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BERICHT/039: Antirep2010 - Der "War On Terror" und moderner Faschismus (SB)


"... weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen"

Podiumsdiskussion in Hamburg am 8. Oktober 2010

Mobilisierungsplakat - © 2010 by Schattenblick

Einladung zu arbeitsintensivem Wochenende
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Der erste Abend des Internationalen Antirepressionskongresses 2010 an der Universität Hamburg stand im Zeichen des seit den Anschlägen des 11. September 2001 dominanten Paradigmas westlicher Kriegführung, des Global War on Terror (GWoT). Die Veranstalter vom Wissenschaftlichen Hochschulzusammenschluss zur Erforschung des Mensch-Natur-Verhältnisses wollten dieses Thema nicht zuletzt deshalb diskutieren, weil sich der Terrorkrieg auch und gerade gegen die antikapitalistische Linke in den Metropolengesellschaften der westlichen Hemisphäre richtet. Nach einer Grußadresse Noam Chomskys, einer der international bekanntesten Kritiker der aus 9/11 abgeleiteten Kriegsvorwände, wurde das Podium von Moderator Jürgen Reents mit einem Zitat von Bertolt Brecht aus seiner 1938 zur Verbreitung in Hitler-Deutschland vorgesehenen Schrift "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" eröffnet:

"Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, daß unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden."

Unter dem Titel "Der 'War On Terror' und moderner Faschismus" aus einer oppositionellen Schrift aus der Hochzeit der NS-Herrschaft zu zitieren dient der Absicht, die globale Entwicklung staatlicher Repression und Kriegführung in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts auf einen vertrauten Begriff linken Widerstands zu bringen. Es ist Aufgabe der Podiumsgäste Georg Fülberth, Wolfgang Fritz Haug, Rolf Becker und Thomas Wagner, sich einer Antwort auf die von dem Chefredakteur des Neuen Deutschland aufgeworfene Frage nach einer Zuordnung des aktuellen Herrschaftssystems - "moderner Faschismus, permanenter Ausnahmezustand, vorbeugende Konterrevolution?" - zumindest anzunähern.

Saal mit Podium und Auditorium - © 2010 by Schattenblick

... aus weiter Ferne verbindliche Worte Noam Chomskys
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Nach einem Exkurs zum aktuellen Thema "Währungskrieg", in dem der Philosoph Wolfgang Fritz Haug die USA als "Weltherrscher im Abstieg" kennzeichnet, bringt der Politikwissenschaftler Georg Fülberth das Gespräch auf den NS-Kronjuristen und Staatsrechtler Carl Schmitt, dessen Anhänger sich offensichtlich auch unter den Beratern des US-Präsidenten Barack Obama finden. Schmitts Theorie zum Thema Ausnahmezustand wurde bis auf das notwendige Vorhalten äußerer Feinde zur inneren Mobilisierung der Bevölkerung nicht weiter verfolgt, wiewohl seine Bekanntheit gerade auch im angloamerikanischen Bereich Anlaß dazu gegeben hätte. Die Popularität rechtskonservativer Ideologen wie Schmitt oder Leo Strauss nicht nur unter den neokonservativen Vordenkern Washingtons, sondern auch der neuen Rechten in Deutschland bietet einige Anknüpfungspunkte an die Wurzeln einer Herrschaftsdoktrin, deren Sachwalter sich unter den Beratern der Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenso finden wie unter einflußreichen deutschen Verfassungsrechtlern.

Rolf Becker - © 2010 by Schattenblick

Rolf Becker
© 2010 by Schattenblick

Der Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker wirft die Frage auf, gegen wen die expansionistischen Bestrebungen gerichtet sind, zu deren Legitimation die Ideologie des Terrorkriegs installiert wird. In diesem Zusammenhang erinnert er an den völkerrechtswidrigen Jugoslawienkrieg, der hierzulande gerne vergessene Sündenfall eines Deutschland, das nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs allen Grund gehabt hätte, zum Vorkämpfer unbedingter Gewaltfreiheit in der internationalen Politik zu werden. Daß es anders kam, ist nicht zuletzt Ergebnis einer Verkehrung eigener Schuld an der Vernichtung der europäischen Juden in einen Aktivposten neuer Kriegslegitimation. Die dabei explizit angeführte Rechtfertigung, man wolle in Jugoslawien ein neues Auschwitz verhindern, als auch die Dämonisierung des Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, Slobodan Milosevic, als neuer Hitler sind Beispiele für eine Ideologieproduktion, deren machiavellistische Willkür als adäquater Beleg für die instrumentelle Intelligenz eines modernen Faschismus dienen könnte. Das Posthistoire des hegemonialen Liberalismus bedient sich der Vergangenheit in einem ausschließlich geschichtspolitischen Sinn, der nicht nur den kritischen Umgang mit einer Geschichtschreibung der Sieger, sondern jeglichen Rückgriff auf historische Fakten zum Entwurf einer menschenfreundlichen Zukunft in seiner Gültigkeit negiert.

Thomas Wagner - © 2010 by Schattenblick

Thomas Wagner
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Der Soziologe Thomas Wagner gibt zu bedenken, daß die neue Rechte nicht mehr den Faschismus propagiert, sondern mehr direkte Demokratie fordert. Protagonisten eines plebiszitären Präsidialsystems wie der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim oder der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog geht es um die Demontage eines parlamentarischen Systems, indem intermediäre Institutionen und demokratische Aushandlungsstrukturen wie Parlamente, Gewerkschaften, Parteien und Verbände zugunsten einer Vertikale zwischen Regierung und Volk entmachtet werden. Ziel ist, wiederum nach Carl Schmitt, eine "wirkliche Volksherrschaft mit einer 'Identität von Regierten und Regierenden'", die für korporatistische Herrschaftsformen wie der italienische Faschismus unter Mussolini oder der Austrofaschismus unter Dollfuß idealtypisch vorgedacht wurde. Maximale Handlungsfreiheit einer starken Exekutive in Interessengleichrichtung mit der Kapitalmacht zu Lasten aller Kräfte, die den Antagonismus von Kapital und Arbeit zur Grundlage demokratischer und sozialistischer Forderungen nehmen, wäre durchaus als Entwurf für einen modernen Faschismus zu verstehen, sofern man diesen Begriff überhaupt verwenden will.

Bevor dieses Problem angesprochen wird, geht es zunächst um die Frage, ob der Terrorismus überhaupt eine Gefahr darstelle. Eine Kritik des in blutigen Farben schillernden wie demagogisch eingesetzten Terrorismusbegriffs wäre sinnvoll gewesen, handelt es sich in seiner Verwendung durch staatliche Exekutivorgane doch um ein Stigma ersten Ranges. Um zu präventiven Verdächtigungen und extralegalen Repressionspraktiken zu ermächtigen bedarf es einer starken Dosis unhinterfragbarer Gewißheit, um nach der Devise "Erst schießen, dann fragen" gegen vermeintliche Staatsfeinde vorgehen zu können. Was konventionellerweise nach den Regeln der Strafverfolgung geahndet werden müßte, hat sich längst zum Primat staatlicher Handlungsvollmacht entwickelt, ohne daß überhaupt noch gefragt würde, ob die in Anspruch genommene Dringlichkeit der jeweils unterstellten Bedrohungslage ein solch antidemokratisches Vorgehen rechtfertigt. Was im sicherheitstechnischen Sinne gerne als politisch konnotierte Gewaltpraxis nichtstaatlicher Akteure definiert wird, dient seinerseits politischen Zwecken, die die Reduktion antiterroristischer Maßnahmen auf eine Angelegenheit staatlichen Vollzugs als integralen Bestandteil autoritärer Herrschaftspraxis erkennen lassen.

Georg Fülberth - © 2010 by Schattenblick

Georg Fülberth
© 2010 by Schattenblick

Fülberth erinnert daran, daß die SPD bereits 1878 als Maßnahme gegen den Terror verboten wurde, der Terrorismus also schon seit langem als innenpolitisches Mobilisierungsinstrument benutzt wird. Haug kam auf die Vorgeschichte Al Qaidas als Geschöpf der USA im afghanischen Stellvertreterkrieg gegen die Sowjetunion zu sprechen, um die Aufrüstung der reaktionärsten Teile des Islam auch gegen alle weltoffeneren Richtungen dieser Religion als antimoderne Offensive darzustellen. Was für die geostrategische Reorientierung der USA nach dem Niedergang der Sowjetunion an einem neuen Feind, der ihr militärkeynesianisches Regulationsmodell legitimierte, Sinn machte, habe sich zu einer echten Gefahr auch für Linke gemausert.

Dieser Behauptung hält Wagner die Frage entgegen, wer denn die meisten Opfer im Krieg gegen den Terrorismus erleide. Ihm sei das Konzept eines Aufstands gegen die Moderne auch deshalb zu einfach, weil sich unter den Konfliktparteien in modernen Kriegen auf allen Seiten antimoderne Kräfte fänden. Auch dieser Strang der Debatte bleibt als loses Ende übrig, was bei einer auf anderthalb Stunden terminierten Diskussion zu einem weltbewegenden Thema nicht anders zu erwarten ist. Dem interessierten Zuhörer bieten sich allerdings viele Ansatzpunkte für vertiefende Fragen an anderer Stelle, dafür sorgt auch Haug mit der Feststellung, daß sich der Westen trotz des Terrorkriegs auf dem Rückzug befände und eine kleine Minderheit der Menschen nicht auf Dauer die übergroße Menge der Ressourcen verbrauchen könne. Haug vergißt auch nicht daran zu erinnern, daß die BRD mit ihrer Außenhandelsorientierung nicht nur Waren, sondern vor allem Krisen in andere Länder exportiert. Es gehe auch in den wirtschaftlichen Beziehungen um Staatenkonkurrenz, etwa um den anderen die eigenen Bedingungen aufzuzwingen. Wenn unser Überschuß deren Minus ist, so gilt dies natürlich nicht für Erwerbstätige, die den deutschen Standortvorteil mit Niedriglöhnen und unumkehrbarer Ausgrenzung aus dem Arbeitsleben bezahlen.

Auch Becker bewertet die angebliche Bedrohung durch reaktionäre Islamisten anhand der Frage, wer denn agiert und wer reagiert, entgegen der von Haug aufgestellten These. Kriege sind für ihn vor allem Ausdruck des politisch-ökonomischen Krisenmanagements, das sich zwangsläufig aus dem finanzkapitalistischen Formwandel seit Mitte der 1970er Jahre ergibt.

Jürgen Reents - © 2010 by Schattenblick

Jürgen Reents
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Moderator Reents wirft die Frage nach dem Faschismus auf und erhält die Antwort Haugs, daß wir die Normalität bürgerlicher Demokratie auf der Basis des Kapitalismus in Aktion und keinen Faschismus erleben. Für Faschismus an der Macht gebe es kein historisches Beispiel, statt dessen seien faschistische Bewegungen stets auf Bündnispartner unter den nationalkonservativen Traditionseliten angewiesen. Er mahnt, mit dem Begriff des Faschismus vorsichtiger umzugehen und nach der konjunkturellen Situation zu fragen, in der es den Traditionseliten von Besitz und Macht angemessen erscheint, auf eine faschistische Bewegung zu setzen. Im Deutschland der Weimarer Republik habe eine gespaltene Arbeiterbewegung die Entfaltung des Kapitalismus behindert, so daß am Ende sogar die Judenvernichtung in Kauf genommen worden wäre, um dieses Problem zu lösen. Als Beispiel für eine heutige Entwicklung mit Faschisierungstendenz führt Haug die republikanische Tea Party in den USA an, die Präsident Obama als Hitler und Nazi diffamiert, der aufrechte Weiße ins Lager stecken wolle.

Auch Fülberth warnt vor historischen Masken und hält den Faschismus an der Macht für keine aktuelle Gefahr. Als Schwäche der antikapitalistischen Linken macht er das Auftreten der NPD gegen Kapitalismus und Imperialismus aus, eine Erkenntnis, die unter antifaschistischen Gruppen bereits zu einigen Verwerfungen geführt hat. Sehr wohl diagnostiziert Fülberth eine Unterspülung der repräsentativen Demokratie durch herrschafts- und kapitalkonforme Massenbewegungen, Beispiel Sarrazin. Sein Exkurs zur Krise der repräsentativen Demokratie führt über mehrere zeitgeschichtliche Beispiele in Europa zum Problem bürgerlicher Herrschaft, gegen den Zugriff des Kapitals auf die Massen nicht mehr regieren zu können. Daraus könnte sich am Ende eine andere Art bürgerlicher Herrschaft, siehe die Ambivalenz plebiszitärer Massenbewegungen, ergeben, die den Faschismus an der Macht vielleicht sogar überflüssig mache.

Becker gibt angesichts der Frage des Moderators nach einer faschistischen Gefahr in Deutschland die zunehmende Perspektivlosigkeit Jugendlicher zu bedenken, die ein besonderes Zielpublikum faschistischer Organisationen seien. Wenn der Kampf der noch vorhandenen demokratischen Organisationen nicht im Interesse der künftigen Generationen geführt werde, könne man gleich einpacken, so Becker, der die antidemokratische Gefahr in der bürgerlichen Mitte ansiedelt, die sich derzeit hinter Thilo Sarrazin - oder jedem anderen Demagogen, der die Position eines Volkstribuns einnimmt - versammelt. Eine allgemeine Gleichschaltung wäre nicht mehr erforderlich, weil sie schon innerhalb der Medien vorgemacht werde, schreibt dieser Vertreter der Gewerkschaft ver.di, Fachbereich Medien, dem journalistischen Gewerbe ins Stammbuch.

Wagner kann dem nur zustimmen, wie er anhand eines Beispiels für den völlig kritiklosen Umgang der großen Medien mit der biologistischen Formierung von Wirtschaft und Gesellschaft schildert. Die von ihm untersuchte Annäherung ultrakonservativer und liberaler Ideologien zwecks Aushebelung der repräsentativen Demokratie ergänzt Haug mit der Warnung vor einer Verbindung von Leistungsträgerideologie und Kameradschaftsideologie. Aufgrund der widersprüchlichen politischen Praxis, links zu blinken, aber rechts zu handeln, öffne die etablierte Politik einen Hohlraum, in den Sarrazins Behauptungen hineinströmten. Die "Faschisierung des bürgerlichen Subjekts" siedelt Haug vor allem in dessen Zurichtung auf Flexibilität, Konkurrenz und Leistung an.

Fülberth nimmt den Faden eines Pakts zwischen neoliberalen Eliten und rechtsradikalen Kameradschaften auf und bringt ihn auf das von Hannah Arendt geprägte Konzept eines zeitweiligen Bündnisses von Mob und Elite, das auf die heutige Situation anzuwenden sei. Er erinnert daran, daß nach 1945 eine passive soziale Revolution im Westen erfolgt sei, da die Bauern als große konservative Gruppe verschwanden und die Intelligenz zu einer Massenschicht wurde. Dieser in ungeheurem Maße artikulationsfähige Teil der Bevölkerung verankere sich immer stärker in der Mitte und bringe die Leistungsträger als Sachwalter der ökonomischen Eliten hervor. In diesem Prozeß, zu dessen Beschreibung es des Begriffs der Faschisierung nicht bedürfe, formiere sich im Widerlager der passiv bleibenden Prekarier eine neue Rechte.

Podium - © 2010 by Schattenblick

Podium lauscht Wolfgang Fritz Haug
© 2010 by Schattenblick

Wie Fülberth läßt sich auch Haug nicht auf die von Moderator Reents aufgeworfene Frage nach der Bedeutung der Nation in diesem Kontext ein. Die Struktur der Landschaft, in der man Leistungsträger werden kann, sei heute transnational, erläutert der ehemalige Hochschullehrer am Beispiel englischsprachiger Universitäten in der Bundesrepublik. Auch Becker hält die Bedeutung des Nationalismus für einen modernen Faschismus für eher fragwürdig, habe es sich doch beim Faschismus früher schon letzten Endes um eine internationale Bewegung gehandelt. Die entscheidende Frage laute, was ausgehebelt werde, so Becker, der das abnehmende Vertrauen in die parlamentarische Demokratie für eine große Gefahr hält. Es gehe darum, die Eigentumsverhältnisse zu ändern, indem man in einem ersten Schritt die gesellschaftliche Kontrolle ausweite, liege doch die Abschaffung des Privateigentums der Produktionsmittel in traumhafter Ferne.

Wagner wünscht sich einen Sozialismus, der so gut ist, daß die Leute ihn nicht selbst aufgeben, was Becker nicht überzeugt, denn er wünsche sich gar nichts. Ihm gehe es darum, konkrete Antworten auf konkrete Probleme zu finden. Dazu sei es erforderlich, die eigene Sprache wiederzufinden. Nur wer noch nicht im Beruf stehe oder das Berufsleben bereits hinter sich habe, könne sich eine Meinung erlauben. Wer auf sein Arbeitseinkommen angewiesen ist, könne dieses nicht zur Disposition seiner politischen Freiheit stellen, so Beckers Darstellung einer Praxis geistiger Repression, die nur mit geeinten Widerstandskräften großer Belegschaften überwunden werden könne.

Nun holt Fülberth noch einmal zu einem plastischen und unterhaltsamen Vortrag aus, in dem er dazu aufruft, die Eigentumsfrage anders zu stellen. Nach einer umfassenden Herleitung über das Verhältnis von Staat und Privateigentum gelangt Fülberth zur Notwendigkeit einer Steuerdiskussion, die im Interesse einer verbesserten Reproduktion der Gesellschaft zugunsten junger, alter und lohnarbeitender Menschen geführt werden müsse. Während die Politik die Arbeitsproduktivität in Deutschland mit Hilfe der Senkung der Lohnstückkosten, der Lohnnebenkosten, der Steuern und Transferleistungen zugunsten eines regelrechten Exportnationalismus steigere, werde der Reproduktionssektor völlig vernachlässigt. Dieser könne nur über Enteignungsmaßnahmen finanziert werden, die staatliche Investitionen zur Sicherung der Subsistenz, also des Lebensnotwendigen, ermöglichen. Dies nenne er Revolution, weil mit der Umwälzung der Steuerpolitik die Eigentumsfrage gestellt werde.

"Vielleicht brauchen wir eine gute sozialdemokratische Partei in Deutschland" - Fülberths Resümee mag, wenn es sich denn realisieren ließe, eine kleine Verbesserung gegenüber einem Status quo versprechen, doch dessen Entwicklungsperspektiven sind, wie Becker abschließend ausführt, von so bedrohlichem Charakter, daß die Auseinandersetzung mit dem schmerzhaften Teil der politischen und gesellschaftlichen Realität auch weiterhin das Feld linken Aktivismusses bestimmen dürfte. Er befürchtet angesichts der krisenhaften Situation und ihrer negativen Prognose, daß es früher oder später zu einem Krieg gegen Rußland und China kommt, während innenpolitisch Formen der Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen drohen, die mit den bisherigen parlamentarisch-demokratischen Mitteln nicht erreichbar sind. Für die Verwirklichung seiner Absicht, die Menschen zu sammeln, die dies verhindern können, gibt es angesichts der Schwäche der Linken und ihrer bislang nicht umgekehrten Zerfallstendenz kaum einen Anhaltspunkt.

Wolfgang Fritz Haug - © 2010 by Schattenblick

Wolfgang Fritz Haug
© 2010 by Schattenblick

Auch Haugs Forderung, eine Brücke zwischen den ausgeschlossenen und starken Elementen des Systems zu schlagen, weil ansonsten keine linke Politik möglich wäre, erscheint in Anbetracht des sich selbst unter Linken in Form einer zunehmenden Professionalisierung und damit Korrumpierung ihres Aktivismus Bahn brechenden Überlebensprimats wenig aussichtsreich. Das Entwickeln von Visionen für ein menschenwürdiges, gutes Leben anstelle des bloßen Widerstands gegen die Zumutungen kapitalistischer Vergesellschaftung dürfte unter dem von ihm empfohlenen Verzicht auf die totale Negation herrschender Verhältnisse kaum über die Wärme guter Gefühle hinausführen.

Eine schonungslose Analyse, um die sich die Diskussionsteilnehmer insbesondere in Hinsicht auf die Verortung antidemokratischer Gefahr in der Mitte der Gesellschaft bemühten, macht in Anbetracht der sich immer höher auftürmenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme allemal handlungsfähiger als das Schüren von Hoffnungen, die in der alltäglichen Lebenspraxis zu befestigen wiederum ein höchst nüchternes und streitbares Eintreten für all diejenigen bedarf, die zusehends unter die Räder der an ihrer eigenen Widersprüchlichkeit vergehenden kapitalistischen Produktivität geraten. Der so menschliche Reflex, das eigene Überleben zu Lasten des anderen zu organisieren, anstatt ohne Seitenblick auf die gesellschaftliche Anerkennung solidarisch zu handeln, nimmt mit den Mitteln des wissenschaftlich-technischen Fortschritts Formen des Zugriffs an, deren räuberischer Impetus in den letzten Winkel menschlicher, tierischer und pflanzlicher Existenz vordringt. Was im NS-Faschismus unter Inanspruchnahme der in den westlichen Industriestaaten vorherrschenden eugenischen Optimierungsdoktrin zu einem massenmörderischen Rassismus auswuchs, kommt in den Methoden informationstechnischer, biotechnologischer und humangenetischer Verwertung und Kontrolle auf unverdächtig erscheinende Weise zu sich selbst.

Eine an der Barbarei des NS-Staates orientierte Faschismusanalyse erscheint daher eher ungeeignet, um die Konsequenzen administrativer und ökonomischer Verfügungsgewalt auf der Höhe der Zeit auszuloten. Auch das Konzept eines modernen "Friendly Fascism", den in der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung und dem "War on Terror" zu verorten Thema des Abends war, birgt das Problem einer historischen Parallelisierung in sich, die zu dem beruhigenden Ergebnis führen kann, daß es so schlimm doch noch nicht sei. Wenn der Faschismus noch nicht in das Stadium der Macht getreten ist, braucht man auch keinen revolutionären Widerstand zu leisten, lautet die naheliegende Schlußfolgerung aus einer Lagebeschreibung, der die Abwesenheit rauchender Krematorien Zeichens genug ist, um über die mörderischen Folgen globalkapitalistischer Verwertungsstrategien hinwegzugehen.

Das Problem, den Anfängen zu wehren, um nicht ins Hintertreffen einer scheinbar unversehens etablierten Gewaltordnung zu geraten, ist in einer Welt, die die industrielle Massenvernichtung der Nazis als abgegolten historisiert hat, nicht eben leichter als vor dieser zivilisatorischen Zäsur geworden. Wenn, wie von den Diskussionsteilnehmern beschrieben, die emanzipatorisch erscheinende Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung droht, in autokratische Herrschaftsmodelle umzuschlagen, wenn selbst linksgewandeter Antifaschismus Krieg und Kapitalismus legitimiert, wenn identitätspolitische Befindlichkeiten Grundforderungen linker Solidarität negieren, wenn emanzipatorische Ideale zu Katalysatoren neoliberaler und neokonservativer Politik werden, dann stellen sich schwierigere Fragen als die Anwendung verbürgter Gewißheiten auf herrschende Verhältnisse. Deren adäquat zur rasanten Steigerung der Produktivkräfte beschleunigter Wandel gesellschaftlicher Regulative wie anthropologischer Verfaßtheit stellt widerständige Menschen vor Herausforderungen, die nur mit einer gehörigen Portion an geistiger Aufmerksamkeit und Beweglichkeit zu antizipieren sind.

13. Oktober 2010

Hauptgebäude der Universität Hamburg - © 2010 by Schattenblick

Trügerische Ivy-League-Idylle
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