Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/026: Am Beispiel Schweinegrippe - Ein Interview mit Prof. Dr. Wolf Dombrowsky (SB)


Was genau bleibt uns nach dem medialen Getöse um die Schweingrippe? Viel Lärm um die stete Wiederkehr eines alten Streites für oder gegen Impfkampagnen? Der besonders gelungene Feldversuch mit dem Schreckgespenst einer gefährlichen Pandemie? Oder am Ende nur ein Legitimationsmanöver für die Option längst ausgearbeiteter Katastrophenpläne, fragwürdiger Notstandsperspektiven und Bedrohungsszenarien?

Wohl ist es wieder still geworden in den Medien zu diesem Thema, doch bleibt der Nachgeschmack bedenkenswerter Expertisen mancher damit verbundener Fragen schon.

Der Schattenblick präsentiert seinen Lesern ein anläßlich der Schweinegrippendiskussion am 13. August 2009 in Bremen entstandenes Interview mit dem ausgewiesenen Katastrophenforscher und Bevölkerungsschutzexperten Prof. Dr. Dombrowsky zu vielen in diesem Zusammenhang relevanten Problemen.


Wolf Dombrowsky ist Professor für Katastrophenmanagement an der Steinbeis Hochschule Berlin und Leiter der Katastrophenforschungsstelle an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Der Soziologe mit Schwerpunkt Katastrophensoziologie gehört unter anderem der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, dem Ausschuß Notfallplanung der Strahlenschutzkommission sowie internationalen Komitees der Katastrophenforschung an.

Prof. Dr. Wolf Dombrowsky
© 2009 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Dombrowsky, ab wann, bezogen auf die angekündigte Grippepandemie, tritt der Fall einer Katastrophe ein? Wann müßte der Katastrophenschutz eingreifen?

Dombrowsky: Das ist Sache des Infektionsschutzgesetzes, also ein medizinisches Problem. Die daraus entstehenden Folgen sind dann katastrophenschutzrelevant. Dann müssen auf Rat des öffentlichen Gesundheitsdienstes die zuständigen Stellen des Katastrophenschutzes Katastrophenalarm auslösen. Das ist der Weg. Wann das geschehen wird, dazu gibt es keine Stichzahl etwa nach dem Motto, ab 1225 Erkrankten machen wir Katastrophenschutz.

SB: Viele Experten halten die Neue Grippe in ihrer Verlaufsform für relativ ungefährlich. Da stellt sich natürlich die Frage nach der Relevanz des Impfprogramms.

WD: Alle Experten haben sich darüber Sorgen gemacht, daß ein von Tier auf Mensch übertragbarer Erreger so mutiert, daß er von Mensch zu Mensch weitergereicht wird. Bei der Vogelgrippe war das noch nicht der Fall. Aber man wartet darauf, daß es passiert, weil er dann unter Umständen sehr gefährlich wird. Durch die Infektion von Mensch zu Mensch entstehen Veränderungen, bei denen der Erreger sehr pathogen werden kann. Jetzt hat man genau dieses Problem. Bei der Schweinegrippe wird ein Erreger aus dem tierischen Umfeld schon von Mensch zu Mensch weitergegeben. Das ist das Gefährliche. Daß die Verlaufsform des Erregers aus der Gruppe H1N1 noch nicht so gefährlich ist, heißt, daß man Glück gehabt hat. Das ist im Grunde genommen eine wunderbare Chance, daß wir all unsere Routinen und alles, was wir haben, langsam adaptieren können. Und wir können lernen, ohne daß schon ein Drittel der Bevölkerung umfällt.

SB: Ist es tatsächlich eher ein guter Fall zu lernen oder ist es eine Gefahr, vor der wir uns jetzt massiv schützen müssen?

WD: Ich kann hier nur wiedergeben, was die Kollegen vom Robert-Koch-Institut und aus Halle, die mit in der Schutzkommission sitzen, uns erzählt haben. Das Risiko, daß es ein hochinfektiöser Erreger wird, ist sehr hoch. Daß er es im Augenblick noch nicht ist, ist ein Glücksfall für uns, weil wir dadurch genau lernen können. Wir können sehen, wie die Ausbreitungswege sind, wie es weitergeht, welche Maßnahmen nützen und welche nicht nützen.

SB: Und warum ist das Risiko so hoch?

WD: Das hat zuerst einmal epidemiologische Gründe. Die Austauschwege des Menschen sind ungeheuer schnell geworden, unsere Lebensdichten sind sehr, sehr hoch. Und je schneller und je höher der Austausch ist, desto größer ist das Risiko, daß gefährliche mutagene Veränderungen entstehen.

SB: Im Prinzip gilt das doch auch für andere Grippen.

WD: Das gilt generell.

SB: Also freut man sich in diesem Fall, um es ein wenig überspitzt zu sagen, darüber, daß es eine relativ milde Form ist, an der man jetzt die Waffen schärfen kann.

WD: Der Punkt bei der saisonalen Grippe ist ja, daß sie schon von Mensch zu Mensch weitergereicht wird, die Veränderungen sind groß und die jährlichen Todesfälle sind auch beträchtlich. Das ist nicht ohne. Und jetzt kommt sozusagen noch ein zweiter Kombinatorikpool dazu. Das ist der Anteil aus dem tierischen Bereich, der dann das Varianzfeld noch einmal vergrößert. Und das macht es dann noch einmal gefährlicher.

SB: Die Impfstoffe, die jetzt für die Schweinegrippe produziert werden, damit man im Oktober mit der Durchimpfung beginnen kann, müssen sehr schnell hergestellt werden. Die Tests sind eben erst angelaufen, um im nächsten Schritt sofort impfen zu können. Welche Möglichkeiten gibt es, daß diese Tests zum Beispiel negativ ausfallen?

WD: Das müssen Sie Pharmakologen und Virologen fragen, da bin ich der falsche Gesprächspartner.

SB: Gibt es Kriterien, anhand derer man sagte - die Schweinegrippe ist nur ein Beispiel -, die Pandemie hat nach unserer Einschätzung eine bestimmte Gefährlichkeit, inwieweit nehme ich bestimmte Nebenwirkungen in Kauf, um 25 Millionen Bundesbürger erst einmal impfen zu können? Welche Menge an schweren Nebenwirkungen würde man akzeptieren, um den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten?

WD: Da fragen Sie auch den falschen. Sie haben hier ja ein Thema am Wickel, wofür man in der klinischen Medizin und der Pharmakologie sattelfest sein muß. Das ist ein Millionenthema. Da bin ich Laie. Ich werde den Teufel tun, hier irgendwie im Nebel zu stochern.

SB: Es geht auch um die generelle Frage der Risikoabwägung. In welchem Ausmaß nimmt man überhaupt Risiken in Kauf, um eine bestimmte Schutzwirkung zu erzeugen? Das müßte sich ethisch begründen lassen, so daß die Frage eigentlich über das Medizinische hinauslaufen und die Voraussetzungen der Evaluation betreffen müßte.

WD: Sie haben ja hier zuerst einmal Zulassungsfragen berührt. Dafür gibt es Bundeseinrichtungen, die das kontrollieren und genehmigen. Da müssen Sie die fragen. Ich habe mich jetzt erst einmal schlau gemacht, wie dieses Testverfahren läuft. Da erhalten die Probanden Listen, da müssen Sie ja jeden Pups, um es einmal so zu sagen, eintragen. Wenn es hinten zwickt und vorne beißt, kommt es in die Liste. Dann kommt der zweite Schritt, wo Mediziner, die in diesem Bereich Erfahrung haben, sagen 'naja, das könnte ursächlich mit der Verabreichung zusammenhängen. Daß es hier am Zeh juckt, nein, das hat damit gar nichts zu tun.' Es kommt zu einer Art Auswahl. Schon bei dieser Art von Auswahl geht die Kritik los. Weil Leute sagen 'wie kannst du denn wissen, daß das nicht ursächlich ist?' Da sagt er, 'das haben wir noch nie gehabt'. Dann sagt der andere 'ja, aber diesen Wirkstoff hattet ihr auch noch nie'. Also, fragen Sie mich das alles nicht. Das ist wirklich nicht mein Feld.

SB: In welchem Ausmaß müßte man bei der Mittelvergabe, wenn etwa das geplante Impfprogramm zwei Milliarden Euro kostet, die Frage nach der Behebung sozialer Probleme aufwerfen, die ihrerseits zur Verbesserung der Immunabwehr beitragen, indem die Menschen eine bessere Gesundheitsversorgung bekommen und so weiter? Gibt es überhaupt Überlegungen, die in die Richtung gehen, daß der Impfschutz auch schon Folge eines eingetretenen Mißstandes ist, wenn etwa Menschen aufgrund von Armutsbedingungen immunschwach sind?

WD: Nein. An der Stelle würde ich sofort mit Ihnen streiten. Durch Armut immunschwach ... schöne These. Auch da sagen die Epidemiologen, je nach Krankheit hält eine Gesellschaft eine gewisse Anzahl an Trittbrettfahrern, also Leuten, die sich nicht mehr impfen lassen, aus. Weil sich das Gebiet, wenn Sie so wollen, um den Geimpften in einer gewissen Weise ausdehnt, so daß die Ansteckungswege ein bißchen unterbrochen werden. Und je mehr Leute geimpft sind, desto mehr können sich zwischen ihnen bewegen, die nicht geimpft sind, und die kriegen dann trotzdem nichts ab, daher Trittbrettfahrer. Das wiederum hat nichts mit Armut zu tun. Das Spannende ist, daß die medizinischen Studien, die gemacht worden sind, zeigen, daß in ganz vielen Impfbereichen vor allen Dingen die gut Gebildeten mit hohem Einkommen auf den Impfschutz ihrer Kinder verzichten aufgrund der manchmal verrücktesten Überlegungen. Wir haben im Augenblick ein Riesenproblem im Bereich Kinderkrankheiten, die zurückkehren, aber nicht weil die Leute arm sind, sondern ganz im Gegenteil anders herum.

© 2009 by Schattenblick

SB: Allgemein ist natürlich festzustellen, daß die Verbesserung der Hygiene sich generell positiv ausgewirkt hat auf die Eindämmung von Seuchen.

WD: Jein. Das große Problem in modernen Gesellschaften ist, daß wir unsere Immunabwehr schwächen durch überstarke Hygiene. Der Körper wird gar nicht mehr im Training gehalten, weil alles so sauber ist und weil ungeheurer Medikamentenmißbrauch besteht vor allem bei Antibiotika, wo Leute ihre Behandlung frühzeitig abbrechen, auch zu früh sich selber medikamentieren und dadurch zur Resistenz bestimmter Erreger beitragen. Das hat ganz viele ungewollte, ungeplante Nebenfolgen, die auch nicht so ganz systematisch untersucht werden. Ein spannendes Feld.

SB: Man hat ja nur eine bestimmte Menge an Ressourcen zur Verfügung. Inwieweit sollten diese in einer Situation wie der jetzigen nicht für die Schweinegrippe verwendet werden, sondern für andere Notstände oder Problemfelder, wo möglicherweise mehr erreicht werden könnte, mehr Menschen gerettet werden könnten?

WD: Die Hochschule in St. Gallen ist ja eine der wenigen, die sich mit genau solchen Berechnungen befasst. Ich bewundere die sehr, weil sie sich Fragen stellen, die bei uns politisch verpönt sind. Ihre Frage ist vollkommen berechtigt, und jetzt kommt natürlich der, wie ich finde, leichtfertige Kritiker, der sagt, bei der Schweinegrippe haben wir einen sehr milden Verlauf, die ist fast ununterscheidbar von der saisonalen Grippe, warum soviel Geld für dieses Zeug ausgeben, warum es sozusagen der Pharmabranche in den Rachen werfen? So kann man argumentieren, ich habe da nichts dagegen, aber wann läßt sich wirklich empirisch rechnen?

Natürlich kann man sagen, okay, wir machen nichts, und wir haben dadurch so und soviel Tote, oder wir machen nichts und wir haben auch bei einem milden Verlauf Ausfall von Tourismus, Schließung von Schulen, Überlastung von Krankenhäusern et cetera. Deswegen bin ich auf St. Gallen gekommen, das ist alles nicht trivial, das zu berechnen, weil man harte Daten braucht, um die anderen Effekte überhaupt quantifizieren zu können. Sie sind dann sofort in diesem Problem der sogenannten Self Destroying Prophecy. Wenn Sie Impfstoff kaufen und durchimpfen und es fällt keiner tot von der Stange, dann sagen Sie, guck mal, was sollte der Quatsch. Also müssen Sie etwas Unethisches tun, eben nicht impfen und damit Menschen tot "von der Stange fallen lassen", um dadurch die genauen Schäden berechnen und mit den Kosten der Impfung gegenrechnen zu können.

Selbstverständlich kann man das nicht machen. Also sind Sie in einem politischen Dilemma. Dieses politische Dilemma hatten wir schon einmal im Zuge von 9/11, nämlich bei der Pockenschutzimpfung. Heute wissen wir, dass das Geld vollkommen verpulvert war, doch stellt sich eben genau die Frage, unter welchen Bedingungen erlaubt es sich ein Politiker, daß er sagt, Freunde, das Geld gebe ich nicht aus, was soll der Quatsch. Das ist ausschließlich ein politisches Problem. Wenn Sie hart durchrechnen wollen, müssen Sie es darauf ankommen lassen, oder Sie haben lauter Schätzkosten. Die Schätzkosten sind dann etwa so, man nimmt einen großen Daumen, je nachdem, was man will: Saisonale Grippe kostet uns im Jahr statistisch 20-40 Tote pro 100.000 Einwohner sowie materielle Schäden durch zusätzliche Behandlungs- und Ausfallkosten. Der ADAC macht ähnliche Berechnungen im Bereich der Staukosten im Sinne entgangener Arbeitsstunden. So kommt der ADAC auf ein jährliches Staubudget von, glaube ich, 22 Millionen Euro. Das rechnet man dann gegen und sagt, das ist ja nur mit einer halben Spur einer Autobahn schon ausgegeben.

SB: Wenn man anfängt, volkswirtschaftlich zu argumentieren, dann könnte man die Produktivität der Gesundheitsindustrie ebenso als Aktivposten verbuchen wie als Verlust. Ich stelle mir einmal vor, daß sich am Ende vieles gegen null rechnen wird.

WD: Das Schwierige ist, daß wir uns in diesem Bereich generell betrügerische Bilanzierungen gönnen. Ich erinnere Sie an diese große Diskussion über die sogenannten ökologischen Milliarden. Was ist ein Baum wert oder was ist ein Rotkehlchen wert oder ähnliches. Diese Berechnungen hat es alle gegeben. Sie kennen wahrscheinlich die allerberühmteste über die Transportkosten eines Joghurts in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Milch von Nord nach Süd und Plastik von Ost nach West transportiert wird, so daß jeder Joghurt nicht 70 Cent kostet, sondern etwa fünf Euro, wenn man diese externalisierten Kosten alle einberechnet hätte. Unsere gesamten Bilanzierungen sind alle betrügerisch. Uns wird gesagt, jeder Bundesbürger verbraucht im Durchschnitt um die 120 Liter Wasser. Wenn man das virtuelle Wasser mit einrechnet, dann weiß man, das ist von vorn bis hinten gelogen. Wir verbrauchen das Zwanzigfache. Es wird nur anderen Weltgegenden weggeklaut.

SB: Wenn man die Rechnung global anstellt, hat das natürlich auch mit Währungsdifferenzen zu tun, mit Produktivitätsunterschieden. Von daher rechnet sich das wohl für den Lebensstandard der Bewohner der BRD wieder.

WD: So gesehen haben Sie recht. Aber dann wird es eben noch betrügerischer.

SB: In diese Risikoabschätzung müßte man auch den Impfstoff einbeziehen, der eingesetzt werden soll und an dem auch einige Kritik geäußert worden ist. Beispielsweise der von Novartis, der über das Verfahren der Zellkultur hergestellt worden ist, zu dem zum Beispiel Herr Wodarg [Dr. Wolfgang Wodarg, für die SPD Mitglied im Ausschuß für Gesundheit des Bundestags] sagt, das ist ein Verfahren, das noch nicht so etabliert ist, daß man jetzt schon prognostizieren kann, daß die und die Gefahr droht. Er hat sogar gesagt, daß da eine gewisse Krebsgefahr enthalten sein soll. Auf jeden Fall kann man sagen, daß die Tests, die im Augenblick anlaufen, ganz große Schwierigkeiten haben werden, dieses verneinen zu können.

WD: Auf der anderen Seite müssen wir bei der zunehmenden Akzeleration im Bereich von Infektionskrankheiten irgendwann einmal von dieser Eierbepunktung weg.

SB: Aber der Test mit 25 Millionen ....

WD: Das ist doch endlich einmal die große Zahl (lacht).

SB: Das sagen ja auch einige.

WD: Halten Sie das bitte nicht für zynisch. Wir sind im Grunde genommen statistisch gesehen in all unseren Maßnahmen kurz vor dem Rauschen, also kurz vor der Unidentifizierbarkeit, weil wir so sicher sind, daß wir fast schon keine Fälle mehr haben. So ein statistisch signifikanter Fall wie Contergan, vor dem uns wirklich alle beschützen mögen, das ist aber doch die Ausnahme. Das große Problem in all diesen Katastrophenbereichen ist, daß wir in den hochindustrialisierten Gesellschaften unsere Sicherheitsniveaus so weit hochgetrieben haben, daß wir kaum noch signifikante Ergebnisse in kurzer Zeit haben. Das können wir nur dadurch wieder ändern, indem wir die Fallzahlen dramatisch erhöhen. Sie können doch nicht mit einem klinischen Sample von, sagen wir einmal, 600 Leuten in einem Probezeitraum von einem halben Jahr auch nur irgend etwas erkennen.

SB: Da gibt es keine Uneinigkeit darüber.

WD: Ich habe manchmal den Eindruck, daß ungeheuer viel dieser Diskussionen im gesellschaftlichen Maßstab auf diesem Niveau laufen 'wasch mich, aber mach mich nie naß'. Alles und ohne alles geht nun einmal nicht.

SB: Da stellt sich die Frage, inwiefern sich mit diesem speziellen Fall, den einige als Großversuch bezeichnen, wenn er denn durchgeführt würde, überhaupt Ergebnisse erzielen ließen, die von so großem Erkenntniswert wären, daß er sich als Versuch rechtfertigen ließe. Wenn sich Viren ständig wandeln und man jedes Mal sowieso neue Impfstoffe produzieren muß, dann ist der Erkenntnisgewinn nicht unbedingt besonders groß.

WD: Im Prinzip haben Sie recht. Also, die Überprüfungsverfahren sind ja auch zu einem gewissen Prozentsatz White Washing-Verfahren. Aber aus der Nummer kommen Sie so oder so nicht heraus. Oder Sie schaffen jedes Haftungsrecht ab. Das geht ja auch nicht.

SB: Sie haben Ihr Eintreten für eine Impfkampagne mit einer Abwägung gegenüber dem Terrorismus begründet, indem Sie sagen, daß der objektive Schaden dort sehr viel geringer ist und dennoch sehr viel mehr gemacht wird.

WD: Aber ja.

SB: Das ist ja für sich gesehen noch kein Grund dafür, Prävention gegen eine Pandemie zu machen, von der wir nicht genau wissen, ob sie eintritt?

WD: Ich komm noch einmal auf diese Abwägungsfrage zurück. Wenn Sie sagen, wir wollen abwägen, dann brauchen Sie doch eine Zielhierarchie, die gesellschaftlich konsensual ist. Wofür wollen wir unser Geld ausgeben? Und wenn es knapp und knapper wird, wofür zuerst und wofür zuletzt? So einen gesellschaftlichen Konsens haben wir doch gar nicht. Das ist ja wirklich eine durch und durch fiktionale Diskussion, in der die unterschiedlichen Stakeholder ihre Weltanschauungen einmal so richtig bellen lassen. Wenn wir uns darüber einig sind, es also weder Diskussion noch Konsens gibt, dann reden wir über Machtfragen, dann reden wir über Lobbyismus, dann reden wir über all das, was im Augenblick real eine Rolle spielt. Und in genau diesem Kontext habe ich gesagt, dann schaut euch einmal an, wieviel Milliarden wir im Vergleich für Terrorismus ausgeben bei einem Risiko, das statistisch gesehen nur globales Rauschen ist. Es spielt überhaupt keine Rolle, es ist gar nicht da. Dafür wird das Geld rausgepulvert.

SB: Sie haben es im wesentlichen in die Diskussion gebracht, um die Basis der gesellschaftlichen Debatte klarzustellen?

WD: Ja, natürlich.

SB: Ihnen ging es nicht primär darum zu sagen, in diesem speziellen Fall sollte man jetzt unbedingt die zwei Milliarden ausgeben, ...

WD: Nein, nein.

SB: ..., sondern Ihnen ging es darum zu bedenken zu geben, wie wird hier überhaupt debattiert, ...

WD: So ist es.

SB: ... wie werden Abwägungen vollzogen.

WD: Ich bin ja nicht das Sprachrohr irgendeiner Medikamentenlobby, sondern, in genau Ihrem Sinne, als Vergleich, habe ich gesagt, daß hier Geld für die abstrusesten Dinge mit den abstrusesten Begründungen ausgegeben wird, also für die Terrorbekämpfung, knausert man an einer Ausgabe von vielleicht 30 Euro pro Nase. Natürlich bin ich nicht Fachmann in medizinischer Epidemiologie, wohl aber in Epidemiologie als Statistikform. Deswegen habe ich gesagt, guckt euch einmal an, mit welchen Wahrscheinlichkeiten welche Zusammenhänge auf Gefahr zulaufen und wägt dann erst die Ausgaben ab.

SB: Das ist natürlich für einen Leser sehr schwer vorstellbar, daß diese ganze Diskussion eigentlich fiktional ist. Normalerweise würde man denken, es gibt bestimmte Zahlen, dann kann man das eine Risiko gegen das andere Risiko abschätzen, daß man sagt, aha, es könnten zehntausend Leute sterben, dann würden wir in Kauf nehmen, daß dreitausend Leute in Gefahr geraten, wenn wir diese Maßnahme treffen. Die Idee hätte man ja.

© 2009 by Schattenblick

WD: Es ist natürlich nicht vollkommen fiktional. Man hat ja Vergleichswerte aus anderen Bereichen. Deswegen sage ich ja auch, wir sind hier im Realexperiment. Diese These vertrete ich vollständig, weil ich finde, das ist die Realität. Wenn Sie sich so etwas angucken wie BSE oder Sars, das waren alles Probeläufe für Tracing und Surveillance. Hier werden die neuen Instrumente globaler Seuchenpolitik geschärft. Das sind alles Probeläufe. So richtig schief gegangen ist so ein Probelauf auf Rügen mit der Vogelgrippe. Da haben die Leute noch mit den Instrumenten der Seuchenpolitik des 19. Jahrhunderts herumhantiert. In Wahrheit war es aber schon ein mediales Spektakel des 21. Jahrhunderts. Deswegen sage ich, wunderbar, wenn es so langsam abläuft wie bei der Vogelgrippe oder wenn es so gering gefährlich abläuft wie jetzt bei der Schweinegrippe. Das sind alles perfekte Versuchsanordnungen für unsere Laborläufe.

SB: Was wir jetzt am Beispiel der Schweinegrippe erörtern, gilt das auch für andere Gefahrensituationen gesellschaftlicher Art oder Naturkatastrophen?

WD: Ja, mit einem Unterschied. Wir befinden uns hier ja immer noch im deterministischen Bereich. Virus da oder nicht da, binärer Code. Nehmen Sie einmal ein stochastisches Risiko wie Strahlung. Da wird es dann wirklich hart. Das härteste ist gerade veröffentlicht worden vom Kollegen Michel über Leukämie in der Wilstermarsch. Da können Sie nicht durchs Mikroskop gucken, Sie sehen überhaupt nichts, nur nicht signifikante Verteilungen im Raum.

SB: Inwiefern wird diese Laboranordnung denn überhaupt noch differenzierbar zu einer ungeplanten oder nicht mehr kalkulierbaren Situation? Wenn Sie von einem erkenntnisträchtigen Experiment sprechen, das gleichzeitig schon die reale Situation ist, wie kann man dann überhaupt noch differenzieren? Es ist ja ähnlich wie im Fall von Klimaberechnungen, für die man eine bestimmte Menge an Daten benötigt. Irgendwann muß man das Klima als solches simulieren, es verdoppeln, um zuverlässige Prognosen herzustellen.

WD: Ja, das ist ja genau das Problem. Mit gewisser Belustigung schauen wir auf die Naturwissenschaftler, die noch im Newtonschen Zeitalter stehengeblieben sind. Von der Sorte gibt es noch eine ganze Menge. In Wahrheit bewegen wir uns im Raum der Unschärfen, und die Schärfen stellen wir alle selber ein. Wenn Sie so wollen, besteht das Hauptexperiment, das wir machen, darin, daß wir die Bedingungen unserer Konstruktionen herstellen. In Wahrheit ändert sich diese Welt da draußen mittlerweile langsamer als die Verbrauchsbedingungen dieser Welt durch uns. Und das hat im Grunde genommen die Versuchsanordnung vollkommen gedreht. Das Humesche Labor trug noch der Tatsache Rechnung, daß die Augen auf eine Welt da draußen guckten und sie real genommen haben. Das, was Sie mit der Klimaproblematik ansprechen, ist genau die Umkehrung. Fast sieben Milliarden Hungermäuler drehen täglich an allen Schrauben. Kein Wissenschaftler kann auch nur irgend etwas aussagen über das, was da draußen real ist. Es gibt nämlich nichts Reales mehr. Wir kennen nicht die Anfangsbedingungen, wir kennen nicht die Verlaufsbedingungen und wir wissen nicht, wie die Verlaufsbedingungen geändert werden. Und ein Laborprotokoll gibt es sowieso nicht. Das heißt, solche Leute wie Schellnhuber [Hans Joachim Schellnhuber, deutscher Klimaforscher] oder andere, die ihre großen Computermodelle fahren, die basteln sich zweierlei: Die basteln sich die virtuelle Welt und die Laborbedingung, unter der sie zu betrachten ist. Das ist im Augenblick unsere wirkliche Realität.

SB: Auch der Wissenschaft?

WD: Selbstverständlich. Was Schellnhuber macht ist Retrofitting: Immer wieder wird ein Prüffinger in irgend etwas gesteckt, sei es in einen Bohrkern, in fossile Baumringe, um das Modell anhand minimaler Empirie über Vergangenheit zu testen. Wie weit komme ich gesichert zurück? 30, 40, 50.000 Jahre? Das heißt, langsam wollen wir Verlaufsbedingungen unseres Globus bekommen, während sie sich darüber millionenfach verändert haben.

SB: Aber woraus resultieren in diesem Zusammenhang die Bedingungen der Intervention? Worauf beruht auf der Basis dessen, was Sie geschildert haben, die Entscheidung, wann man exekutiv tätig wird, wann etwas angeordnet wird?

WD: Auf Macht. Korrelieren Sie einmal Entscheidungen mit Wahlen. Daß bestimmte Entscheidungen vor den Wahlen anders ausfallen als nach den Wahlen, weiß jeder. Da müßte man auch einmal so etwas fragen, impfen wir oder nicht? Aufgrund welcher Bedingungen? Die Pockenimpfstoffe, die da beschafft worden sind, das war diese enorme Aufregung nach 9/11, die auch zu Krieg und globaler Terrorbekämpfung führte. Hätte man das unter einem nüchternen Gesichtspunkt betrachtet, dann hätte man gesagt, um Gottes willen, was soll der Quatsch, gibt es keine friedlicheren Lösungen?

SB: Hier würde ich gerne mit ein paar Fragen zum institutionalisierten Bevölkerungschutz anknüpfen. Welche Auswirkungen hat die 2002 beschlossene "Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland" auf einen pandemischen Schadensfall. Hat sich der Stellenwert dieser Bedrohung im Verhältnis zu anderen Gefahren verändert?

WD: Ja, ich glaube, die Veränderung ist von mentaler Art. 9/11 hat Raum gegeben für andere Szenarien und für die Betrachtung anderer Möglichkeiten. Soweit man das überhaupt so sagen darf: Der positive Effekt von 9/11 war, daß man sich auf eine neue Zeit eingestellt hat. Als Wissenschaftler sage ich, das ist gut, weil wir jetzt sozusagen weniger newtonsch auf die Welt blicken. Als politischer Mensch, als Bürger dieses Landes, sage ich, es war durch und durch schlecht, weil unter dieser Klatsche von Terrorismus mehr Schaden angerichtet worden ist als Nutzen.

SB: Würden Sie sagen, daß sich das von Ihnen beschriebene Mißverhältnis zwischen dem faktischen Schaden, den der Terrorismus anrichtete, und dem einer möglichen Pandemie auch in Entscheidungsprozessen institutioneller Art seit 9/11 niedergeschlagen hat? Haben sich die Gewichte dort verschoben, was die Vergabe von Mitteln betrifft, was konkrete Personalentscheidungen betrifft? Haben sich die Verhältnisse deutlich verändert oder hat das eher wenig Einfluß gehabt?

WD: Wenn Sie die Haushaltszahlen angucken, dann ist der Katastrophenschutz seit dem Fall der Mauer, um das als Wasserscheide zu nehmen, etwas heruntergegangen. Die Gewichte darin haben sich verlagert. Das Hauptgeld ist zum Technischen Hilfswerk und zum Bundesamt für Bevölkerungsschutz geflossen. In den thematischen Ausrichtungen haben sich die Bundesländer verschieden positioniert. Das bevölkerungsmäßig größte Bundesland Nordrhein-Westfalen hat sich vor allem auf pandemische Schadensfälle vorbereitet. Auch die Szenarien zum sogenannten Massenanfall von Verletzten fußen auf 9/11, häufig geht es dabei um eine schmutzige Bombe und Kampfstoffe wie Bio- oder Chemiewaffen. Von daher hat sich das tatsächlich seit 9/11 in den Köpfen, in den Beschaffungen und in den Themen verschoben.

© 2009 by Schattenblick

SB: Es ist ja auch zu einer stärkeren Zusammenlegung des Zivilschutzes und des Katastrophenschutzes gekommen. So hat der frühere Bundesinnenminister Schily erklärt, daß die Trennung dieser beiden Tätigkeitsbereiche überholt wäre.

WD: Ja, Schily wollte das in der Förderalismuskommission auch gesetzmäßig verändern. Die Extremposition zielte auf eine Grundgesetzänderung und die Beseitigung der Trennung zwischen Zivil- und Katastrophenschutz ab. Das ist nach Schily im novellierten Zivilschutzgesetz nicht durchgekommen. Das novellierte Zivilschutzgesetz hat die alten Bedingungen vollkommen zementiert. Die modernen Formen des Bundes sind alle nur Service-Provider-Funktionen für die Länder, gesetzmäßig und verfassungsmäßig ist da nichts geändert worden. Das ist die Realität, auch wenn nach wie vor versucht wird, Wesentliches zu verändern, z. B. den Einsatz der Bundeswehr nach innen.

SB: Meinen Sie nicht, daß die Zivil-Militärische Zusammenarbeit (ZMZ), die in diesem Rahmen häufig erwähnt wird, eine Schiene für dieses Ziel ist?

WD: ZMZ ist ja ein ganz alter Hut. Schon zu Zeiten, als noch WINTEX-CIMEX geübt wurde, war ZMZ immer ein Bestandteil. Es ist ja eine Frage, wer muß wem was an Diensten zur Verfügung stellen, wo wird welches Recht eingeschränkt. Da hat sich auch von der Sache her nichts geändert. Man könnte sogar anders herum argumentieren und sagen, durch die Rationalisierung innerhalb der Bundeswehr, z.B. Outsourcing von Fuhrpark und Leistungen und durch die Fokussierung auf Auslandstätigkeit sowie durch die Veränderung der Wehrbereichskommandos und die Verringerung der inländischen Ressourcenhaltung ist die innere Verfügbarkeit dramatisch zurückgegangen. Da stimme ich Ihrer These gar nicht zu.

SB: Hatte dieser Rückgang Auswirkungen auf die Katastrophenmanagement-Übung LÜKEX 07, bei der es ja um Pandemien ging?

WD: LÜKEX ist ja keine Realübung, sondern es ist, wenn man so will, eine Art stabsmäßiges Planspiel. Ich halte LÜKEX für eins der modernsten Instrumente, um herauszufinden, was im Bereich großflächiger Vernetzungen und Interdependenzen überhaupt geht bzw. im Katastrophenfall nicht geht. Ich glaube, LÜKEX ist das Schlaueste im Bereich dessen, was wir nach Newton im Augenblick haben.

SB: Gab es einen Grund dafür, daß der Bericht über die Ergebnisse der Übung vom Präsidenten des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Herrn Unger, unter Verschluß gehalten wurde?

WD: Das ist ja keine persönliche Marotte von ihm, daß er das im Stahlschrank läßt. Das erfolgt auf Betreiben der Mitübenden, da sitzen ja zum ersten Mal an einem Tisch Industrie, Handel, Gewerbe, Verkehr, Stromerzeuger. Daß da keiner will, daß seine Daten und Einsichten öffentlich gemacht werden, das leuchtet ein. Ob man das politisch für richtig hält, ist eine zweite Frage. An dieser Stelle kommen Sie sofort wieder in eine, wie ich finde, interessante politische Diskussion. Wenn wir solche Übungen machen, dann haben Sie hier wirklich so etwas wie Dual Use. Sie sehen natürlich, wo etwas im Argen liegt und wo man mit dem Messer reinbohren könnte. Und wenn man nicht aufpaßt, dann ist das sozusagen auch die Gebrauchsanweisung für die Schweinigel. Das ist schwierig.

SB: In welchem Verhältnis steht die in Artikel 1 des Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetzes (ZSKG) verankerte "Einschränkung von Grundrechten" zu der in dem vom BBK herausgegebenen Band "Notfall- und Katastrophenpharmazie" erhobenen Forderung, bei der Risikobewertung im Bevölkerungsschutz sollten die "schützenswerten Güter der Artikel 1-20A des Grundgesetz (...) lediglich in Schutzziele übersetzt werden"? Wie könnte die dort verlangte gesellschaftliche Aushandlung dieser Schutzziele vor dem Hintergrund eines "Grundkanons (...) der liberalen Grundrechte und der Staatsbürgerrechte des Grundgesetzes", wie es dort heißt, konkret vonstatten gehen?

WD: Nehmen wir einmal an, wir wären alle ideale Demokraten und die Einrichtung der antiken Agora wäre elektronisch möglich und wir würden alle über unser Schicksal befinden und würden uns alle ein Ranking zuweisen. In diesem Ranking sähe es dann so aus, null Bedeutung für die Gesellschaft [zeigt auf einen SB-Redakteur], fünf Bedeutung für die Gesellschaft [zeigt auf den anderen SB-Redakteur], zwei Bedeutung für die Gesellschaft [zeigt auf sich selbst]. Wer kriegt dann unter welchen Bedingungen zehn - oder was auch immer das höchste ist - und wie werden dann auf dieses Ranking, wenn wir uns darauf einigen könnten, Ressourcen verteilt? Also müßten wir doch eine Vorstellung haben, was ist eigentlich für das Überleben einer Gesellschaft unverzichtbar und was in dieser Gesellschaft soll denn überhaupt wann überleben? Und was ist der Beitrag für das Überleben eines jeden? Und wie definieren wir Unverzichtbarkeit und Verzichtbarkeit? Und was ist, wenn wir durchs Leben gehen und auf unserer Stirn steht: Verzichtbar! Ranking null! An genau der Stelle erkennen Sie sofort, warum hier alle zurückschrecken. Schon die Diskussion, als wir in der Bund-Länder-Kommission "Pandemieplan Deutschland" zusammen saßen, über "impfbevorrechtigte Personen" ließ bei allen die Warnlampe angehen. Am ehesten konnte man sich noch auf Ärzte einigen.

Das Image der Ärzte wird davon bestimmt, daß sie helfen und den Hippokratischen Eid abgelegt haben. Die brauchen wir ja auch. Was aber ist mit Polizisten? Was ist mit Soldaten, was mit Elektrikern? Ich wiederhole mich nur an Beispielen, und Sie haben immerfort die gleiche Problematik. Wir müßten wirklich einen demokratischen Diskurs darüber führen, wer nach Maßgabe welcher Zielstellung zur Erreichung dieser Zielstellung unentbehrlich und wer überflüssig ist?

SB: Das ist ein großes Problem auch in Anbetracht des Gleichheitsgrundsatzes.

WD: Das ist wie ich immer finde, eine weitere Phantomdiskussion. Eines der schönsten Erben der französischen Revolution ist formale Gleichheit. Jeder ist vor dem Gesetz und dem Gesetzgeber gleich. Jeder hat die gleiche Stimme bei der Wahl und nicht, wie im Fall Preußens, nach Steueraufkommen. Formale Gleichheit bedeutet aber eben nicht, wie das von manchen übersetzt wird, inhaltliche Gleichheit, als seien wir alle gleich in unseren Qualitäten, gleich im Wert, das ist ein großer Quatsch.

SB: In Anbetracht dessen, daß wir doch eine langsam älter werdende Gesellschaft sind, da werden sich natürlich viele Leute außerhalb oder mit der Null auf der Stirn sehen, weil Sie sagen, welcher Wert wird mir überhaupt noch zugesprochen? Von daher wird es sicherlich doch ein gehöriges Maß an Leuten geben, die das nicht gerne so sehen.

WD: Sie haben jetzt natürlich eine bestimmte Zielstellung gegeben. Die Zielstellung heißt Produktivität. Und Produktivität wird korreliert mit jung, dynamisch, kräftig, schnell et cetera. Es gibt traditionale Gesellschaften, die korrelieren Wert mit Alter im Sinne der meisten Erfahrung und des größten Wissens, was in unserer Gesellschaft eben gar keine Rolle mehr spielt. Da gehe ich in eine Bibliothek, Wissen ist kein Wert mehr. Wie ich bereits zuvor gefragt habe, unter welchen Bedingungen definieren wir, wofür man überlebenswichtig ist? So eine Diskussion würde ich mir auch im Grunde genommen einmal wünschen. Meinhard Miegel belegt in seinem jüngsten Buch anhand von realen Zahlen, daß unser Wachstum seit fast zwölf Jahren nicht mehr den Wohlstand mehrt, sondern nur noch den Umsatz. Sind wir auf dieser Welt, um für so eine Wirtschaftsordnung den Buckel krumm zu machen, daß irgendwelche spekulativen, schwachsinnigen Sachen laufen, die den Wohlstand nicht mehr mehren? Dafür brauche ich kein Wachstum. Aber für diese Art Geschwindigkeit spielen junge Leute wirklich eine Rolle, dann sind die Alten überflüssig, dann können wir Abwrackprämie auf Fünfzigjährige zahlen.

SB: Es scheint viele Leute zu geben, die aus gutem Grund davor zurückschrecken. Ältere Leute sehen sich sicher eher als Verlierer einer solchen Einschätzung zumindest in diesem Land. Das mag unter anderen Bedingungen vielleicht anders sein, aber hier ist es doch die Realität, daß man mit zunehmendem Alter immer mehr aufs Abstellgleis geschoben wird, bis man dann betreut werden muß. Und dann geht es einem wirklich nicht mehr gut.

WD: Ich hoffe ja sehr darauf, daß wir Älterwerdenden im Zuge dieses demographischen Wandels so viel Selbstbewußtsein aufbringen, daß wir sagen, nein, es geht eben um etwas anderes. Das setzen wir jetzt einmal durch.

SB: Um noch einmal auf die Einschränkung der Grundrechte zurückzukommen - ab wann würde bei einer möglichen Pandemie der Staatsnotstand erklärt?

WD: Pandemie bedeutet ja, daß mehrere Länder betroffen sein müssen. Für die innerdeutschen Verhältnisse reicht ja schon eine Epidemie. Staatsnotstand bedeutet, daß die Funktionsfähigkeit der Institutionen und Abläufe bedroht oder gefährdet ist. Wenn Sie ein Maximalszenario nehmen, wie es im "Pandemieplan Deutschland" angenommen wurde, daß ein Drittel der Bevölkerung betroffen sein kann, dann würde ich sagen, ist das tatsächlich Staatsnotstand. Wenn jeder Dritte auf der Nase liegt, dann können wir die meisten Funktionen dieser Gesellschaft nicht mehr richtig aufrechterhalten. Dann hätten wir ein ernstes Problem.

Während der 20er Jahre wurde die Technische Nothilfe (TeNo), sozusagen die Vorläuferorganisation des THW, vom Staat gegründet, um bei diesen Dauerbelastungen von Putsch und Generalstreiks eine Truppe an der Hand zu haben, die die Staatsfunktion aufrechterhalten kann. Einer der Hauptanlässe damals war der Reichseisenbahnstreik. Da hat die TeNo die Lokomotiven übernommen und ist notdürftig gefahren, damit der Verkehr aufrechterhalten worden ist. Das betrifft genau diese Frage. Wenn unser Szenario stimmen sollte, daß ein Drittel der Bevölkerung auf der Nase liegt, dann hätten Sie überhaupt keine übernahmefähige Reserve mehr. Wer sollte dann die ganzen Funktionen, die dann ausfallen, übernehmen?

Wir machen gerade eine Studie für einen Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes, die nämlich fragen, können wir überhaupt unsere Funktionen wie Essen auf Rädern, Blutspendedienst aufrechterhalten, wenn so ein Szenario eintreten sollte? Es gibt nämlich keine Zahlen, es gibt nichts Empirisches. Wir versuchen, das alles zu erheben, damit wir einmal durch begründete Zahlen herauskriegen, was dann überhaupt los wäre. Nach unseren bisherigen Ergebnissen ist der Staatsnotstand im Epidemiefall relativ flink möglich.

SB: Wenn die Risikoabschätzung soundso im virtuellen Raum stattfindet und es vor allem um Machtfragen geht, inwieweit ist dann Aussagen über Gefährlichkeit, Nichtgefährlichkeit, Nebenwirkungen der Gegenmaßnahmen letztlich zu vertrauen?

WD: Wenn Sie es so pauschal benutzen wollen, dann mache ich einen Rückzieher. Aus folgendem Grund: Ich bleibe natürlich dabei, dass es in letzter Instanz um Machtfragen geht. Damit aber will ich nicht die Funktionspersonale unter Verdacht stellen! Dazu kenne ich zu viele von ihnen und glaube, daß sie aufgrund ihrer individuellen wie kollektiven Ethik vertrauenswürdig sind. Ich unterstelle auch niemandem, der Arzneimitteltests oder ähnliches macht, daß er ein gekaufter Schweinigel ist. Was ich sagen will ist, dass selbst dann, wenn alle nach bestem Wissen und Gewissen gute Arbeit machen, es in letzter Instanz eben doch eine Machtfrage bleibt, weil wir viel zu wenig über Alternativen nachdenken und viel zu wenig ernsthaft zwischen ihnen abwägen!

SB: Ich meinte das eher vor dem Hintergrund, daß man ja auch die ethische Aufgabe hat, zum Beispiel Panik zu verhindern. So werden Aussagen zu einer Bedrohung dadurch natürlich gefiltert. Wenn man tatsächlich der Bevölkerung sagen würde, paßt auf, in einer Woche steht der Tod bei euch vor der Tür, dann schafft man eine Panik, die sicher schlimmer sein wird, als wenn man versucht zu beschwichtigen. Aus den ersten Aussagen zur Schweinegrippe ging hervor, daß die Bevölkerung Deutschlands auf keinen Fall bedroht ist. Das kehrte sich ganz langsam um. Inwieweit kann man sagen, die Bedrohung ist groß, aber der Impfstoff ist ungefährlich, um der Bevölkerung zumindest einen Strohhalm zu geben?

© 2009 by Schattenblick

WD: In Ihre Frage gehen ja schon bestimmte Annahmen ein, die ich als Katastrophenforscher überhaupt nicht teile. Und zwar empirisch nicht. Empirisch zeigt sich nämlich das genaue Gegenteil. Um eine Panik hinzubekommen, müssen Sie soviel falsch machen und sehr spezifische Bedingungen haben, z.B. in einem Stadion oder der Enge einer Diskothek. Ich kenne jedenfalls keine Epidemie in Industriegesellschaften, bei denen es zur Panik gekommen wäre. Unruhe entsteht jedoch durch Ungewissheit und schlechte Informationspolitik. Die Leute möchten wissen, was los ist, sie möchten wissen, wie sie sich darauf einstellen können, sie möchten wissen, wie lange sie auf sich allein gestellt sind, wann offiziell Hilfe zu erwarten ist. Das heißt, selbst wenn Sie sagen, in einer Woche steht bei dir der Tod vor der Tür, würde das keine Panik auslösen. Das Gegenteil ist richtig. Durch dauerndes Beschwichtigen, durch paternalistische Bevormundung nach dem Motto 'ja wir wissen schon, was für euch gut ist', erzeugen Sie solch einen Verdruß und solch eine Unglaubwürdigkeit, dass die Menschen dazu übergehen, ihr eigenes Ding zu machen. Das ist das eigentlich Schlimme, weil dadurch Gesellschaft entkoppelt.

SB: Wie ist der allgemeine Bevölkerungsschutz im Verhältnis zwischen Bundesrepublik und EU organisiert. Ist die EU im gewissen Ausmaß weisungsbefugt?

WD: Nein, die EU macht den Versuch. Was im Katastrophenschutz herausgekommen ist, ist das sogenannte Monitoring and Information Center (MIC), das gemeinsame Kriseninterventionszentrum. Dort müssen alle nationalen Staaten ihre Ressourcen anmelden und können dann nur gefragt werden, was sie zur Verfügung stellen oder nicht. Die EU darf nur koordinieren, aber nicht bestimmen. Die EU möchte mehr, aber vor allen Dingen Deutschland hat in diesem gemeinschaftsbildenden Abkommen stark interveniert.

In diesen Verfahren der EU, die für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich sind, gilt gegenseitige Hilfe. Unterhalb der EU gibt es bilaterale Abkommen der Bundesrepublik mit den meisten Anrainerstaaten, also grenzüberschreitende Katastrophenhilfeabkommen. Und der EU-Prozeß für die Katastrophenbewältigung ist ein koordinierender Prozeß. Außerhalb der EU gibt es starke Bestrebungen, mit UN-Organisationen etwas dagegenzusetzen, wogegen sich wohl jeder EU-Politiker verwahren würde. Es gibt ja kein EU-Äquivalent. Das ist manchen ein Dorn im Auge. Und die EU wird dann gefragt vom UNHCR oder von der WHO, was und wie sie beitragen. Also auch da hierarchisch eher nach unten, aber noch nicht nach oben.

SB: Wie ist der Stand der Überlegungen, die einzelnen Staaten bei länderübergreifenden Epidemien abzuschotten?

WD: Das ist sozusagen Schengen-parallel. Man kann die einzelnen Schengen-Bedingungen herunterfahren. Dann hat man die Sicherung der Außengrenzen erreicht.

SB: In dem von Ihnen mitverfaßten Kapitel "Menschen und Katastrophen" des Buchs "Notfall- und Katastrophenpharmazie" wird gefordert, daß der "Katastrophenschutz der Zukunft vor allem Koppelungsressourcen bereithalten" muß und in der Ausbildung "endlich wieder den handelnden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen hat". Könnten Sie erläutern, worin Ihrer Ansicht nach die aktuellen Mängel bestehen, die damit angesprochen werden, und wie sie zu beheben sind?

WD: Meine Kritik am bundesdeutschen Katastrophenschutz besteht darin, daß er eine Veranstaltung des 18. und 19. Jahrhunderts ist. Die einen löschen, die anderen bergen. Nebeneinanderstehende Hilfsdienste fürs Thermische und Mechanische. Das finde ich derart outdatet. Wenn Sie sich anschauen, wie zum Beispiel intermodaler Verkehr funktioniert von Wasser, Straße, Schiene, Luft. Das nenne ich Koppelungsleistung. Wenn Sie über die Sicherstellung der Bevölkerung reden und wissen, daß heute die Versorgung der Bundesrepublik an der Scanner-Kasse organisiert wird mit Barcodelesern und Sie dann vergleichen, daß zum Beispiel die Betreuungsdienste der Hilfsorganisationen davon ausgehen, daß sie mehr als tausend Betroffene aus der Region versorgen können, dann paßt das nicht zusammen. Im Aldi ist gerade soviel, wie die Scannerkasse an Tagesumsatz ausweist. Nach drei Tagen ohne Nachschub wäre Aldi leer. Das ist ein Beispiel für Koppelungsleistung. Mit LÜKEX versucht man, solche Koppelungsleistungen, Versorgung mit Strom, Treibstoff, Nahrung, Entsorgung zu analysieren und zu organisieren.

SB: Ihnen geht es schon um die Integration der einzelnen Dienste und Institutionen in einem Rahmen, der dann wirklich in der Abstimmung effizient ist, also um Effizienzsteigerung und Zusammenbindung?

WD: Man kann es ganz simpel sagen. Wenn ein Katastrophenschutz nicht dazu taugt, das Funktionsgefüge einer modernen Gesellschaft zu entsetzen, wozu ist er dann überhaupt da? Dann muß man fragen, wie funktioniert denn so eine moderne Gesellschaft überhaupt? Bildet der Katastrophenschutz diese Funktionsgefüge überhaupt schutzfähig ab? Oder wie müßte er aussehen, wenn er es nicht tut? Im Zuge dieses Grünbuches, das ja sozusagen am Fuße des Bundestages entwickelt wurde, werden solche Frage gestellt. Und das ist dann schon ein bißchen moderner als das, was der Katastrophenschutz gegenwärtig macht.

SB: Wie ist dann Ihre Vorstellung als Soziologe? Sie sprechen ja auch von einem bestimmten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung. Haben Sie da eine spezielle Vision, wie dieser weiterzuentwickeln wäre?

WD: Ich bin ja Weberianer: 'Über das Seinsollen laß die Dämonen streiten'. Soll ich der Gesellschaft sagen, wie eine bessere Gesellschaft ausschaut?

SB: Sie reflektieren den Stand der gesellschaftlichen Entwicklung im Katastrophenschutz. Wie Sie schon sagten, ist die institutionelle Umsetzung Ihrer Ansicht nach ungenügend oder nicht ausreichend. Das setzt natürlich ein bestimmtes Bild vom Stand der Entwicklung voraus, der auch eine Bewegungsrichtung hat. Man könnte sagen, alles wird komplexer, die Schadensfälle werden tendenziell größer, weil im Bereich der kritischen Infrastrukturen Schäden eintreten können, die ein Ausmaß an Menschen betreffen, das früher nicht denkbar gewesen wäre, weil die Infrastrukturen noch nicht so komplex verschaltet waren. Das sind ja auch historische Prozesse, die sich entwickelt haben.

WD: Genau, das ist ja Empirie. Da kann ich darauf gucken.

SB: Sie haben nicht unbedingt eine persönliche Vorstellung zu dieser Frage?

WD: Halt. Sie haben mich ja erst als Soziologe gefragt. Und jetzt als Mensch. Als Mensch habe ich schon so meine Vorstellungen. Da würde ich sagen, ob wir den Joghurt-Becher immer durch die Republik karren müssen und ob wir eine Gesellschaft haben müssen, die nur Umsatz generiert statt Wohlstand ... als Menschen würde ich sagen, all den Mist brauchen wir nicht. Als Wissenschaftler sage ich, wenn der Rest der Meinung ist, daß er das haben muß, dann stelle ich das fest und nehme es als empirisches Datum.

SB: Sie sehen als Mensch durchaus das Problem, daß die knappe Verfügbarkeit von Ressourcen sich in dieser Weise nicht ewig gegenhalten läßt gegen eine Gesellschaft, die einen relativ hohen Transport- und Verbrauchsaufwand hat?

WD: Als Mensch mißbillige ich das zutiefst, diese Art der wachsenden Ungleichheit auch in der Verfügbarkeit über Chancen. Das billige ich als Mensch nicht. Als Soziologe jedoch sehe ich, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt, damit umzugehen: Man kann eben auch die Zäune immer höher machen, Armeen aufrüsten und immer früher schießen. Als Wissenschaftler sehe ich eben auch diese Optionen, als Mensch sehne ich mich nach anderen.

SB: Ist die Soziologie als Wissenschaft Ihrer Ansicht nach tatsächlich ein empirisches, ein rein beobachtendes Medium?

WD: Es gibt ja solche und solche Soziologen, da will ich keine generelle Aussage machen. Mein Anspruch an mich als Soziologe ist schon, sei empirisch! Guck auf Zahlen, nicht auf Wünsche, Träume, Hoffnungen.

SB: Die Soziologie war ja früher ein sehr stark politisch engagiertes Feld.

WD: Ja, so bin ich früher zur Soziologie gekommen. Wir wollten eine bessere Gesellschaft bauen. Aber dazu braucht man, wie mich die Zeiten lehrten, keine Soziologie. Dazu reicht auch eine Kalaschnikow ...

SB: ... oder das ganz persönliche Engagement. Sie haben es mit Helfern zu tun, die ehrenamtlich tätig sind. Das sind Potentiale, bei denen man fragen kann, warum macht ein Mensch das überhaupt. Woher kommt es, daß Menschen sich solidarisch zeigen?

WD: Obwohl, wenn Sie da lange forschen, sind Sie auch etwas ernüchtert.

SB: Sie meinen, das hat Grenzen? Da muß die Bezahlung auf diese oder jene Weise stimmen?

WD: Ja, es muß nicht Bezahlung sein. Das ist es ja auch nicht.

SB: In Form von Anerkennung zum Beispiel.

WD: Da gibt es eine Menge. Fahren Sie einmal mit Auslandsjunkies mit. Das ist Droge. Diese Art der Entregelung im Ausland, wo man einmal so richtig den Gutmenschen herauslassen kann. Das ist großartig (lacht).

SB: Herr Professor Dombrowsky, wir bedanken uns für das lange Gespräch.

2. September 2009