. In dieser Richtung gäbe es hierzulande sicherlich Begehrlichkeiten. Zum Abschluß der von einem großen Interesse an all diesen Fragen zeugenden Diskussion warf Christian Arndt die Frage auf, was denn zu tun sei, wenn man bedenkt, wie noch Ende der 1980er Jahre die damalige Volkszählung verhindert werden konnte, während heute mit größter Bereitschaft die persönlichsten Daten weitergegeben werden.

Eine Teilnehmerin erklärte, dies sei nach so einem Vortrag der dritte Schritt vor dem ersten. Die Frage, "was machen wir denn selber?" sei keineswegs unsinnig, da das eigene Verhalten sofort geändert werden könne. Die anwesende Schattenblick-Redakteurin sprach sich dafür aus, der Frage "was tun?" weiter nachzugehen, ohne auf eine schnelle Antwort zu reflektieren, und die Unruhe, die der Vortrag ausgelöst habe, zu erhalten. Eine Teilnehmerin resümierte in ihrem Schlußwort, daß die herrschende Klasse präventiv vorgehe, so als ob sie wüßte, daß ihre Tage gezählt seien, was auch als ein Zeichen der Schwäche zu werten sei. Dem wurde an dieser Stelle und zu dieser Stunde von niemandem widersprochen, hatten doch diese Worte der Hoffnung auf einen tiefgreifenden Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse Ausdruck verliehen.

Offenbar wiesen nach dieser Konfrontation mit einem Kontroll- und Überwachungssystem, das nahezu alle Bereiche menschlichen und gesellschaftlichen Lebens zum Gegenstand seiner Betrachtung, Registrierung und sicherheitspolitischen Bewertung gemacht hat, Perspektiven über einen in die Zukunft projizierten und ebenso erstrebenswerten wie akzeptablen Zustand vergesellschafteten Lebens eine größere Attraktivität auf als die weitere Beschäftigung mit der nüchternen Frage nach der eigenen Beteiligung am Zustand des Beherrschtseins bzw. Sich-beherrschen-Lassens, ohne die wohl weder zu erklären noch abzuändern sein wird, daß rund 80 Millionen Menschen hier in der Bundesrepublik Deutschland durch einen von 60.000 oder auch deutlich mehr Personen getragenen Sicherheitsapparat kontrolliert werden können.

Dr. Jürgen Schneider und Christian Arndt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Den Kapitalismus zur Schwachstelle erklärt
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] Siehe auch das Interview mit Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/204: Herrschaft in der Krise - Horizont der Mühen, Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0204.html

[3] http://www.welt.de/wirtschaft/article121913417/Die-globale-Elite-fuerchtet-den-Aufstand-der-Massen.html

[4] Bald EU-Aufstandsbekämpfung bei Generalstreiks und Schweinegrippe? Von Matthias Monroy, telepolis, 04.02.2013
http://www.heise.de/tp/artikel/38/38500/1.html


Bisherige Beiträge zur Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/165: Herrschaft in der Krise - Wo steht der Feind? (SB)
BERICHT/166: Herrschaft in der Krise - Mangel, Druck und Staatsräson (SB)
BERICHT/168: Herrschaft in der Krise - Zweckform Euro (SB)
BERICHT/173: Herrschaft in der Krise - Die Mehrheitslogik (SB)
INTERVIEW/196: Herrschaft in der Krise - Bündnisse der Arbeit, Hans-Peter Brenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/197: Herrschaft in der Krise - der Lackmustest, Markus Bernhardt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/198: Herrschaft in der Krise - türkisch-linke Bündnisfragen, Duran Kiymazaslan im Gespräch (SB)
INTERVIEW/199: Herrschaft in der Krise - am linken Schlaf vorbei, Sylvia Brennemann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/201: Herrschaft in der Krise - Wo der Mumm fehlt! Wolfgang Erdmann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/202: Herrschaft in der Krise - Ratio des Mehrgewinns, Andreas Wehr im Gespräch (SB)
INTERVIEW/204: Herrschaft in der Krise - Horizont der Mühen, Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Gespräch (SB)
INTERVIEW/205: Herrschaft in der Krise - Kampfverstand und Korrektur, Jürgen Lloyd im Gespräch (SB)

12. Dezember 2013