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BERICHT/287: G20-Resümee - gutes Recht zu nutzen schlecht ... (SB)



Jesus sagt zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nichts, da er sein Haupt hin lege.

Matthäus 8:20

Wie sich im Rückblick auf den G20-Gipfel in aller Deutlichkeit abzeichnet, nahmen die maßgeblichen Strategen dieser Demonstration repressiver Staatlichkeit die mutmaßlichen Stärken der Protestbewegung systematisch ins Visier, um sie auszuhebeln. Das galt nicht zuletzt für die geplanten Camps der Gipfelgegner, die als Basislager versammelten Widerstands von weitreichender Bedeutung für die proklamierte Selbstermächtigung sind. Sie stellen zum einen die erforderliche Infrastruktur bereit, um eine große Zahl angereister Menschen über mehrere Tage zu beherbergen und zu versorgen. Darüber hinaus können sie im besten Falle Schnittstellen gegenkultureller Lernprozesse und Begegnungsflächen werden, indem sie die inhaltliche Auseinandersetzung, Erprobung von Fertigkeiten zivilen Ungehorsams und mannigfaltigen Diskussionsprozesse begünstigen.

Zugleich sind solche Camps Zentren in Anspruch genommenen Versammlungsrechts, die zwar nicht befreite Zonen in ansonsten systemisch versiegelten gesellschaftlichen Verhältnissen sind, doch zumindest für gewisse Fristen Orte selbstorganisierter Zusammenkunft etablieren und durchsetzen können. Wenngleich man wohl diffusen Transformationsvorstellungen aufsäße, erklärte man sie pauschal zu einer Vorwegnahme der vielzitierten "anderen Welt", dienen sie doch als lebenspraxisbezogene Experimentierfelder der Erprobung für emanzipatorisch erachteter sozialer Bezüge und Strukturen des Widerstands. Im Kontext der Gipfelproteste repräsentieren sie über Jahre gewachsene Ausdrucksformen der Rückgewinnung eines öffentlichen Raums, den sicherheitsstaatliche Zugriffsinteressen in zunehmendem Maße als Verbotszonen deklarieren, um organisierter Gegenwehr den Boden zu entziehen.


Banner 'Yes We Camp' vor Kirche - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/34862970933/in/album-72157682897590804/

Rasande Tyskar - G20 Protest Hamburg
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/35565320050/in/album-72157682897590804/

Hamburg des Ausnahmezustands - Hamburg der Solidarität

Am 15. September fand im Hamburger DGB-Haus auf Einladung der G20-Plattform unter dem Motto "G20 - das war der Gipfel - Aktivistinnen und Betroffene berichten" eine öffentliche Veranstaltung statt, auf der Bilanz gezogen und die weitere Aufarbeitung organisiert wurde. [1] Als Moderatorin des ersten Teils dieser Podiumsdiskussion hob Corinna Genschel von der Kontaktstelle soziale Bewegungen der Linksfraktion im Bundestag den politischen, polizeilichen und medialen Ausnahmezustand im Kontext des Gipfels hervor. In einer Linie mit früheren Gipfeln, doch versehen mit neuen Stufen der Eskalation und Repression, repräsentiere Summit policing ein von vornherein demokratie- und versammlungsfeindliches Vorgehen, das ein Klima der Bedrohung und Angst schaffe. Angefangen von der Einsetzung des als Hardliner berüchtigten Hartmut Dudde als obersten Einsatzleiter über das Vorgehen gegen die Camps und die Angriffe auf Demonstrationen mit Spezialkräften und Tränengas bis hin zu Übergriffen gegen Anwältinnen und Sanitäter wie auch der Verhinderung einer parlamentarischen Untersuchungskommission spanne sich ein Bogen der Kriminalisierung des Protests und Verschleierung der Ereignisse in der Hansestadt.

Laut der vom NDR am 6. September genannten Zahlen waren zu diesem Zeitpunkt noch 2000 Fälle anhängig, ohne daß Ermittlungsverfahren eingeleitet worden waren. Es seien 109 Verfahren gegen Bekannt, 69 gegen Unbekannt eingeleitet, 28 Menschen säßen nach wie vor in U-Haft, die überwiegend aus anderen Ländern stammen. Fünf Verfahren seien in erster Instanz mit teils drakonischen Strafen abgeschlossen worden. Der erst im Juli neu geschaffene Paragraph 114 sehe Strafverschärfung auf Polizeibeamte vor und habe bereits Anwendung gefunden. Auf Druck der Öffentlichkeit seien 95 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet worden, doch stehe zu befürchten, daß sie ganz oder größtenteils im Sande verlaufen würden.

Die Veranstaltung richte den Blick jedoch nicht nur auf den Ausnahmezustand und die Polizeigewalt, sondern auch auf eine andere Erfahrung, die es in Hamburg ebenfalls gegeben habe. Menschen, die am Protest beteiligt waren, kehrten ermächtigt zurück. Die Stadt sei mit 50 Protestereignissen und einer großen Bündnisdemo von 76.000 Menschen regelrecht in Bewegung gewesen, Tausende Gäste sei selbstorganisiert in Camps, Kirchengemeinden, im Schauspielhaus oder in Wohnprojekten untergebracht worden. Eine Mobilisierung gegen die Angst habe in Vielfalt ein Zeichen gegen die globale Politik der G20 gesetzt und dem Gipfel der Ungerechtigkeit jegliche Legitimität abgesprochen. Es existiere eine Globalisierungskritik von links, die sich die Straße nehme.


Referent mit Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Rolf Becker eröffnet die Manöverkritik
Foto: © 2017 by Schattenblick

Rolf Becker stellt drei Fragen

Rolf Becker, der unter anderem bei der Pressekonferenz nach der Räumung von Entenwerder am Jungfernstieg unter dem Titel "Wir zeigen Haltung für Demokratie" eindeutig Position bezogen hatte, stimmte die Anwesenden auf die zu leistende Manöverkritik ein. Vorab zitierte er Peter Weiss: "Glaubt ihnen nicht. Glaubt ihnen nicht, wenn sie euch freundschaftlich auf die Schultern klopfen und sagen, die Unterschiede wären nicht mehr der Rede wert und es bestände kein Anlaß mehr zu Streitigkeiten. Denn dann sind sie ganz auf der Höhe in ihren neuen Burgen aus Marmor und Stahl, von denen aus sie die Welt ausräubern unter der Devise, sie verbreiteten Kultur." Dann nahm er zu drei Fragen Stellung.

Erstens: Warum G20 statt UNO? G20 sei bekanntlich ein errungenes Zugeständnis der G7, also der wirtschaftlich stärksten Industrienationen, an die sogenannten Schwellenländer. In der UNO seien jedoch 193 Staaten vertreten, 173 bleiben bei den G20 ausgeschlossen, darunter jene aus Afrika. Afrika solle für die nächsten Jahre Thema werden: Wie kann man wirtschaftlich auch da noch abgrasen? Die Verelendenden, die Verdammten dieser Erde blieben ausgeschlossen. Daher die Forderung: Die gemeinsamen Probleme dieser Welt gemeinsam abzuhandeln, damit dieser Stern unsere Zuflucht bleiben kann. Die Formulierung stamme von Brecht, 1949 geschrieben: "Außer diesem Stern, dachte ich, ist nichts. Und er ist so verwüstet. Er allein ist unsere Zukunft, und die sieht so aus."

Zweitens: Warum G20 in Hamburg? Die Welt schrieb vier Tage vor dem Gipfel: "Der G20-Gipfel verlangt Hamburg viel ab. Die mächtigsten Staatschefs werden umrahmt vom größten Polizeieinsatz, blockierten Wegen und brutalen Protesten." Sie hätten gewußt, was sie inszenieren. "Unser Überblick der Schlachtfelder dieser Konferenz der Superlative." Olaf Scholz begründete im Vorfeld seine Entscheidung, den G20-Gipfel in die Stadt zu holen, mit der Präambel zur Hamburger Verfassung: "Die Freie und Hansestadt Hamburg hat für uns als Welthafenstadt eine durch Geschichte und Lage zugewiesene besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volk zu erfüllen. Sie will im Geiste des Friedens eine Mittlerin sein zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt." Ob davon die Rede gewesen sei, fragte Rolf Becker. Drei Tage vor dem Gipfel habe Scholz erklärt: "Es ist gut, daß das Treffen in einem demokratischen Land mit einer starken Zivilgesellschaft und einer wachen Öffentlichkeit stattfindet. Die Weltgemeinschaft der Staaten braucht eine Weltöffentlichkeit, die ihre Erwartung an die politischen Handelnden formuliert und die Ergebnisse kontrolliert." Würde er seine Worte, nachdem der Gipfel gelaufen ist, noch wiederholen? Scholz müsse sich die Frage gefallen lassen, wer denn diese starke Zivilgesellschaft, diese wache Öffentlichkeit ist. Dazu Tucholsky: "Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht. Uns Kommunisten, Sozialisten, Pazifisten, Freiheitsliebende aller Grade. Man hat uns mitzudenken, wenn Deutschland gedacht wird. Wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden. Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil davon sind wir." "Wir sind", wie Esther Bejarano auf der Abschlußkundgebung gesagt habe, "für eine andere Welt, für eine Welt ohne Kriege, ohne Waffenhandel, ohne Hunger, ohne Ausbeutung, für einen verantwortlichen Umgang mit unserem Planeten Erde zum Wohl kommender Generationen".

Drittens zur G20-Woche: Angekündigt als Festival der Demokratie und dann, wie von den Gipfelgegnern vorausgesagt, die herbeigeführte Konfrontation, begleitet von einem medialen Ausnahmezustand, so Becker. Er habe während des Jugoslawienkrieges mit einem Journalisten in Belgrad gesprochen, dem Berichterstatter des Balkans von der ARD. Der habe gesagt: "Ich weiß nicht genau, was das war, die totale Eingrenzung der Presse 1933 oder 1934. Aber das, was ich erlebe, erinnert mich daran." Die Fakten blieben weitgehend unberücksichtigt, Antworten auf die Fragen fehlten: Wie kam es zur 37 Quadratkilometer großen Sperrzone, zur Behinderung von Kundgebungen, zum Verbot der Nutzung öffentlicher Grünanlagen, dem brutalen Abräumen der Aktionscamps wie Entenwerder, der Uminterpretation von Gerichtsbeschlüssen in ihr Gegenteil? Wie Innensenator Andy Grote vor dem Gipfel wörtlich erklärt habe, gebe es keinen Spielraum für politische Aushandlungsprozesse. Dies sei ein Freibrief für die Polizei gewesen, zu machen, was immer sie wolle. Kommentar des Juristen und Polizeiwissenschaftlers Prof. Thomas Feltes: "Mit der Entscheidung für Hamburg hat man die Polizei in eine Zwangssituation gebracht, die ohne Fehler gar nicht zu bewältigen ist. Abwägungen finden nicht mehr statt. Jedes Maß ist verlorengegangen." Die Polizei übernehme Aufgaben, für die sie nicht ausgebildet sei. Aus dem eigentlichen Konflikt zwischen Protestbewegung und Politikern sei ein Konflikt zwischen Protestierenden und Polizei geworden. Die für die Eskalation verantwortlichen Politiker bildeten sich ein, sie könnten ihre Hände in Unschuld waschen. "Aber wir wissen und werden nachweisen, daß sie oder wie weit sie verantwortlich sind, nicht die von ihnen bezahlten und gegen uns mobilisierten Polizisten, die ihren Job machen, wenn auch nicht gerade zimperlich." Dazu ein Brecht-Zitat, 1928 gegen Ende der Weimarer Zeit niedergeschrieben: "In den Städten dieser Zeit herrscht keine Ordnung. Der Gummiknüppel hält die Unsicherheit aufrecht. Keine Wüste ist so unheimisch wie die Städte für uns sind. Kein reißendes Tier ist zu uns wie der Mensch, der von der Polizei geschützt wird. Sie sind es, nicht die Polizisten, mit denen wir uns auf der Straße manchmal gezwungenerweise auseinandersetzen."

Abschließend fügte Rolf Becker einige Anmerkungen hinzu, die zu bedenken er für unerläßlich hält. Angesichts der Kräfteverhältnisse in dieser Gesellschaft sei es für eine Minderheit nicht nur gefährlich, sondern auch nachteilig, von sich aus aggressiv vorzugehen. Autos zu zerstören oder kleine Läden auszuplündern, bringe nicht nur die Betroffenen, sondern auch die arbeitenden Menschen hierzulande gegen die Bewegung auf. Obgleich es nach solchen Polizeieinsätzen nachvollziehbar sei, daß irrational gehandelt werde, müsse man zum vernünftigen Handeln zurückfinden. Zum zweiten sitze Fabio immer noch in U-Haft, und seine Anwältin Gabriele Heinecke sei mit ihrer Forderung, man möge doch Fakten nennen, abgeblockt worden mit der Begründung, er sei und bleibe verdächtig. Das sei tendenziell Gesinnungsjustiz und erinnere an Brechts Satz, ebenfalls aus der Weimarer Zeit: "Im Troß der Räuberhorden ziehen die Gerichte." Eine dritte Anmerkung betreffe die Gewerkschaft: Die Gewerkschaftsjugend dürfe nie wieder so unzureichend unterstützt, teilweise im Stich gelassen werden, man müsse den Kampf an der Seite dieser Jugendlichen aufnehmen: An wen sollen sie sich wenden, wenn wir sie im Stich lassen! Ein letzter Satz mit Erich Fried: "Wer will, daß die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, daß sie bleibt. Laßt sie uns ändern!"


Zelte und Polizei - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/34862970933/in/album-72157682897590804/

Rasande Tyskar - G20 Protest Hamburg-Entenwerder 2017_07_02
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/34862970933/in/album-72157682897590804/

Berichte aus Entenwerder und dem Volkspark Altona

Über die Angriffe auf das antikapitalistische Camp, das zuerst im Stadtpark und dann in Entenwerder stattfinden sollte, berichtete Martin Klingner, der es anwaltlich betreut hat. Nach seinen Worten ist bei den Auseinandersetzungen um die Camps bereits alles zum Tragen gekommen, was dann in der Protestwoche weiter eskalierte, Gespräche über mögliche Lösungen wurden von vornherein abgeblockt. Dies habe dazu geführt, daß das antikapitalistische Camp letztlich keines seiner Ziele realisiert habe. Die Abfolge der Ereignisse stellt sich demnach so dar: Die Anmeldung des Camps als politische Versammlung wurde von der Versammlungsbehörde blockiert, die eine "Sondernutzung" des Stadtparks ausschloß. Auch das Bezirksamt lehnte dies unter Verweis auf eine vorgegebene Linie, aber auch eine Schädigung der Grünflächen ab. Es bedarf kaum des Verweises auf das wenig später durchgeführte Konzert der Rolling Stones im Stadtpark, um letzteres als vorgeschobenes Argument zu identifizieren. Nach Ausschöpfung des Rechtswegs bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht räumte dieses zumindest Elemente ein, die Versammlungscharakter haben. Deshalb sei das Versammlungsrecht im Zweifel anzuwenden. Diesen Teilerfolg, der sich auch auf das Übernachten als integralen Bestandteil beziehen ließ, erkannte die Versammlungsbehörde jedoch nicht: Im Beschluß des BVerfG stehe nichts von Zelten zur Übernachtung, der Stadtpark komme grundsätzlich nicht in Betracht.

In Hinblick auf die Demoverbotszone entschloß sich das Orgateam, eine andere Fläche zu wählen, nämlich Entenwerder außerhalb der Verbotszone, aber noch relativ zentral gelegen. Auch dort erfolgte zunächst eine Verbotsverfügung, die dann vom Verwaltungsgericht vorläufig aufgehoben wurde. Als der Aufbau des Camps beginnen sollte, war das Gelände jedoch von der Polizei abgeriegelt. Die Einsatzleitung vor Ort hielt Rücksprache mit Dudde, der verfügte, daß überhaupt nichts stattfinden dürfe. Damit habe sich die Polizei ein zweites Mal über eine gerichtliche Entscheidung hinweggesetzt, so Klingner. Es handle sich um einen regelrechten Putsch der Polizei, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoße. Nach erneuter Inanspruchnahme der Gerichte erlaubte die Versammlungsbehörde schließlich, auf einem Teil des Geländes eine Versammlung abzuhalten, nicht aber zu zelten. Dies wurde vom Verwaltungsgericht bestätigt, die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, daß auf einer Grünfläche auch gezeltet werden dürfe, kam erst am Mittwoch und damit zu spät, um davon noch Gebrauch zu machen. Unterdessen hatte die Polizei Leute und Zelte mitten in der Nacht unter Schlagstockeinsatz und Pfefferspray abgeräumt, ständig Personen kontrolliert und verhindert, daß Essen aufs Gelände gebracht wurde. In dieser Atmosphäre war ein Camp in der geplanten Form nicht mehr möglich. Der juristische Erfolg sei für die Zukunft wichtig, aber für die konkrete Durchsetzung des Camps zu spät gekommen, schloß Martin Klingner seinen Bericht.


Zelt mit Aufschrift 'Queer Barrio' - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/34862970933/in/album-72157682897590804/

Rasande Tyskar - G20 Protest Hamburg-Entenwerder 2017_07_02
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/34862970933/in/album-72157682897590804/

Halil berichtete aus dem spektrenübergreifenden Camp im Altonaer Volkspark, das strategisch darauf angelegt war, breitere Teile der Zivilgesellschaft mitzunehmen. Das habe nicht allzu gut funktioniert, da der Senat vor allem wegen seiner Person versucht habe, das Camp zu kriminalisieren und dessen Organisatoren in eine linksradikale Ecke zu stellen. Eine Woche vor dem Gipfel habe eine Sondereinheit der Polizei mit Maschinenpistolen die Tür der Wohnung eingetreten und diese ebenso wie die Vereinsräume durchsucht, worauf der Vermieter dem Verein gekündigt habe. Dennoch habe man an der geplanten Strategie festgehalten. Der Antrag auf Sondernutzung war wochenlang unbeantwortet geblieben, bis eine Absage ohne Begründung erteilt wurde. Auf einer Wiese, die für etwa 5000 Menschen gereicht hätte, sollte das Camp aufgebaut werden, was aber nicht gestattet wurde. Dann habe man jedoch von dem Urteil profitiert, welches das antikapitalistische Camp erstritten hatte. Bei der Anmeldung als Versammlung wurden Schlafzelte nicht erlaubt, weshalb man große Zirkuszelte aufbaute. Es ging hin und her, die Polizei konfiszierte Schlafzelte, Hubschrauber überflogen nachts das Camp, Polizisten leuchteten mit Taschenlampen hinein. Es kamen immer mehr Menschen, ab Mittwoch wurde das Schlafen mit 300 Zelten erlaubt. Am Donnerstagmorgen kam der Sonderzug aus der Schweiz, und die Leute mußten ja untergebracht werden.

Medial sei auch im Nachhinein mit der Behauptung gegen das Camp gehetzt worden, von dort aus seien am Freitagmorgen Leute losgezogen und hätten die Polizei oder in Altona Autos und Geschäfte angegriffen, was unzutreffend sei. Wie Halil einräumte, hätten die Organisatoren des Protests das pragmatische Problem der Infrastruktur für so viele Menschen zu spät erkannt, wodurch viele Engpässe entstanden seien. Das darüber hinausgehende Vorhaben, mit den Leuten im Camp zu diskutieren, habe angesichts des ständig im Raum stehende Verbots nicht funktioniert. Man habe Lücken im Versammlungsrecht gesucht, um einzelne Teile gesondert zu ermöglichen. So habe der bekannte Fernsehkoch Ole Plogstedt eine Art Sleep-in angemeldet, wo das Schlafen simuliert wurde. Eine gemeinsame Küche wurde indessen nicht erlaubt, das Camp stand unter ständiger Polizeipräsenz. Das angestrebte breite Bündnis mit der Zivilgesellschaft in Altona sei nicht gelungen, nur einige hätten sich solidarisiert. Das gelte wohl für den Protest insgesamt, dem sich große Teile der Gewerkschaft und der Kirchen verweigert hätten.


Banner, Zelt, Kirche - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/34889125254/in/album-72157682897590804/

Rasande Tyskar - G20 Protest Hamburg 2017-07-04 - Camp an der Johanniskirche
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/34889125254/in/album-72157682897590804/

Kirchenasyl für den Gipfelprotest

Da die beiden geplanten Protestcamps schikaniert oder verhindert wurden, kam der Suche nach Ausweichmöglichkeiten um so größere Bedeutung zu. Der evangelische Pastor Torsten Morche aus der Trinitatisgemeinde in Altona gehörte zu jenen, die kirchliche Orte geöffnet haben. Er hat unmittelbar nach dem Gipfel seine Erfahrungen in einem offenen Brief kommuniziert, der auf der Veranstaltung in Auszügen verlesen wurde. Wie Morche schreibt, habe er zuvor niemanden getroffen, der gut fand, daß der G20-Gipfel nach Hamburg kommt. Seine Kreise seien nicht um Zustimmung gebeten worden, es habe sich um eine Katastrophe mit Ansage gehandelt. Nach dem rüden Polizeiauftritt in Entenwerder sei auf einer Sitzung im Kirchengemeinderat beraten worden, ob man Schlafplätze zur Verfügung stellen könne. Man habe durchaus befürchtet, sich strafbar und bei den Nachbarn unmöglich zu machen, der Kirche zu schaden. Aber Angst könne nicht jene bestimmen, die zu dem gehören, der sagt, fürchtet euch nicht. Deshalb habe man beschlossen, niemanden einzuladen, aber auch nichts zu unternehmen, wenn jemand hereinkomme, solange es friedlich bleibt, niemand Schaden nimmt und Aufrufe zur Gewalt unterbleiben.

Schon am folgenden Nachmittag seien drei Männer ins Gemeindehaus gekommen, um zu fragen, ob es erlaubt würde, ein Camp zu errichten. Erlauben kann ich es nicht, so der Pastor, aber ich kann es auch nicht verhindern. Dann habe er Erstaunliches erlebt: Innerhalb weniger Stunden stand die selbstorganisierte Infrastruktur, der Platz sammelte sich mit Zelten. Das einzige, worum er gebeten worden sei, waren einige Kanister Trinkwasser und ein sicherer Ort für Wertsachen. Die Polizei habe sich zurückhaltend gezeigt, er selbst den Platz seit Mittwoch nicht mehr verlassen. Dort sei es zu vielen guten Gesprächen und Kontakten zur interessierten Nachbarschaft gekommen. Neben den medial in den Vordergrund gestellten Gewaltexzessen in der Schanze, die von den jungen Leuten ihm gegenüber stets als inakzeptabel bezeichnet worden seien, gebe es auch diese Wirklichkeit: Menschen, die ihre Meinung kundtun wollen, sich mit vielen anderen zusammentun und froh und dankbar sind, wenn sie einen sicheren Schlafplatz haben, mit Gleichgesinnten reden und Erfahrungen austauschen können. In Spitzenzeiten hätten sich 350 Menschen auf der Wiese befunden, einige seien sogar der Einladung in den Gottesdienst gefolgt. Inzwischen seien alle abgezogen: "Ein Junggesellenabschied auf der Reeperbahn hinterläßt mehr Müll als diese Menschen auf unserer Wiese."

Wie Corinna Genschel zum Abschluß dieses Teils der Veranstaltung im Gewerkschaftshaus betonte, müsse man die Frage der Unterkunft als essentielle Voraussetzung der Begegnung stärker berücksichtigen und die Durchsetzung geplanter Camps künftig im Sinne des Rechts auf Versammlungsfreiheit politisch mitdenken. Aus Hamburg zu lernen schließe diesen Aspekt der Strukturen des Widerstands zweifellos ein.


Transparent 'We Are Here and We Will Camp' - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/35541728191/in/album-72157682897590804/

Rasande Tyskar - G20 Protest Hamburg- Entenwerder 2017_07_02
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/35541728191/in/album-72157682897590804/


Fußnote:


[1] http://www.g20-protest.de/programm/


Berichte und Interviews zu "G20 - das war der Gipfel" im Schattenblick unter:
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BERICHT/286: G20-Resümee - Schranken bis zum Kessel ... (SB)
INTERVIEW/382: G20-Resümee - Mangel an Avantgarde ...    Denis Ergün im Gespräch (SB)


27. September 2017


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