Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/031: US-Menschenrechtsanwalt Michael Ratner, Center for Constitutional Rights (SB)


Interview mit Dr. Michael Ratner, dem Vorsitzenden des New Yorker Center for Constitutional Rights (CCR) am 21. November 2009 in Berlin


Der 1943 in Cleveland, Ohio, geborene Michael Ratner gehört zu den führenden Menschenrechtsanwälten der USA. Der Veteran der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, der als Gastdozent an der juristischen Fakultät der Columbia University lehrt und zahlreiche Bücher und Artikel verfaßt hat, steht seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und der darauffolgenden Ausrufung eines "globalen Antiterrorkrieges" durch den damaligen US-Präsidenten George W. Bush an vorderster Front im Kampf gegen staatliche Willkür. 2004 feierte Ratner seinen bisher größten Triumph, als er vor dem Obersten Gerichtshof in Washington das Recht der damals rund 600 Gefangenen von Guantánamo Bay auf eine gerichtliche Überprüfung des Grundes für ihre Inhaftierung durch das US-Militär erstritt. 2006 sorgte Ratner mit Hilfe seines deutschen Anwaltskollegen Wolfgang Kaleck beim Amtsgericht Augsburg für die aufsehenerregende Strafanzeige gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen dessen Verantwortung für die skandalösen Folterpraktiken im US-Militärgefängnis Abu Ghraib im Irak. Als Kaleck im nächsten Jahr in Berlin das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) gründete, wurde Ratner Präsident der neuen Organisation. Am 21. November lud das ECCHR zur Einweihung seines neuen Büros im Berliner Stadtteil Tempelhof sowie zur Diskussion über "Perspektiven der juristischen Menschenrechtsarbeit" ein. Bei dieser Gelegenheit konnte der Schattenblick ein Interview mit Michael Ratner führen.

Dr. Michael Ratner - © 2009 by Schattenblick

Dr. Michael Ratner
© 2009 by Schattenblick

Schattenblick: Dr. Ratner, was halten Sie von der Entscheidung des Justizministers von Barack Obama, Eric Holder, die Verhandlungen gegen Khalid Sheikh Mohammed, Ramzi Binalshibh und vier weitere angebliche Mitverschwörer der Anschläge vom 11. September nach New York zu verlegen?

Michael Ratner: Einerseits kämpfen wir schon lange für den Grundsatz, daß, wenn Menschen der Prozeß gemacht wird, dies immer vor einem ordentlichen Gericht stattfinden sollte, und nicht einfach Sondergerichte geschaffen werden dürfen. Unter George W. Bush - und selbst in der Anfangsphase der Obama-Regierung - hatte man die Absicht, entweder niemanden anzuklagen oder sie einfach in Präventivhaft, wie sie es nennen, festzuhalten bzw. vor ein Militärtribunal zu bringen. Verglichen damit ist also die Entscheidung von Obama und Holder, daß die Fälle bestimmter Terrorverdächtiger, die sich derzeit in Guantánamo befinden, vor ordentlichen Bundesgerichten verhandelt werden, ein großer Schritt nach vorn und einer, den ich begrüße.

Andererseits denke ich, daß es immer noch ein sehr problematisches Verfahren sein wird. Acht Jahre sind vergangen, seit das eigentliche Verbrechen verübt wurde. Die fraglichen Verdächtigen waren bislang mehr als sechs oder sieben Jahre in Haft. Was ist mit den Regeln für ein zügiges Gerichtsverfahren? Einige von ihnen hat man mit Waterboarding gefoltert - Khalid Sheikh Mohammed vermutlich 183mal. Das Verfahren soll an einem Ort stattfinden, an dem es sehr schwierig wird, Geschworene zu finden, die zu einer fairen und objektiven Entscheidung gelangen können. Die gesamte Frage der Nutzung von Beweisen, die durch Folter erlangt wurden, muß noch geklärt werden. Damit sind schwerwiegende rechtliche Probleme verbunden. Aber im ganzen gesehen, ist die Tatsache, daß Obama bereit ist, Terrorverdächtige, Al Kaida-Mitglieder und dergleichen vor ein Bundesgericht zu bringen, ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn überhaupt, werden es die Vereinigten Staaten sein, die sich vor Gericht dafür verantworten müssen, wie sie diese Menschen behandelt haben.

SB: Es wurde bereits der Vorwurf geäußert, daß dies eine sowohl willkürliche als auch politische Entscheidung ist, da einige Personen nach New York überführt werden, wo gegen sie vor einem Zivilgericht verhandelt wird, während man andere weiterhin vor die Militärtribunale in Guantánamo Bay bringt.

MR: Das ist richtig. Die Tatsache, daß es sich um eine politische Entscheidung handelt, ist unübersehbar. Eigentlich haben wir es noch immer mit etwas zu tun, das man als Willkürjustiz bezeichnen müßte. Was man normalerweise von jedem Rechtssystem erwarten würde, das diesen Namen verdient, wäre, daß die Gesetze nicht von der Exekutive oder nach begangener Tat geändert werden können. Wenn der US-Präsident oder der Justizminister oder beide entscheiden können, einige Leute vor ein Zivilgericht zu bringen, gegen die sie ausreichende Beweismittel zu besitzen meinen, und andere, bei denen die Beweismittel ihrer Meinung nach nicht dafür reichen, einem Militärtribunal vorzuführen, bei dem die Standardanforderungen für die Beweisführung niedriger sind, dann haben wir es mit einem System der Willkürjustiz zu tun. Es gibt hier keine Abkürzungen. Entweder klagt man die Leute eines Verbrechens an und bringt sie vor ein Bundesgericht oder man läßt sie frei. Dazwischen gibt es nichts.

Das Problem liegt darin, was die Obama-Regierung wirklich damit sagt: "Wenn wir viele Beweismittel haben, die unserer Meinung nach dafür ausreichen, Leute zu verurteilen, dann bekommen sie in ihrem Verfahren volles rechtliches Gehör. Und wenn wir nicht so viele Beweismittel haben, verhandeln wir über sie mit geringerem Verfahrensaufwand." Es ist also eine willkürliche Entscheidung und entspricht nicht den Regeln des Gesetzes.

Einige würden vielleicht noch hinzufügen, daß dies auch eine politische Entscheidung ist, da Bush diese Männer annähernd acht Jahre in Haft gehalten und nie angeklagt hat. Obama hingegen versucht nun, politisches Kapital daraus zu schlagen, daß er Leute vor Gericht bringt, von denen einer, KSM, angeblich gestanden hat, nicht nur der "Kopf" hinter den Anschlägen vom 11. September, sondern auch jedes anderen größeren von Al Kaida weltweit durchgeführten Anschlages seit Mitte der 90er Jahre gewesen zu sein.

SB-Redakteur im Gespräch mit Dr. Michael Ratner - © 2009 by Schattenblick

SB-Redakteur im Gespräch mit Dr. Michael Ratner
© 2009 by Schattenblick

SB: Viele sind von Barack Obama enttäuscht, weil er seit Beginn seiner Amtszeit als US-Präsident an vielen Befugnissen festhält, die Bush als Oberkommandierender im "globalen Antiterrorkrieg" für sich beanspruchte. Die Präventivhaft besteht nach wie vor, wobei Obama und Holder schon jetzt verlauten lassen, daß Khalid Sheikh Mohammed, selbst wenn er vom Vorwurf einer Beteiligung an den Vorfällen vom 11. September freigesprochen werden würde, nie wieder entlassen wird.

MR: Das System der Präventivhaft, das Bush eingeführt hat und das von Obama weitergeführt wird, ist ein massiver Verstoß gegen die Menschenrechte. Zuerst wurden Terrorverdächtige in Guantánamo festgehalten, aber nachdem wir vom CCR Zutritt zu den Gefangenen erwirkt haben, fingen die Behörden damit an, Häftlinge nach Bagram in Afghanistan zu verlegen. Zu den dortigen Gefangenen haben wir absolut keinen Zugang. Mit diesem Präventivhaftsystem signalisieren die Vereinigten Staaten, daß sie ohne weiteres Menschen überall in der Welt aufgreifen und in ein Offshore-Gefängnis stecken können, ohne sie jemals eines Verbrechens anklagen oder vor Gericht bringen zu müssen. Obama hat in seiner wichtigen Ansprache vom 21. Mai in der Bibliothek des Kongresses sehr deutlich erklärt und mit Gültigkeit erfüllt, daß die USA gegen einige Menschen vor Bundesgerichten und gegen andere vor Militärtribunalen verhandeln werden - was an sich schon ein selektives Vorgehen ist - und den Rest in Präventivhaft halten werden. Das ist für mich etwas so Schwerwiegendes, daß ich dafür den Ausdruck "den Rubikon überschreiten" verwenden würde. Daß eine Gesellschaft, die angeblich dem Gesetz und den demokratischen Rechten verpflichtet ist, offen erklären kann, daß sie Menschen aufgreift, sie nicht eines Verbrechens anklagt, sie aber dennoch in Präventivhaft hält, ist etwas, von dem ich niemals gedacht habe, daß ich es in Amerika erleben würde.

Man muß das nur mit dem kontrastieren, was in Europa geschehen ist, und sich die massive Kritik von Menschenrechtsanwälten und Medienkommentatoren vor Augen führen, die das System der 28 Tage Vorbeugehaft in Großbritannien auf sich gezogen hat. Vergleichen Sie das mit der Praxis in den USA, also der Installation eines Präventivhaftsystems, bei dem ein Verdächtiger sein Leben lang ohne Anklage in Haft bleiben kann. Es ist ein grenzenloses Internierungssystem, weil es eine Präventivhaft für immer sein kann. Da gibt es keine Einschränkungen. Daß Obama eine solche Richtung einschlägt, straft die Vorstellung Lügen, daß er im Verhältnis zur früheren Bush-Politik wirklich etwas verändert hat. Das hat er nicht. Die Politik der Präventivhaft ist so ziemlich die gleiche wie die von Präsident Bush.

Ich erinnere mich, wie ich gerade zu dem Zeitpunkt, als Obama ins Amt kam, einen Artikel veröffentlichte, in dem ich schrieb, wie hassenswert ich es fände, wenn Obama Guantánamo in neues Einwickelpapier mit neuen Bändern und neuen Schleifen verpackt. Genau das ist geschehen. Auch wenn er das Gefängnis in Guantánamo schließt und alle von der Insel Kuba in eine Einrichtung in Illinois oder wo auch immer in den Vereinigten Staaten verlegt, wird er weiterhin Menschen in Präventivhaft halten. Für die davon Betroffenen macht es wenig Unterschied, ob sie nun in Guantánamo oder in Illinois einsitzen.

SB: Weiter zur Frage, ob Khalid Sheikh Mohammed und seine fünf Mitangeklagten in New York ein faires Verfahren bekommen können: Wie deuten Sie das, was kürzlich mit Lynne Stewart geschehen ist, die in den neunziger Jahren Scheich Omar Abdel Rahmans Verteidigerin war und nun ins Gefängnis muß, weil sie sich, seine Haft betreffend, nicht an die sogenannten Special Administrative Measures gehalten hat? Was ihr passiert ist, wird sicherlich dazu führen, daß sich jeder Anwalt zweimal überlegt, ob er sich an hochkarätige Fälle wagt, bei denen die nationale Sicherheit tangiert ist.

Dr. Michael Ratner - © 2009 by Schattenblick

© 2009 by Schattenblick

MR: Ich weiß noch, wie ich damals, als Lynne 2006 verurteilt wurde, sagte, daß dies Anwälte abschrecken könnte, die ansonsten bereit wären, die unpopulärsten Fälle in den USA zu übernehmen. Und jetzt, da Lynne ihre Berufung verloren hat und tatsächlich ins Gefängnis muß, bewahrheiten sich meine Befürchtungen. Anwälte, die dazu verpflichtet sind, an die Öffentlichkeit zu gehen, über ihre Mandanten zu sprechen, sie mit allem, was sie haben, zu verteidigen, werden jetzt durch das, was mit Lynne geschehen ist, eingeschüchtert. Ich befand mich vor zwei Tagen, als Lynne sich für die Überführung ins Gefängnis den US-Marshalls stellen mußte, in Berlin. Sie ist eine Freundin von mir, und die Tatsache, daß ich in diesem schrecklichen Moment nicht bei ihr sein konnte, hat mich sehr, sehr traurig gestimmt. Sie ist eine Frau von siebzig Jahren, im besten Sinne eine Anwältin des Volkes, wie ich meine, nicht nur in Fällen von Bedeutung wie dem von Scheich Abdel Rahman. Über die Jahre sind Hunderte armer Leute von Lynne Stewart vertreten worden, und das Verfahren gegen sie als irgendeine Art Terrorhelferin spricht der Gerechtigkeit Hohn.

Besonders empörend an diesem Fall ist die Tatsache, daß sich der Vorfall, aufgrund dessen man sie angeklagt und verurteilt hat - also daß sie das, was man als Special Administrative Measures bezeichnet, im Umgang mit ihrem Mandanten verletzt hat -, bereits im Jahr 2000 ereignet hat. Zu der Zeit hat Präsident Bill Clintons Justizministerin Janet Reno dieses Vergehen als nicht schwerwiegend genug für eine Strafverfolgung bewertet. Auf Seiten von Lynne hat es nie die Befürchtung gegeben, daß man sie für die Weitergabe von Botschaften ihres Mandanten an die Außenwelt anklagen könnte. Sie ist so weit gegangen, wie engagierte Anwälte es immer tun, wenn sie nicht von einer selbstherrlichen Regierung vollständig geknebelt werden wollen. Ich denke, das Schlimmste, was sie erwartet hat, war, daß man ihr vielleicht verbietet, ihren Mandanten zu besuchen. Kein Anwalt, den ich kenne, hätte für das, was da geschehen ist, eine Anklage erwartet.

Nach dem 11. September haben jedoch Bush und sein damaliger Außenminister, John Ashcroft, zwei Dinge beschlossen: erstens zu versuchen den Eindruck zu erwecken, daß es Terroristen in den USA gibt, zweitens Anwälten das Leben schwer zu machen, welche die Frechheit besitzen, jemanden, der unter Terrorverdacht steht oder deswegen verurteilt wurde, juristisch zu vertreten. Das hat dazu geführt, daß Lynne für etwas angeklagt worden ist, das über zwei Jahre zuvor stattgefunden hatte. Es ist also ein hochpolitischer Fall. Das wurde dadurch demonstriert, daß Ashcroft eigens nach New York flog, um die Anklage gegen Lynne Stewart wegen "Beihilfe zum Terrorismus" zu verkünden und am selben Abend in der David-Letterman-Show aufzutreten und der amerikanischen Öffentlichkeit zu erzählen, was für eine großartige Arbeit er und Bush zum Schutz der Heimat leisteten.

SB: Einer ihrer Mitangeklagten hat 24 Jahre bekommen.

MR: Ja, Ahmed Abdel Sattar, der Rechtsassistent des Scheichs.

SB: Vorhin haben Sie mit Hinweis darauf, daß das ECCHR seine Wurzeln in den sozialen Bewegungen der Sechziger hat, gesagt, es sei nötig, daß die Anwälte wieder auf die Straße gehen. Wie und auf welche Weise können juristische Kampagnen die Gesellschaft verändern oder eine politische Wirkung entfalten?

MR: Eine radikale Veränderung der Gesellschaft bekommt man nicht durch Anwälte zustande, die in ihren Büros sitzen und bei Gericht Petitionen einreichen. Sie wird von Menschen in Gang gesetzt, die auf der Straße demonstrieren und versuchen die Dinge zu ändern, und von Anwälten, die - in dem Maße, wie es diese Bewegungen erfordern - dabei helfen, sie zu schützen. Anwälte können Klagen ohne Ende einreichen und ein paar davon in einigen Fragen gewinnen, aber wenn wir wirklich einen radikalen oder revolutionären Wandel wollen, müssen wir zusammen mit den Leuten raus, die eine solche Veränderung vorantreiben. Es muß nicht der Sturz der gesamten Regierung sein. Das will ich nicht damit sagen. