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BERICHT/338: Manifest für Gegenkultur - Gefahren und Chancen ... (SB)


Jedermann weiß, daß mit der Kultur auch die Macht verbunden ist.
Leopold von Ranke (1795-1886), Berliner Historiker [1]


Kunst in ihrem besten Sinne, heißt es, berührt den Menschen und ergreift sein Herz. Der aber gleicht einem Spielball und Opfer fremder Kräfte und Mächte, wankelmütig von seinen unablässig wechselnden und mithin immer gleichen Überlebensnöten getrieben, die sich von Grund auf gegen Seinesgleichen kehren. Dein Unglück ist mein Glück, und sei es das letzte Stück Brot, das ich dir noch zu entreißen vermag. Was aber sein Herz betrifft, ist dort weder unerschütterlicher Grund noch fester Anker zu finden, verhallt der Ruf ungehört, sich ein solches zu fassen. Träfe es aber zu, daß Kunst diese innerste Sphäre womöglich zum Leben erwecken, zu bilden und formen, ihr Substanz und Kontur zu verleihen vermag, ist vieles denkbar: Daß sie dem Menschen hilft, einer zu werden, der dem allgegenwärtigen Streben, Räuber am Menschen, an allen Wesen und Stoffen zu bleiben, entsagt und sich zum Streit erhebt. Zugleich aber nicht minder, daß sie ihn Tränen des Selbstmitleids vergießen, sich im Wohlgefühl des Genusses einschläfernd wiegen, sich jeglicher herrschenden Ordnung bereitwillig fügen oder gar in rasendem Haß zu Pogrom und Kriegsgeschrei anstacheln läßt.

Angenommen, Kunst habe das Potential, wirkmächtig zu inspirieren, wäre sie zu Werkzeug und Waffe in diametral entgegengesetzte Richtungen geeignet. Hängt es demnach von der ihr innewohnenden Qualität ab, welchem Zweck sie dient? Oder sind es vielmehr Hand und Sinn des sie schöpfenden Menschen, die ihr erst den Auftrag verleiht und ihren Weg vorbestimmt? Bekanntlich greift diese bloße Dichotomie viel zu kurz, da sich leichterdings Gegenbeispiele für die eine wie die andere These anführen lassen. Die daraus resultierende Schwierigkeit, die Kontroverse schlußfolgernd für beendet zu erklären, verlockt zur Beliebigkeit, in der sich Alltagsverstand und Wissenschaft gerne die Hand reichen. Was soll's, sagt sich der ignorante Banause und hält sich lieber alles offen, solange es ihm nur Spaß macht. Nichts in der Gemengelage da draußen ist gewiß, bedient flexibler Forscherdrang worthülsenreich die Nebelmaschine.

Unerträglicher wäre da schon der eigenständige Schritt, auch in höchst kontroversen Fragen von Kunst und Kultur erlösende Antworten den Klerikern jeder Couleur zu überlassen, um statt dessen im mühsamen Ringen Partei zu ergreifen und zuzupacken, ohne den Griff wieder zu lösen. Das zu praktizieren dürfte noch unattraktiver sein, als es sich anhört, steht doch weder Erfolg noch Erwerb als Versprechen auf Zugewinn in Aussicht, weil mit jedem abschließend bewältigten Problem dahinter nur noch größere Probleme zum Vorschein kommen. Denn wo anders als in solchen Kämpfen träte die Vielgestalt der Hydra zutage, der mit jedem abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen! Daß es nicht leichter wird, darf zumindest vorausgesetzt werden, sobald man damit abgeschlossen hat, sich abspeisen zu lassen, und im Zweifelsfall selbst das Haar in der Suppe konsensfähiger Verständigung sucht. Oder anders ausgedrückt: In solchem Geist ist immer Front ohne Etappe, was verständlicherweise erschreckend anmutet, da der wohlverdiente Rückzug abhanden gekommen zu sein scheint.

Gegenkultur, so sie dieses Namens würdig ist, navigiert zwischen Skylla und Charybdis, droht sie doch jederzeit von den imperialen Kanonenbooten versenkt oder aber im Geschwader des Mainstreams neutralisiert zu werden. Ob als subkulturelle Schaluppe schlichtweg übersehen oder am Ballast der Auszeichnungen untergehend, stehen emanzipatorische Ansätze also eher auf verlorenem Posten. Doch wie anders als in Umarmung der eigenen Schwäche sollte es künstlerisch schaffend möglich sein, Partei für die Unterdrückten, Ausgebeuteten und Verdammten dieser Erde zu ergreifen! Ansonsten hielte man es wie der aufbegehrende Knecht, der selber Herr werden, aber nicht die Herrschaft aus der Welt jagen will.


Veranstaltungsplakat vor Heimathafen - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Künstler-Konferenz zum "Manifest für Gegenkultur"

Mehr als 300 Menschen waren der Einladung der Kulturzeitschrift Melodie & Rhythmus gefolgt, am 8. Juni im Berliner Heimathafen Neukölln zu einer ganztägigen Konferenz über Gegenkultur und einer anschließenden abendlichen Kulturgala zusammenzukommen. Sie erwartete ein dicht konzipiertes und namhaft besetztes Programm, dessen vier thematische Podien sich um einen Vortrag Moshe Zuckermanns und ein Gespräch mit Konstantin Wecker gruppierten. Jedes Podium wurde von Rolf Becker mit einer einleitenden Rezitation eröffnet. Auf eine Diskussion mit dem Publikum war verzichtet worden, um den zeitlichen Ablauf nicht zu torpedieren, doch boten lange Pause ausgiebig Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Ziel der Zusammenkunft war es, gemeinsam mit Künstlern, Kulturschaffenden und -interessierten gegen den rechten Zeitgeist anzutreten. So sollten verdrängte fortschrittliche Ideen von radikal kritischer Kunst und Kultur wieder aufgerufen, aktualisiert und mit neuem Leben gefüllt werden. Ungeachtet unterschiedlicher politischer Traditionen, doch geeint im Ringen um eine Kunst und Kultur, die bestrebt ist, sich ein konkretes Bild von den Verhältnissen zu machen, in denen das Individuum existiert und handelt, galt es Einspruch zu erheben gegen die kapitalistische Herrschaftsordnung und ihre Unmenschlichkeit. Um einen solchen Formierungsprozeß mit anzustoßen, sollte die Konferenz ein Forum der Begegnung bieten, Gedanken auszutauschen und eine angeregte Debatte zu führen. Auch lud Melodie & Rhythmus dazu ein, gemeinsam über den Entwurf eines "Manifests für Gegenkultur" [2] zu diskutieren.


Auftaktrezitation Rolf Becker - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

"Anschwellender Bocksgesang" - Zur Rechtsentwicklung in der Kultur

Von Arnold Schölzel (Chefredakteur RotFuchs) moderierend befragt, verlieh die Schriftstellerin Gisela Steineckert ihrer Zuversicht Ausdruck: Wir haben das Publikum wieder, das wir verloren glaubten. Wenn wir brauchbar sind, werden sich Menschen finden, die uns brauchen. Sie rügte die Frauenunterdrückung auch in der Linken, die Kandidatinnen nominiere, die es nicht wollen und auch nicht machen.

Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, daß unsere Warnung vor einem rechten Aufmarsch tatsächlich Wirklichkeit würde, so Konstantin Wecker. Dagegen gelte es Position zu beziehen und Mut zu machen, waren doch die Rechten nie die Partei der kleinen Leute, sondern eine des Großkapitals. Er sei bekennender Utopist, der das System Herrschaft besiegen wolle: Wir müssen ungehorsam sein! 10.000 Jahre der Herrschaft des Patriarchats seien genug, dessen letztes Aufbäumen man erlebe. Er hoffe sehr, daß die Bewegung Fridays for Future den alten Fehler der Zersplitterung nicht wiederhole.


Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Arnold Schölzel, Gisela Steineckert
Fotos: © 2019 by Schattenblick

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Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Konstantin Wecker, Volker Lösch
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Allein werden sie es nicht schaffen, nahm auch der Regisseur Volker Lösch auf Fridays for Future positiv Bezug, nicht ohne den hohen Altersdurchschnitt des Konferenzpublikums zu erwähnen. Was aber die Rechten betreffe, habe es keinen Zweck, mit deren hartem Flügel zu reden, der jegliche Foren allein für seine Propaganda nutze. Es gelte vielmehr, ein System zu erklären, das nicht mehr funktioniert, und die rechten Verbindungen bis in die bürgerliche Mitte offenzulegen. Wir sind mehr, beschwor Lösch dennoch ein breites Bündnis und empfahl, die Gegenbewegung künstlerisch zu stärken und eine Gegenerzählung zu schaffen. Die Zuspitzung des Kapitalismus im Neoliberalismus versetze die Menschen permanent in Angst, die von rechts ausgebeutet werde. Gelänge es aber, den demokratischen Sozialismus zu installieren, bleibe von den Rechten nichts übrig.


Steineckert, Wecker, Schölzel, Lösch, Becker auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick Steineckert, Wecker, Schölzel, Lösch, Becker auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick

In der Runde Ecken machen
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Was wir machen, wird nur wahr, wenn es konkret wird, legte Rolf Becker vordringlich Wert auf den Kontakt mit jenen, die unter den Verhältnissen leiden. Die Eigentumsverhältnisse müssen in Frage gestellt werden, zumal es keine Rückkehr in die soziale Marktwirtschaft gebe. Die Frage einer linken Regierungsbeteiligung halte er für unsinnig, wie allein schon die Haltung der Linkspartei in der Israelfrage und zur BDS-Kampagne belege. Gehe es um parteipolitische Karrieren, gerieten die Diäten rasch zum maßgeblichen Kompaß allen Handelns.


Eröffnung zweites Podium 'Unter den Medien schweigen die Musen' - Foto: © 2019 by Schattenblick

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"Unter den Medien schweigen die Musen" - Im Bann von Manipulationsästhetik und (digitalisierter) Meinungsmache

Ein Land, das Medien hat, braucht keine Zensur, brachte Rolf Becker, eingangs Peter Hacks rezitierend, die zeitgenössischen Kontrollmechanismen griffig ins Bild. Dietmar Koschmieder (Geschäftsführer der jungen Welt) sprach mit einem internationalen und teils jungem Podium. Ekinsu Devrim Danis (Redakteurin der türkischen Zeitung Yeni E) betonte, daß nicht die Medien, sondern die Klassenverhältnisse den Kampf zwischen Wahrheit und Lüge hervorriefen. Die Mainstreammedien fungierten als Apparate des Staates, doch als sie seinerzeit nicht über die Gezi-Proteste berichteten, stieg die Zahl der Twitternutzer von drei auf zehn Millionen. Als die Proteste gewaltsam zerschlagen wurden, übernahmen die großen Medien die Regierungsposition. Im postfaktischen Sinne trennen sie ihre Erklärung von der Wirklichkeit.


Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Ekinsu Devrim Danis, Dietmar Koschmieder
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Die in Caracas lebende kolumbianische Redakteurin Julieta Daza arbeitet für Zeitungen und Radiosender. In Venezuela herrsche noch kein Sozialismus, doch sei die Revolution weiterhin im Gange. Die linke Regierung wolle die Bolivarische Revolution fortsetzen. Zugleich besäßen kapitalistische Konzerne die großen Medien, welche den Konter unterstützten und in der Vergangenheit den Putschversuch gegen Hugo Chavez mitbetrieben hätten. Wenngleich auch soziale Medien als Werkzeuge dieser Interessen Fake News produzierten, gelte es doch, sie für eigene Zwecke zu nutzen. Und dies um so mehr, als die gegen Venezuela verhängten Sanktionen auch einen akuten Papiermangel zur Folge hätten. Zwar sei auch die staatliche Ebene wichtig, doch komme es bei der Erringung der Volksmacht insbesondere auf die Gemeindemedien an. Lokale Medien gehören der Gemeinde und beziehen die dort lebenden Menschen ein.


Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Julieta Daza, Ekkehard Sieker
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Ekkehard Sieker, der für Panorama (WDR) und Die Anstalt (ZDF) recherchiert, unterstrich aus seiner Erfahrung, daß Nischen noch möglich seien. Mutige Leute im Sender und eine beträchtliche öffentliche Unterstützung erlaubten den Fortbestand ohne juristische Kontrolle der Inhalte und chefredaktionelle Abnahme durch den Sender ZDF. Entscheidend bleibe jedoch, sorgfältig zu recherchieren und diesbezüglich keine Fehler zu machen. Gelinge es, komplexe Zusammenhänge griffig zu erklären, werde dem nichts entgegengesetzt, weil es schlichtweg zutreffe. Da die Postmoderne die Wahrheit abgeschafft habe, sei es unverzichtbar, die dahinterstehenden Strukturen zu erhellen. PR-Agenturen produzierten nahezu ohne Recherche Sendungen bis hin zu Nachrichten. Individualstorys wie jene über Andrea Nahles setzten auf Emotionen, während die Hintergründe ausgeblendet blieben. Auch die Satire verwende Emotionen als Anker, verschreibe sich aber der Wahrhaftigkeit. Es gebe nicht viele verschiedene Wahrheiten, und die Menschen fragten nach dem Sinn. Daher gelte es, Zusammenhänge zu entschlüsseln und beispielsweise den Faschismus auch als Theorie zu erklären oder die Hintergründe des Antisemitismus auf der einen und der Kritik an Israel auf der anderen Seite verstehbar zu machen.


Auftritt Alles.Scheizse - Foto: © 2019 by Schattenblick

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Satirische Intervention: Alles.Scheizse

Das haben sie nun davon. Die "Querfront mit Israel" als Ergebnis des Kampfes gegen "Nazis, Linke und andere Muslime" steht. Sie ist bestückt mit PolitikerInnen der Neuen Rechten, die sich von Beatrix von Storch über Viktor Orban und Steve Bannon bis zu Jair Bolsonaro rühmen, auch ungefragt als Beschützer des Staates Israel aufzutreten. Zumindest Orban und Bolsonaro erfreuen sich des ausdrücklichen Zuspruches Benjamin Netanjahus, der keinen Anstoß daran nimmt, daß sein europäischer Kollege in Ungarn eine Kampagne gegen den jüdischen Investor George Soros führt, die vor antisemitischen Stereotypien nur so strotzt. Sie wird besetzt durch VertreterInnen des sogenannten christlichen Zionismus, die kaum erwarten können, auf dem in Israel verorteten Schlachtfeld Armageddon die finale Entscheidungsschlacht von Gut und Böse herbeizuführen. Des daraus angeblich erwachsenden Heiles können JüdInnen nur teilhaftig werden, wenn sie konvertieren - ein klarer Fall von christlichem Antijudaismus, der die Harmonie der "Querfront mit Israel" zumindest solange nicht beeinträchtigt, als evangelikale Eiferer den Annexionsplänen der israelischen Rechten Flügel verleihen. Sie wird propagiert von sich als links gerierenden sogenannten Antideutschen etwa um das Magazin Bahamas, die sich von Feministinnen wie einst die europäischen Juden von den Nazis verfolgt fühlen, für MuslimInnen nur Verachtung übrig und die radikale Linke, in der sie großgeworden sind, längst in die Tonne getreten haben.

So haben die RapperInnen von Alles.Scheizse auf der Künstlerkonferenz leichtes Spiel, im satirischen Overdrive alles miteinander zu kombinieren, was nicht zusammenpaßt, um die innere Widersprüchlichkeit eines Kampfes gegen den Antisemitismus, dem sein Gegenstand in ursprünglicher Intention abhanden kam, weil er als Mittel und Zweck im politischen Kampf um die hegemoniale Stellung des Staates Israel im Nahen und Mittleren Osten verbraucht wurde, links oder rechts, wie es der Querfront einerlei ist, zu überholen. Das traurige Ergebnis der Leichtfertigkeit, mit der Antisemitismus überall dort ausgemacht wird, wo Widerstand gegen neokoloniale Gewaltverhältnisse geübt wird, um dort nicht mehr erkannt zu werden, wo sich das Haupt des Menschenhasses erhebt und sich anschickt, neue Vernichtungsfeldzüge im falschen Namen von Freiheit, Recht und Zivilisation loszutreten, besteht in anwachsender Verwirrung und Desorientierung ob der sozialen und politischen Positionen, an denen im sich zuspitzenden Kampf gegen die neue Barbarei Maß genommen werden kann.


Am Rednerpult - Foto: © 2019 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
Foto: © 2019 by Schattenblick

Zu den Möglichkeiten und Grenzen widerständiger Kunst und Kultur in der Warengesellschaft

Moshe Zuckermann schöpfte aus der Fülle seiner kunsttheoretischen Arbeiten, um den Gegenstand seines Vortrags mit prägnanten Beispielen zu veranschaulichen. So erinnerte er an den immanenten Widersinn etwa im Elvis-Song "In the Ghetto", zu dem in der Disco getanzt wurde. Dali strebte als Teil der surrealistischen Bewegung eine Kunst frei von ästhetischer und ethischer Kontrolle an. Als er aber Hitlers Amme gemalt hatte und alle schockiert waren, konnte seine Erklärung, er träume von ihr, seine Vertreibung aus der Bewegung nicht verhindern. Dann bin ich der einzige Surrealist hier, so Dali. Eine Situation, in der Kunst scharf verfolgt wird, thematisiert Klaus Manns "Mephisto" über Gustaf Gründgens, der von den Nazis integriert wurde. Höfgen verrät nach und nach alle Freunde: Ich wollte doch nur Schauspieler sein. Es gibt Momente, wo wir Position beziehen müssen, so Zuckermann. Israels Kulturministerin rühme sich ebenso ignorant wie offen, Tschechow nie gelesen zu haben, und streiche kritischen Projekten die Subventionen. Pseudodemokratische Gesellschaften bringen die Selbstzensur hervor. Als Rembrandt mit seiner "Nachtwache" revolutionäre Kunst geschaffen und dabei die Vorstellungen der Gilde übertreten hatte, verlor er alle Klienten und wurde ausgeschaltet. Einzig die Überschreibung einiger Geschäfte auf Familienmitglieder bewahrte ihn vor völliger Verarmung. Es ist die Nische, in der wir denken müssen, mahnte Zuckermann. Francisco Goya war als Hofmaler dem Herrscherhaus uneingeschränkt verpflichtet. Als er jedoch die königliche Familie malte, ließ er Carlos IV. wie einen Idioten aussehen. Man konnte ihm nichts vorwerfen, und doch übte er politische Kritik. Um mit Adorno zu sprechen: Große Kunst war immer auch Ware, aber sie war nie nur Ware.


Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Stefan Huth, Konstantin Wecker
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Widerstand und Poesie

Im Gespräch mit Stefan Huth (Chefredakteur junge Welt) räumte Konstantin Wecker unumwunden ein, daß ihm viele gute Texte schlichtweg passiert und oftmals weicher ausgefallen seien als seine damalige Machohaltung. Er fördere viele junge Leute und sei auf der Hut, auf der Bühne nicht der Macht über das Publikum zu erliegen. Mit einem Opern singenden Großvater und einer dichtenden Mutter habe es nicht fern gelegen, daß er mit 16 Jahren Gedichte für sich entdeckte. Er sei auch ein spiritueller Mensch, der Rielke sehr schätze, könne Ratio doch nicht alles erfassen. Wir brauchen wieder Empathie, die höchste Errungenschaft des Homo sapiens, so Wecker. Jeder solle sich nach eigener Fähigkeit engagieren, er tue dies als Liedermacher, ein anderer vielleicht in der Flüchtlingsarbeit.


Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf dem Podium - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Wieland Hoban, Mesut Bayraktar
Fotos: © 2019 by Schattenblick

"Utopie von der Freiheit des Menschen" - Revolutionäre Kunst und Kultur heute

Unter Moderation Stefan Huths sprach der deutsch-englische Komponist Wieland Hoban über sein umstrittenes Stück, das die Besatzung der Palästinensergebiete thematisiert. Wenngleich er sich dabei ausschließlich auf Aussagen eines israelischen Soldaten stützt, sieht er sich heftigen Anfeindungen ausgesetzt, erfährt aber auch Unterstützung aus vielen Richtungen. Ihn habe dieser Konflikt interessiert, zumal die Verhältnisse auf extreme Weise verdreht würden. Er argumentiere mit den Fakten, wie er sie aus der genannten Quelle erschlossen habe. Inwieweit von Avantgarde oder revolutionärer Kunst die Rede sein könne, hänge immer vom Kontext ab. Vieles was heute widerständig sei oder anmute, werde später Konsens und Mainstream.

Der Schriftsteller Mesut Bayraktar hob anhand seiner Biographie hervor, daß er schlichtweg Glück gehabt habe, zum Schreiben zu kommen. In seiner Familie mit Migrationshintergrund existierte Hochkultur nicht. Erst als er die Grenzen dieses Milieus überschritten habe, sei es ihm möglich gewesen, die Klassenverhältnisse zu identifizieren. Als ihn die soziale Frage mehr und mehr beschäftigte, habe er über die Marx-Lektüre die Klassengewalt geradezu sinnlich erfahren. Er begann mit 23 Jahren zu schreiben und kontrastierte beispielsweise den Körper seines hart arbeitenden Vaters, dessen Bandscheibenvorfälle gleichsam die Schläge des Kapitals repräsentierten, mit den ganz anderen Körpern der Menschen, die ein Theater besuchen. Bei einem Familientreffen habe er seine Mutter nach so vielen Jahren erstmals singen gehört, was ihn lehre, daß es den Menschen oftmals vor allem an Ausdrucksformen fehlt, nicht aber an Fähigkeiten. Daß er selbst Glück gehabt habe, zeige indessen, wie viele andere angesichts dieser sozialen Verhältnisse Unglück hätten.


Auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Shekib Mosadeq und Konstantin Wecker tragen vor
Foto: © 2019 by Schattenblick

Dem schloß sich Konstantin Wecker an, nachdem er von seiner Zusammenarbeit mit einem international besetzten Kammermusikorchester und anderen fruchtbaren Begegnungen erzählt und sich selbst als pazifistischen Anarchisten charakterisiert hatte. Auch bei ihm sei vieles einfach Glück gewesen, da er etwa mit wunderbaren Künstlerinnen wie Mercedes Sosa oder Joan Baez singen durfte. Wir haben deshalb Verantwortung, brachte Wecker seine Konsequenz auf den Punkt.


Auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Moshe Zuckermann, Esther Bejarano, Susann Witt-Stahl
Foto: © 2019 by Schattenblick

"Im Vergangenen den Funken der Hoffnung anfachen" - Erinnerungskultur als Akt der Rettung

Rolf Becker, aus Walter Benjamins Auseinandersetzung mit dem Begriff der Geschichte rezitierend: Sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt. Die Chefredakteurin von Melodie & Rhythmus, Susann Witt-Stahl, moderierte das abschließende vierte Podium, zu dem sie den österreichischen Schriftsteller Erich Hackl, Moshe Zuckermann und, gewissermaßen als Ehrengast der Konferenz, Esther Bejarano begrüßen konnte. Auch sie nahm Bezug auf Benjamin: Nichts, was sich ereignet hat, ist für die Geschichte verlorengegangen.

Esther Bejarano nannte angesichts der aktuellen Rechtsentwicklung zahlreiche Parallelen zur damaligen Zeit. Etwa in der Flüchtlingspolitik, waren doch seinerzeit viele Menschen vergeblich vor der Nazidiktatur geflohen, da sie nirgendwo Aufnahme fanden und ins Verderben zurückkehren mußten. Daß heute wieder Nazis aufmarschierten und den Hitlergruß zeigten, sei für sie unerträglich. Die AfD sei voll von solchen Leuten. Schweigen damals wie heute. In ihrem Leben habe sie am meisten beleidigt, daß ihr in Israel vorgeworfen wurde, sie habe im KZ kollaboriert. Sie und ihr Mann konnten nicht wie erhofft in Israel leben, weil sie nicht gegen die Palästinenser waren. Sie bediene sich zur Aufklärung der Musik und erzähle jungen Menschen ihre Geschichte. Um sie nicht nur zu deprimieren, sondern Mut fassen zu lassen, sei Musik ein Schlüssel.


Auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Erich Hackl
Foto: © 2019 by Schattenblick

Angesichts der erneuten Rechtskoalition in Österreich räumte Erich Hackl ein verbreitetes Gefühl der Ohnmacht ein. Wie lasse sich Resignation verhindern? Man müsse Menschen um sich haben und Gemeinschaft herstellen, weshalb er über Menschen schreibe, die im Widerstand waren, um ihnen ein Leben wiederzugeben. Er gab zu bedenken, daß angesichts politischer Ohnmacht Kunst diese Lücke nicht füllen könne. Ihr wohne jedoch ein interventionistisches Moment inne, etwa die Geschichte bestimmter Menschen zu erzählen, und diesen Weg nehme er.

Seit Gründung des Staates Israel wurde die Shoa vereinnahmt und zionisiert, so Moshe Zuckermann: Von der Shoa zur Wiederauferstehung, Israel als Antwort auf die Shoa, sicherheitspolitisch ohne Rücksicht auf Menschenrechte anderer. Dies sei die Grundfarbe der Staatsideologie, die nichts mit den Opfern zu tun habe. Shoa-Überlebende werden gebraucht, aber nicht als solche wahrgenommen. Israel sei nicht gegen den Antisemitismus in anderen Ländern, sondern begrüße ihn sogar als nützliches Instrument. Wiedergutmachung galt nicht den Opfern, sondern wurde mit dem Staat Israel geregelt, wo doch die Wunde des Holocaust ohnehin nicht wiedergutgemacht werden könne. Wie Zuckermann ausführte, ist Adorno zufolge nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch. Dies nahm er 20 Jahre später zurück, indem er einräumte, daß menschliches Leid ein Recht habe, genannt zu werden. Als Zuckermann in den 70er Jahren als Soziologe im Militär junge Offiziere befragte, hätten ihm viele gesagt, daß sie nach der Erfolgsserie "Holocaust" endlich begriffen hätten, was damals geschehen sei. Während sie dokumentarische Bilder paralysierten, entwickelten sie über die Serie emotionale Anbindung. Diese habe jedoch mit den Opfern so wenig zu tun wie die Tränen Jugendlicher, die beim Auschwitzbesuch ihrem Liebeskummer freien Lauf lassen könnten. Besser als die Kitschserie, wenngleich immer noch problematisch, dann 20 Jahre später "Schindlers Liste" von Spielberg, der allen Ernstes glaubte, er nehme den Oscar im Namen von sechs Millionen ermordeter Juden entgegen. Die "Todesfuge" Paul Celans sei hingegen ein Gedicht, in dem man etwas über den Holocaust erfahren könne. Wie kann man erinnern? Ich habe keine definitive Antwort darauf, warnte Zuckermann vor versiegelnden Abschlüssen.


Auf dem Podium mit Blattvorlage - Foto: © 2019 by Schattenblick

Lesung Esther Bejarano
Foto: © 2019 by Schattenblick

Internationale Front gegen rechts - eine Rede Esther Bejaranos

Zum Abschluß der Konferenz rief Esther Bejarano in einer Rede zum entschiedenen Widerstand gegen den rechten Vormarsch auf: Ich weiß, was uns sonst bevorsteht! Wir haben gewarnt und gerufen: Nie wieder schweigen! Nie wieder darf es einen Holocaust geben! Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich viele Nazis in der jungen Bundesrepublik eingenistet und ihren menschenverachtenden Geist fortgeschrieben. Heute werde mit Waffen gehandelt, ohne an die Opfer zu denken, würden Flüchtlinge gnadenlos abgewiesen. Wir müssen aufstehen gegen den wiederkehrenden Faschismus und für eine menschengerechte Welt! 70 Jahre Grundgesetz werden gefeiert, aber richtet sich die Regierung danach? Gegen den Aufmarsch der Rechten stehen wir alle gemeinsam auf - das ist meine Devise und meine Hoffnung, so die Zeitzeugin damals wie heute.

(wird mit einem Bericht über die abendliche Kulturgala fortgesetzt)


Signiergelegenheit mit Esther Bejarano - Foto: © 2019 by Schattenblick

Über die Zeiten hinweg ...
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] www.aphorismen.de/suche?f_thema=Kultur&seite=2

[2] www.melodieundrhythmus.com/mr-1-2019/manifest-fuer-gegenkultur/


11. Juni 2019


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