Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/332: Rojavademo - von Freunden ausgeliefert ... (SB)


Wir richten unsere herzlichsten Grüße an die Bevölkerung von Rojava, die für eine gerechtere und gleichberechtigtere Demokratie kämpft. Wir orientieren uns an eurem System. Ihr seid ein Vorbild für die Völker dieser Welt. (...) Eine solche Drohung (der Türkei), die über keinerlei Rechtfertigung verfügt, verurteilen wir. Es lebe der Kampf der Völker für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Wir wünschen unseren Freundinnen und Freunden in Rojava bei ihrem Freiheitskampf viel Erfolg.
Aus einer Videobotschaft des "Rates der Räte" der Gelbwesten in Commercy [1]


Zum 9. Februar hatte das "Hamburger Bündnis für Frieden in Rojava und ganz Syrien" zu einer Demonstration gegen die drohende Kriegsoffensive der Türkei in Nordsyrien aufgerufen. Von der Sternschanze sollte es über die Reeperbahn bis zum Jungfernstieg gehen. "Nein zum Krieg" lautete die Botschaft des Demonstrationszuges, und es war zugleich ein Aufruf gegen das weitere Blutvergießen in einer Region, die nicht zur Ruhe kommt, wo im Würgegriff geopolitischer Machtkämpfe zwischen Washington und Moskau einerseits und den Regionalmächten Ankara, Teheran und Riad andererseits bereits Hunderttausende Zivilisten ihr Leben verloren haben und Millionen Menschen zu Flüchtlingen geworden sind.

Seit Wochen zieht die Türkei Truppen an der Grenze zu Nordsyrien zusammen. Wie schon beim Einmarsch in Afrin Anfang letzten Jahres, dem der Militärjargon den euphemistisch verklärenden Namen Operation Olivenzweig gab, als handle es sich dabei um eine Friedensmission, befinden sich unter dem türkischen Kriegsgerät abermals Panzer und Truppentransporter aus deutscher Produktion. Das Morden hat viele Väter und Kriegsgewinnler. Recep Tayyip Erdogan macht aus seiner Absicht keinen Hehl, mit Rojava das Projekt eines friedlichen multiethnischen und -religiösen Miteinanders, das auf der Gleichberechtigung aller Abstammungen und Geschlechter basiert, zu vernichten. Den Völkern der Region ihr Recht auf Selbstbestimmung zu rauben und im gleichen Atemzug vier Millionen Menschen mit der Willkür der Besatzung und dschihadistischem Terror zu überziehen dürfte ihm gewiß einen Ehrenplatz in der Geschichte unter den skrupellosesten Kriegstreibern sichern.

Auf dem Platz vor der U-Bahn-Station Sternschanze bunte Fahnen und Transparente, während aus Lautsprechern auf einem Laster kurdische Folklore- und Revolutionslieder den Ort beschallen, der sich allmählich mit Menschen füllt. Am Rande hat sich ein Begleittrupp der Polizei eingefunden, mit Helmen, schweren Westen und martialischen Stiefeln. Die Polizei ist an diesem Tag nur mit einem geringen Aufgebot präsent. Einige Polizeiwagen und Motorrad-Polizisten sichern die abgesperrten Straßen längs der Demonstrationsroute. Daß Schlägertrupps der Grauen Wölfe oder nationalistisch gesinnte Türken die Kurdendemo stören könnten, wie im Vorfeld befürchtet, erweist sich zumindest an diesem Tag als haltlos. Es bleibt alles weitgehend ruhig.


Fronttransparent 'Frieden für Rojava und Syrien' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Moderatorin des Orga-Teams begrüßt die Anwesenden. Mittlerweile haben sich etwa 500 Menschen auf dem Platz versammelt. Bevor die Auftaktkundgebung beginnt, bittet sie alle, eine Schweigeminute für all jene einzulegen, die im Kampf um die Freiheit gefallen sind oder in türkischen Gefängnissen Folter und Qualen erleiden. Danach spricht der Vertreter des Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland (NAV-DEM) davon, daß in Syrien seit 2011 ein Bürgerkrieg tobt, der rasch zum Stellvertreterkrieg regionaler und internationaler Mächte entufert ist. Die Widersprüchlichkeit der daran beteiligten Streitparteien zeige sich unter anderem daran, daß der Iran und Rußland versuchten, das nationalistisch-zentralistische Gewaltregime von Assad in ganz Syrien wiederzubeleben, während Staatsmächte wie die Türkei bestrebt seien, in Syrien ein islamistisches Herrschaftsgebiet zu etablieren. Während die Türkei und ihre dschihadistischen Söldnermilizen in al-Bab, Idlib oder Afrin eine fundamentalistische Schreckensherrschaft errichtet haben, werde in Rojava ein basisdemokratisches und an Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie orientiertes Gesellschaftsmodell Schritt für Schritt vorangetrieben.

