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BERICHT/041: Antirep2010 - Yossi Wolfson streitet gegen Illegalisierung (SB)


Antiterrorgesetze und Repressionen gegen die Zivilgesellschaft in Palästina/Israel

Vortrag am 9. Oktober 2010 in Hamburg

Yossi Wolfson beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Yossi Wolfson
© 2010 by Schattenblick
Unter den Gründungsmythen des Staates Israel zieht gleichsam als Flaggschiff die Geschichtsfälschung ihre Bahn, ein Volk ohne Land habe ein Land ohne Volk in Besitz genommen und urbar gemacht. Die systematisch ausgeblendete und verleugnete Erblast der Vertreibung ist zu einer Staatsdoktrin geronnen, die den fortgesetzten Raub zu Lasten der Palästinenser in die unabweisliche Notwendigkeit israelischer Selbstverteidigung verkehrt und jedes Aufbegehren der Drangsalierten als nicht hinzunehmenden Angriff auf das Existenzrecht Israels stigmatisiert und sanktioniert. Das Grundverhältnis von Siegern und Besiegten hat auch nach mehr als 60 Jahren nichts von seinem Zwangscharakter verloren, da israelische Regierungspolitik Frieden stets mit der Unterwerfung und Ohnmacht der Palästinenser gleichsetzte, denen ein Leben in Würde versagt blieb.

Von seinen Verbündeten subventioniert und hochgerüstet, wuchs Israel zu einer militärischen Übermacht heran, deren Willkür sich dank felsenfester politischer und ideologischer Rückendeckung in allen Konflikten zügellos gebärdete. Die Palästinenser sehen sich einem Zwangsregime unterworfen, das dem Völker- und Menschenrecht ungestraft spottet, da es sich in Kumpanei mit den westlichen Führungsmächten als deren Speerspitze im Nahen Osten unentbehrlich gemacht hat. Im Freiluftgefängnis des Gazastreifens und dem Bantustan des Westjordanlands manifestiert sich ein zweigleisiger strategischer Entwurf, der im entbehrlichen kargen Küstensegment eineinhalb Millionen zusammengepferchte Menschen in Lagerhaft hält und sich zugleich das ressourcenreiche Kernland durch Fragmentierung und Siedlungsbau einverleibt, bis der fiktive Palästinenserstaat allenfalls als Protektorat realisiert werden kann.

Die Unterjochung palästinensischen Lebenswillens hat zahllose Gesichter, die von alltäglicher Erniedrigung über existentielle Einschnürung bis hin zu Folterhaft und physischer Vernichtung reichen. Von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen werden in erster Linie extreme Überschreitungen bis dahin für sicher erachteter Grenzen der Humanität und Legalität, wie das Massaker der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen, die humanitäre Katastrophe der dort eingekesselten Bevölkerung, der sich unablässig voranfressende Siedlungsbau oder die Machtdemonstration des Angriffs auf die Gazaflottille. Im Schatten solcher Exzesse entfaltet sich eine jahrzehntelang perfektionierte administrative Zugriffsgewalt, die Palästinenser existentieller Unwägbarkeit überantwortet, ihrer Entfaltungsmöglichkeiten beraubt und jeden Geist des Widerstands zu zermürben sucht.

Yossi Wolfson beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

An der Seite der Unterdrückten
© 2010 by Schattenblick
Wie der Jerusalemer Rechtsanwalt Yossi Wolfson im Dezember 2009 in einem offenen Brief an die deutsche Linke schrieb, stehe er in einer Tradition, die sich an die Seite der Unterdrückten stellt, Ungerechtigkeit bekämpft und gegen die kapitalistische Ausbeutung positioniert. Er trete gegen den Krieg ein, sofern dieser nicht den Palästen gelte, und stehe für Internationalismus und Widerstand gegen Rassismus in all seinen Ausdrucksformen ein. Angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeit auf dem Fleckchen Erde, wo er lebe, ergreife er demzufolge Partei für deren Opfer. Das Elend der Flüchtlingslager und die ungeheure Armut, die in den palästinensischen Vierteln Ostjerusalems herrscht, die tägliche Willkür an den Checkpoints und die Rechtlosigkeit arabischstämmiger Menschen dürften nicht hingenommen werden. Mit Schrecken sehe er junge Israelis, die die Welt durch den Lauf ihres Gewehres wahrnehmen und zu brutalen Bütteln im Dienst eines Regimes geworden sind, das unterschiedliche Gesetze für Juden und für Araber vorsieht. Die hochmütige Skyline aus Glas und Beton von Tel Aviv und die elenden Gassen in den palästinensischen Ortschaften ließen keinen Zweifel, welche zwei Welten in dem kleinen Stück Land am Mittelmeer aufeinanderprallen. [1]

In seinem Vortrag über Antiterrorgesetze und Repressionen gegen die Zivilgesellschaft in Palästina/Israel ging Yossi Wolfson, der sich vor allem mit Menschenrechten und Tierschutz befaßt, in ausgewählten Beispielen aus seiner beruflichen und politischen Praxis auf den Komplex gesetzlicher, behördlicher und sicherheitsrelevanter Kontrollmechanismen und Sanktionsinstrumente ein, die den Alltag der Palästinenser zur Tortur machen. Er arbeitete in den letzten Jahren für das Center for the Defence of the Individual (HaMoked) und vertrat diese Organisation in einigen zentralen, von Palästinensern erhobenenen Menschenrechtsklagen aus den besetzten Gebieten vor dem Obersten Gerichtshof Israels.

Wolfson zufolge existieren zur gleichen Zeit mehrere Rechtssysteme im Land. In Israel herrscht formal Demokratie, während im Westjordanland das Militärrecht gilt und der Gazastreifen zwar offiziell nicht unter israelischer Besatzung steht, aber völkerrechtlich einem solchen Regime unterworfen ist. Während auf diese Weise je nach Aufenthaltsort eine eklatante Ungleichheit vor dem Gesetz besteht, werden überdies diverse Rechtsformen in derselben Region zur Anwendung gebracht. Palästinenser oder allgemein arabischer Herkunft zu sein, unterwirft den Menschen in jedem Fall einer Rechtswillkür, deren Zwangsdiktat unter Umständen vervielfacht werden kann.

Der auch in Israel in Stellung gebrachte "Krieg gegen den Terror" hatte historische Vorläufer in den weitreichenden, 1945 erlassenen Notstandsmaßnahmen der britischen Mandatsmacht, die dem Verteidigungsminister in London das Recht einräumten, politische Organisationen zu verbieten. Diese Verordnung wurde 1948 abgeschafft, später jedoch von der israelischen Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten reaktiviert, wo dieses Recht auf den zuständigen Militärkommandanten überging.

Das aktuelle Antiterrorsystem als zentrales Instrumentarium administrativer Willkür hebt auf den Umstand ab, daß die meisten politischen Gruppierungen der Palästinenser über einen militärischen und einen politischen Arm verfügen. Eine darauf zugeschnittene Gesetzeslage erlaubt es der Regierung, politische Bewegungen massiv unter Druck zu setzen und zu sanktionieren, indem sie pauschal der Unterstützung einer illegalen Betätigung bezichtigt werden. Auf diese Weise wird die traditionelle Trennung zwischen sozialer Arbeit und politischem Aktivismus unterlaufen und für nichtig erklärt.

Yossi Wolfson beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Plädoyer gegen Willkür
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Per gesetzlichem Erlaß werden palästinensische politische Parteien mit bewaffnetem Arm wie die Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) oder die Hamas zu "terroristischen Organisationen" erklärt, wovon auch deren zivile Flügel betroffen sind. Dazu bedarf es keiner nachweislichen Verbindung zu illegalen Aktivitäten, vielmehr reicht das willkürliche Verdikt der Behörden aus. Zudem kommt in großem Maßstab das Konstrukt der "verbotenen Vereinigung" zur Anwendung, das sehr breit gefaßt ist und weit vor jeder illegalen Aktivität greift. Untersagt ist nicht nur die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung, sondern auch die Teilnahme an ihren Treffen, die Werbung für ihre Tätigkeit und Ziele, ihre Publikationen und selbst das Lesen derselben.

Dieses Verdikt zielt darauf ab, alle Kontakte mit einer "verbotenen Vereinigung" weiträumig zu unterbinden, sie dadurch zu isolieren und schließlich zu eliminieren. Selbst wenn letzteres nicht gelingt, greift doch eine massive Diskreditierung und Abschreckung, wodurch der Zusammenschluß in politischen Organisationen und mithin jeder Ansatz kollektiven Handelns sabotiert zu werden droht. Auf diese Weise werden völlig legale Tätigkeiten unter Strafe gestellt und nicht zuletzt Ansätze einer kulturellen Betätigung und sozialen Versorgung der Bevölkerung blockiert, die mangels staatlicher Leistungen häufig die einzige Unterstützung darstellen.

Wer subversiver Aktivitäten bezichtigt wird, worunter alle erdenklichen tatsächlichen oder angeblichen Kontakte zu "verbotenen Vereinigungen" fallen können, muß mit Festnahme durch die Sicherheitskräfte rechnen. Verhöre werden in der Regel ohne Anwalt durchgeführt, der Gefangene wird isoliert und extremen Haftbedingungen unterworfen, die als Folter einzustufen sind. Zellen mit minimalster Ausstattung, Besuchssperre, Hitze oder Kälte, Dauerlicht und andere Formen des Schlafentzugs sind nur einige Beispiele aus dem Repertoire gezielter Erniedrigung, Desorientierung und Zersetzung des Widerstands. Da die Administrativhaft immer wieder verlängert werden kann, ist ihr Ende unabsehbar. Wenngleich auch das unmittelbare Zufügen von Schmerzen und Verletzungen bis hin zu bleibenden physischen Schäden gang und gäbe ist, stellt die Isolationshaft eine der perfidesten Methoden dar, den Widerstand des Gefangenen bis zu dem Punkt aufzuweichen, an dem er den einzig verbliebenen sozialen Kontakt in Gestalt seines Peinigers als vermeintlichen Rettungsanker ergreift.

Wie Wolfson anhand zahlreicher Beispiele belegte, wird palästinensisches Leben unter Anwendung der Antiterrorgesetze mittels eines weitverzweigten und engmaschigen Netzes administrativer Maßnahmen eingeschränkt, so daß alle erdenklichen zivilgesellschaftlichen Anliegen wie Armutsbekämpfung, Bildung, Kulturarbeit oder Sport untersagt, ihre Organisationsformen verboten und deren Akteure bestraft werden. Auf diese Weise wird die Teilnahme an sozialen, kulturellen oder politischen Aktivitäten sanktioniert, nicht weil von diesen gewalttätige Aktionen ausgingen, sondern weil ihre Existenz und Agenda dem israelischen Sicherheitsstaat ein Dorn im Auge ist. Der sogenannte Antiterrorkrieg erweist sich im Nahen Osten nicht zuletzt als Arsenal der Zerstörung und Verhinderung sozialer und politischer Prozesse, die geeignet sein könnten, Widerstand gegen die Durchsetzung einer rassistisch konnotierten Herrschaftsordnung zu entfalten.

Yossi Wolfson beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Mahnung zur Solidarität
© 2010 by Schattenblick

Auch wer sich in aller Konsequenz für Tierrechte einsetzt, läuft Gefahr, einer "verbotenen Vereinigung" zugerechnet und mit einem Verdikt belegt zu werden. Während die Tierrechtsbewegung in Palästina/Israel in den 1990er Jahren von Anarchisten dominiert war, sind es heute eher Nichtregierungsorganisationen und andere etablierte Gruppierungen, die in Kampagnen zu bestimmten Schwerpunkten von sich reden machen. Wie radikale Fraktionen der Bewegung Gefahr laufen, isoliert und sanktioniert zu werden, sofern ihnen eine konforme Mehrheit die Unterstützung versagt, legt Wolfson auch den Tierrechtsorganisationen in ihrer Gesamtheit dringend ans Herz, Solidarität mit anderen emanzipatorischen Kräften zu üben und von diesen einzufordern.

Distanziert man sich von Oppositionsbewegungen der arabischen Welt und im Besonderen von jenen, die von westlichen Regierungen stereotyp als "Terroristen" diskreditiert werden, dient man sich diesem fundamentalen Spaltungsversuch an, der maßgeblich dazu beigetragen hat, die Palästinenser zu fraktionieren und entscheidend zu schwächen. Bei näherer Prüfung der politischen Agenden solcher Gruppen wird man nicht nur Unterschiede feststellen und Vorbehalte formulieren, sondern auch gemeinsame Anliegen und Interessen antreffen, die nach Solidarität verlangen. Das gilt nach Auffassung Wolfsons auch für die Hamas, die zwar beträchtliche konservative Züge aufweist und gegen linke Organisationen vorgeht, jedoch zugleich eine bedeutende Gruppierung mit antiimperialistischer Ausrichtung ist, die auszugrenzen oder zu ignorieren fatale Konsequenzen nach sich zöge, beraubte man sich doch fundamentaler Mittel, der Teilbarkeit und Beherrschbarkeit der Unterworfenen etwas entgegenzusetzen.

Hinter dem Uni-Hauptgebäude ragt das CCH auf - © 2010 by Schattenblick

Forschung und Lehre im Schatten hanseatischen Himmelsstrebens
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Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/meinung/pmof0017.html

Bisher erschienen:
BERICHT/039: Antirep2010 - Der "War On Terror" und moderner Faschismus (SB)
BERICHT/040: Antirep2010 - Heinz-Jürgen Schneider zum Terrorverdikt im politischen Strafrecht (SB)
INTERVIEW/051: Antirep2010 - Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe und Autor (SB)

18. Oktober 2010