Zwar hat man dort, wie er einräumt, mit Schwierigkeiten und Engpässen der Versorgungslage zu kämpfen, doch zugleich bieten sich große Chancen auf die Verwirklichung einer Utopie, die über Rojava hinaus der ganzen Region mit ihren vielfältigen Krisen dauerhaften Frieden bringen könnte. Denn erstmals in der Menschheitsgeschichte verwalten Völker unterschiedlicher Sprachen und Religionen in kollektiver Zusammenarbeit und frei von Hierarchien und Ideologien ihre gesellschaftlichen Angelegenheiten in Eigenregie. Als Triebfeder dieser Entwicklung nennt er die Dezentralisierung der Macht und die Anerkennung und Gleichstellung aller Gruppen und Individuen in Nordsyrien. So könnte Rojava zu einem revolutionären Raum werden, um die Herausforderungen der Gegenwart, sei es auf dem Gebiet der Ökologie, der Wirtschaft oder der unerledigten Frauenfrage, stärker denn je in Richtung einer menschenzugewandten Demokratie zu meistern.


Aufruf zur Demo - Foto: 2019 by Schattenblick

Foto: 2019 by Schattenblick

Unter Beifall erwähnt der Redner, daß die syrisch-demokratischen Kräfte in den nächsten Tagen das Ende der territorialen Herrschaft des IS bekanntgeben werden. Dann kommt er auf die Türkei zu sprechen, die seit dem angekündigten Rückzug der US-Streitkräfte unverhohlen damit droht, ihre kolonialistische und islamistische Außenpolitik in Syrien fortzusetzen. Der türkische Staat ist zweifelsohne derzeit das größte Hindernis für eine politische Lösung und Einkehr des Friedens in Syrien. Trotz der hoffnungsvollen Perspektive der revolutionären Bestrebungen in Rojava und Nordsyrien dürfen sich die Kurden nicht auf die internationalen Mächte verlassen. Vielmehr steht zu befürchten, daß die USA die Kämpferinnen und Kämpfer der YPG und YPJ, die den IS besiegt haben, den Islamisten aus Ankara opfern werden. Er ruft alle demokratisch, sozialistisch, anarchistisch, libertär, humanistisch, feministisch und ökologisch gesinnten Menschen im Zeichen der Solidarität dazu auf, für Rojava Partei zu ergreifen. In seinem Schlußwort fordert er im Namen der Hungerstreikenden die Beendigung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan und die Fortsetzung der Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK.

Als nächstes spricht eine Vertreterin der MLPD, die 2015 unter den 175 Icor-BrigadistInnen war, die in Kobane solidarische Hilfe leisteten. Sie würdigt den kurdischen Befreiungskampf und verurteilt den drohenden Angriff der Türkei auf das unabhängige Gebiet Rojava. Deutschland ist ein Kernland des weltweiten Imperialismus und stärkste Kraft in der EU. Erdogan kann seine Politik gegenüber Syrien, Irak und Iran nur deshalb so aggressiv betreiben, weil er über die deutschen Rüstungsexporte hinaus von der Bundesregierung Rückendeckung für seine Nahostpolitik erhält. Der kurdische Freiheitskampf ist durchwoben vom Verrat vorgeblicher Bündnispartner. Daß die US-Administration jetzt wieder auf die Erdogan-Karte setzt, um die Türkei aus dem Bündnis mit Rußland herauszulösen, und dafür bereit ist, Zugeständnisse an Ankara zu machen, ist als Vorgehensweise prinzipieller Bestandteil der US-Außenpolitik.


Transparent mit Leyla Güven - Foto: © 2019 by Schattenblick

Solidarität mit Leyla Güven, HDP-Abgeordnete im Hungerstreik
Foto: © 2019 by Schattenblick

Danach kommt das Hamburger Forum für Frieden und weltweite Abrüstung an die Reihe. Mit dem Einmarsch der Türkei in Syrien marschiert auch Deutschland ein, und zwar in Gestalt der Maschinengewehre von Heckler & Koch und 350 Leopard-1-Panzer sowie den zugehörigen Motoren von MTU. Auch Daimler und MAN seien durch ihre Militär-Lkws mit von der Partie. Wie zu erfahren ist, hat ein Demonstrant, der Flugblätter mit dem Hinweis auf illegale Rüstungsexporte von Rheinmetall verteilte, eine Geldstrafe von 1800 Euro erhalten. Noch wesentlich höher fiel die Strafe für zwei Aktivisten aus, die ein Transparent vor der Jahreshauptversammlung des Konzerns Rheinmetall in Berlin entrollt hatten. Weil darauf die enge Beziehung zwischen dem Einmarsch türkischer Truppen nach Afrin und den Waffenlieferungen von Rheinmetall an die Türkei angeprangert wurde, verurteilte das Gericht die beiden zu einer Geldstrafe von 15.000 Euro.

Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg mußte 1992 von seinem Amt zurücktreten, nachdem bekannt geworden war, daß trotz gegenteiligen Beschlusses des Bundestags 15 Bundeswehrpanzer in die Türkei geliefert wurden. Das Verbot erfolgte, weil die türkische Armee damals kurdische Gebiete bombardiert hatte. Heute, so die Kritik des Redners, müßte keiner seinen Posten räumen. So weit sei die Militarisierung Deutschlands schon vorangeschritten. Dabei hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgestellt, daß die türkische Offensive nach Afrin gegen geltendes Völkerrecht verstößt. Während die Bundesregierung die Annexion der Krim durch Rußland heftigst kritisiert hatte, blieb Außenminister Heiko Maas beim Bruch des Völkerrechts seitens der Türkei auffallend stumm. Dabei ist die Lage in Syrien äußerst brisant. Auf dem Höhepunkt des Konflikts hätten über zwei Dutzend Staaten neben unzähligen nichtstaatlichen Akteuren in Syrien das Pulverfaß entzündet.


Transparent 'Solidarität mit Rojava' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Wenn die Türkei nun selber aktiv eingreift, droht ein regelrechter Flächenbrand mit Ausmaßen, die heute nicht abzusehen sind. Zum Beispiel dadurch, daß das NATO-Land Türkei mit Rußland in eine direkte Konfrontation gerät, während Konfliktparteien wie Iran und Saudi-Arabien weiter Öl ins Feuer gießen. Anstatt die Situation so weit es geht zu befrieden und diplomatischen Druck auf die Türkei auszuüben, stecke die Regierung Merkel den Kopf in den Sand. Dafür gibt der Redner zwei Gründe an. Zum einen habe der deutsche Imperialismus eine lange Tradition der Zusammenarbeit in der Achse Ankara und Berlin, zum anderen werde Rücksicht darauf genommen, daß Erdogans Türkei die Außengrenzen der EU gegen Flüchtlingsströme absichert. Auch deswegen werde der Beschluß des EU-Gerichtshofs, demzufolge die PKK keine Terrororganisation mehr sei, weil Öcalan auf Friedensverhandlungen mit der Türkei setzt, aus staatspolitischer Räson schlechterdings negiert.


Transparent der MLPD zum PKK-Verbot - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Internationalismus verteidigt Menschheitsmodell Rojava

Zaklin Nastic, Bundestagsabgeordnete der Linken, liest als einzige nicht vom Blatt ab. Für sie ist die kurdische Befreiungsbewegung aufs engste mit den Kämpfen überall auf der Welt gegen Ausbeutung, Krieg und imperialistische Herrschaftssicherung verknüpft. Das ist und war immer schon linke Tradition. Sie erinnert daran, daß man sich bereits vor einem Jahr genau an dieser Stelle versammelt hatte, als Erdogan zusammen mit islamistischen Söldnertruppen in Afrin einmarschiert war. Was hat die Weltgemeinschaft getan?, fragt sie. Nichts! Was hat Frau Merkel getan? Nichts! Statt dessen hat sie ihre schützende Hand über Erdogan gehalten, als unter dem Beschuß deutscher Panzer Menschen in Afrin starben. Und Deutschland verkauft weiter Waffen und Militärgerät an kriegführende Staaten in Syrien und überall auf der Welt. Zaklin Nastic spricht es offen aus. Für sie ist das schlichtweg Völkermord. Nun will Erdogan in Rojava einrücken. Sein einziger Antrieb dabei ist die Zerschlagung aller Strukturen von Selbstverwaltung im progressiven Gesellschaftsmodell der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Wieder könnten dort Tausende sterben, junge Menschen, die für die Freiheit aller in Rojava bereit sind, ihr Leben zu geben, und die schon gegen die Terrorbataillone des IS gekämpft und gesiegt haben.

Die Weltgemeinschaft regt sich über US-Präsident Donald Trump und seine Mauer gegen Mexiko auf, schweigt aber darüber, daß die Türkei eine 800 km lange Mauer an ihrer Staatsgrenze zu Syrien gebaut hat, um dringend benötigte humanitäre Hilfssendungen nach Rojava zu unterbinden, während auf der anderen Seite Kinder an Hunger und mangelnder medizinischer Versorgung sterben. Für sie ist Erdogan ein Völkermörder, dem es um nichts anderes geht, als die Kurdinnen und Kurden in einem Genozid auszulöschen. Daher sei es unverzichtbar, Solidarität mit allen Menschen in Rojava und Syrien zu üben, die für Frieden, Freiheit und Frauenrechte kämpfen. Über Venezuela werde international ein Tribunal gehalten, aber für sie sitzt der wahre Kriegsverbrecher auf dem Präsidentenstuhl in Ankara. Ihre Forderungen sind glasklar: Freilassung aller HDP-Vorsitzenden und von Öcalan, ein Ende der Kriminalisierung aller Menschen in Deutschland, die sich für das föderalistische Experiment in Rojava einsetzen.

Eine Vertreterin vom Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft bekräftigt, daß die GEW vor einem Jahr den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Afrin verurteilt und gegen die stillschweigende Unterstützung der westlichen Staaten, einschließlich der Bundesrepublik, protestiert hat. Im Kanton Afrin fand eine Zwangsislamisierung statt, Hunderttausende flohen vor der türkischen Armee und den Dschihadisten. Erdogans Rechtfertigung für seinen Krieg, die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ seien Terroristen und müßten daher vernichtet werden, ist ein Vorwand, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Im neuen Bildungswesen Rojavas sind das Recht auf Bildung, Antidiskriminierung, Vielfalt, Mehrsprachigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung sowie Demokratie und Friedenserziehung verankert. Im Bündnis mit anderen demokratischen Kräften fordere man die Bundesregierung dazu auf, die drohende Aggression der Türkei gegenüber den kurdischen Gebieten zu verurteilen und die militärische Zusammenarbeit mit Ankara sofort zu beenden.


Transparent 'Kriege beenden!' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Auch der Vertreter vom Arbeitskreis Frieden von verdi schlägt in dieselbe Kerbe, als er die Unterstützung des Erdogan-Regimes durch die Bundesregierung beklagt und daß ein türkischer Angriff auf Nordsyrien an die Stelle der dort demokratisch verwalteten Gebiete ein islamistisches Terrorregime errichten würde. Fühle sich die zweitgrößte Armee der NATO etwa durch die Volks- und Frauenverteidigungskräfte der YPG und YPJ herausgefordert und bedroht?

Der Sprecher der Interventionistischen Linken (IL) nennt den türkischen Truppenaufmarsch an der syrischen Grenze einen offen angekündigten Krieg und die Propaganda des Erdogan-Regimes, die kurdischen Verbände seien und eine Bedrohung für die Integrität des türkischen Staates, eine Mär, die außerhalb der Türkei ohnehin kein Mensch glaubt. Klar sei jedoch, daß der von Trump angeordnete Rückzug den Weg für eine türkische Invasion geebnet hat und die Bundesregierung darin verwickelt ist, wie gewöhnlich auf der falschen Seite. Und ebenso unstrittig ist für ihn, daß Rojava unter den großen Regionalmächten, die Syrien zum Schauplatz ihres Stellvertreterkrieges um Macht und Ressourcen gemacht haben, weder Freunde noch echte Verbündete hat. Dies zeige sich auch daran, daß die USA nun die erstbeste Gelegenheit nutzten, um die Kurdinnen und Kurden, nachdem sie ihre Schuldigkeit mit der Zurückdrängung des IS getan haben, an Erdogan zu verraten. Auch die Russen, die bereits vor einem Jahr den Luftraum für den türkischen Überfall auf Afrin freigaben, hätten aus seiner Sicht kein Interesse an den Kurden, wohl aber daran, daß das Assad-Regime die Kontrolle über Nordsyrien vollständig zurückerlangt.


Transparent zum feministischen Projekt Rojava - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Von Rojava geht die Hoffnung auf eine bessere Welt des Friedens und der Gerechtigkeit jenseits von Imperialismus und Kapitalismus aus. Erdogan fürchtet, daß das Projekt auf die kurdische Bevölkerung in der Türkei ausstrahlen könnte, wo die Unterdrückung ihrer Parteien und Organisationen den Faustpfand für die Stabilisierung seiner Präsidialmacht gibt. Schätzungen zufolge stellen Kurdinnen und Kurden etwa 14 Prozent der Bevölkerung in der Türkei. Allerdings dürfte ihr Anteil angesichts der vielen familiären Bande zwischen Türken und Kurden ungleich höher liegen. Hinzu kommt, daß die ethnische Zugehörigkeit bei offiziellen Volkszählungen nicht mehr erfaßt wird und infolge der türkischen Assimilationspolitik Angaben zur Größe der Minderheiten im Land stark differieren und in der Tendenz rückläufig sind. Tatsächlich stellt die "Kurdenfrage" die größte Herausforderung für die Zukunft des türkischen Nationalstaats dar. Angesichts der aktuell schwierigen ökonomischen Lage und der tiefen Polarisierung der Gesellschaft muß Erdogan vor allem fürchten, daß zivilgesellschaftliche Kräfte, die für eine demokratische Erneuerung und Frieden einstehen, sich an Rojava ein Beispiel nehmen könnten.

In einer Welt der Krisen und Zerrüttungen, die arm geworden ist an gesellschaftspolitischen Utopien, setzt Rojava ein Zeichen. Gelingt es, Rojava zu verteidigen, dann bringt das auch die Kämpfe im Westen für eine bessere Gesellschaft voran. Der Vorschlag der IL, 2019 zum Jahr der Verteidigung Rojavas zu machen, ist Ausdruck der internationalistischen Tradition, die von einer Welt in Unfreiheit ausgeht. Am kurdischen Volk, am Verbot ihrer Fahnen und Embleme sowie an der juristischen Repression gegen ihre Organisationen und Kulturhäuser entzündet sich der Streit nach der Zukunft aller Menschen.


Polizei und DemonstrantInnen - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Was für die kurdische Bewegung nicht verhandelbar ist

Die Auftaktkundgebung ist zu Ende und die Menge beginnt sich auf der Schanzenstraße aufzustellen. Ein langer Troß mit über den Köpfen wehenden Fahnen formiert sich hinter dem Fronttransparent mit der Aufschrift "Freiheit für Rojava und Syrien - Nein zum Krieg". Von diesem Protestzug geht eine Aufbruchstimmung aus, die Flagge und Solidarität gegen einen Kriegsleviathan zeigt, den Erdogans rigoroser Haß auf die Kurden ausgebrütet hat, weil sie sich seinen neoosmanischen Allmachtsphantasien widersetzen. Der Zug setzt sich in Bewegung. Aus dem voranfahrenden Lastwagen dröhnt laute kurdische Musik, Passanten bleiben neugierig stehen, viele richten ihre Smartphones in Richtung des Fahnenmeers.

Wenig später bleibt der Zug plötzlich stehen, weil ein Kordon von Polizeikräften die Fahrbahn versperrt. Der Einsatzleiter gibt zu verstehen, daß ein Transparent aus dem Protestzug entfernt werden müsse, weil man es als illegal identifiziert hat. Auf dem besagten Banner prangt das Konterfei des auf der Gefängnisinsel Imrali in Einzelhaft sitzenden politischen Gefangenen mit der Aufschrift "Isolation durchbrechen - Für die Freiheit von A. Öcalan". Unruhe regt sich im Zug und schnell wird klar, daß niemand der polizeilichen Aufforderung Folge leisten wird. Abdullah Öcalan ist nicht verhandelbar. Der Demonstrationsleiter spricht mit der Polizei, nach einem Wortwechsel folgt dann über Lautsprecher die nachdrückliche Bitte, den Demonstrationszug nicht weiter aufzuhalten. Öcalans Bild müsse bleiben, zumal die Angelegenheit vor Gericht niemals Aussicht auf Erfolg haben würde. In den Sperriegel der Polizei kommt Bewegung. Langsam wird die Straße freigegeben.

Weiter geht es zur Reeperbahn, während der Himmel sich zuzieht und Regen niedergeht. Doch der durchnäßte Zug der Demonstrierenden läßt sich die Stimmung nicht verderben. Immer wieder werden Fahnen geschwungen und Lieder gesungen, die Passanten am Wegrand suchen derweil Schutz unter den Vordächern der Läden. Schließlich rückt der Jungfernstieg näher, wo die Abschlußkundgebung stattfinden soll.


Fronttransparent 'Die Revolution ist weiblich!' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Weltweites Symbol der Frauenrevolution

Es spricht zunächst eine Vertreterin der feministischen Kampagne: Gemeinsam kämpfen für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie. Ihre Hochachtung gilt den Frauen in der Demokratischen Föderation Nordsyrien für ihren Todesmut bei der Befreiung von Kobane und ihrem Kampf gegen Patriarchat, Kapitalismus und Faschismus, was sie zum weltweiten Symbol der Frauenrevolution macht. Welche Folgen ein Angriff der Türkei auf Rojava hätte, zeigt ihr zufolge ein Blick auf den Kanton Afrin, der seit März 2018 unter türkischer Zwangsverwaltung steht. Dort sind Morde an ZivilistInnen, Vergewaltigungen, Entführungen und ethnische Säuberungen zum grausamen Alltag geworden. Das Schweigen der internationalen Regierungen sei schwer zu ertragen, habe jedoch Methode, weil ihr Interesse einzig und allein am Fortbestand des kapitalistischen Patriarchats ausgerichtet ist.

In diesem Sinne decken sich Erdogans Invasionspläne gegen Rojava, wo ein geschlechterbefreites Gesellschaftsmodell heranwächst, mit den Bestrebungen erzkonservativer Kreise im Westen, die Errungenschaften der Emanzipation zurückzudrängen. Der Krieg gegen die Frauenrevolution in Rojava müsse, so die Rednerin, international verstanden und in gleicher Weise beantwortet werden. Auch wenn an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Mitteln gekämpft werde, ob im Widerstand gegen den Paragraphen 219a oder im Aufbau des autonomen Frauendorfes Jinwar, das Ziel ist immer das gleiche: die Abschaffung patriarchaler Verhältnisse rund um den Globus. Für die Rednerin ist Gewalt an Frauen immer auch politisch motiviert. Frauen müssen jederzeit und überall mit einer Vergewaltigung rechnen, aber oft gilt dies nur auf dem Papier als Verbrechen, weil Politik, Justiz und alle staatlichen Institutionen von Männern dominiert sind, deren über Jahrtausende gewachsener Chauvinismus die verfassungsmäßig geschützte Würde und Unversehrtheit der Frau bestenfalls müde belächelt. Daher müsse der Angriff auf die in Rojava gelebte Utopie mit allen Mitteln verhindert werden. Erdogans drohender Krieg gegen Nordsyrien ist zugleich auch ein Angriff auf alle Frauen weltweit, die für eine Zukunft ohne Männergewalt kämpfen. In ihrem Schlußwort zitiert sie einen Ausspruch von Jean Ziegler aus seiner Eröffnungsrede in der Rostocker Nikolaikirche 2007: "Unsere Feinde können alle Blumen ausreißen, den Frühling können sie nicht aufhalten."

Die letzte Rede hält ein Vertreter von Attac. Es ist ein Appell an die Verantwortung, an die sich die Staaten und Politiker im Westen jedoch nur dann erinnern, wenn es gilt, unliebsame Regime zu Fall zu bringen. Ihr eigenes Handeln bleibt davon meist unberührt. Als die NATO-Partner Deutschland, USA, Großbritannien und Frankreich im Schulterschluß mit den Golfmonarchien Katar und Saudi-Arabien 2011 versuchten, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad mit Gewalt aus dem Amt zu jagen, nahmen sie dafür einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Kauf. Auch die Bundeswehr war daran beteiligt durch die Entsendung von Aufklärungsflugzeugen und die Betankung von Kampfjets in der Luft. Als die Militäroperation nicht durchschlug, unterstützten sie dschihadistische Söldner mit Waffen und Logistik, was zur Folge hatte, daß Syrien ins Chaos stürzte. Und sie schauten weg, als das türkische Militär im Januar 2018 Afrin unter ein Besatzungsregime stellte. Notwendig wäre es statt dessen gewesen, alle Waffenlieferungen an die Türkei sofort zu stoppen und auf diplomatischem Parkett gegen Erdogan vorzugehen. Die deutsche Bundesregierung und alle Parlamentarier im Bundestag müßten endlich friedliche und zivile Lösungen auf den Weg bringen und sich energisch für den Abzug aller ausländischen Kriegsparteien in Syrien einsetzen.


Transparent 'Frieden statt Imperialismus' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Brückenschlag zwischen den Kämpfen an vielen Fronten

Viele Menschen nutzten an diesem Tag die Gelegenheit, ihre warnende Stimme gegen einen Krieg in Nordsyrien zu erheben und zur unverbrüchlichen Solidarität mit den Kurdinnen und Kurden aufzurufen. Zum Abschluß fand sich die Moderatorin aus dem Orga-Team bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten. Wie sie hervorhob, hat die kurdische Bewegung seit vier Jahrzehnten verstanden, daß die Befreiung aller Menschen unmittelbar mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft zusammenhängt. Der feministische Kampf, den die Bewegung führt, betrifft zugleich die Männer. Sie sind gefordert, im alltäglichen Kampf gegen patriarchale Strukturen und Muster ihre eigene Beteiligung an Dominanz und Unterdrückung zu überwinden. Die kurdische Freiheitsbewegung habe Verfahrensweisen etabliert, die diesen Prozeß begünstigen. Und natürlich sei die autonome Frauenorganisierung ein zusätzliches Druckmittel, um diese Entwicklung auf allen Ebenen zu gewährleisten.

Nach Unterstützung der kurdischen Bewegung in Deutschland gefragt, erinnerte sie an deren große Beachtung während des Kampfes um Kobane und den Aufschwung der Solidarität, nachdem die Stadt unter großen Opfern von mehrheitlich kurdischen Kräften befreit worden war. Heute sei es erforderlich, über reine Solidaritätsarbeit hinaus Bündnisse zu schließen, die nicht nur die kurdische Bewegung, sondern alle demokratischen Kräfte im Blick haben, die für Selbstbestimmung eintreten. Wie können wir das, was in Rojava und in Nordkurdistan an Kommunalismus, Selbstverwaltung und Selbstbestimmung unter Einbeziehung aller Minderheiten und Ausrichtungen entwickelt wurde, aufgreifen und weiterentwickeln? In all diesen Bereichen lasse sich die Zusammenarbeit in Deutschland noch verstärken, indem die verschiedenen inhaltlichen Aspekte verbunden werden. So zeichne sich ab, daß verschiedene Organisationen der Klimabewegung Bündnisse mit der kurdischen Bewegung eingehen können. Sie bestätigte auf Nachfrage die zentrale Bedeutung der ökologischen Frage in den aktuellen Kämpfen der jüngeren Generation und berichtete, daß die Kampagne "Make Rojava green again", die dort von der internationalistischen Kommune initiiert wurde, auch in Deutschland versuche, Verbindungen zu AktivistInnen von Ende Gelände oder den SchülerInnen, die jeden Freitag für einen Wechsel der Klimapolitik streiken, aufzubauen.

Für das "Hamburger Bündnis für Frieden in Rojava und ganz Syrien" seien Demonstrationen ein Mittel, Öffentlichkeit zu schaffen und die eigenen Forderungen auf die Straße zu tragen: Wir zeigen, daß wir viele sind und daß wir bunt sind, daß auch über die kurdischen Kräfte hinaus ein Bündnis existiert und wächst, in dem sich viele verschiedene Menschen einsetzen. Wir setzen ein Zeichen auf der Straße, um in der Öffentlichkeit sichtbar zu sein.


Demonstrationszug auf dem Jungfernstieg - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnote:

[1] anfdeutsch.com/aktuelles/gelbwesten-aus-commercy-solidarisieren-sich-mit-rojava-revolution-9530


25. Februar 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang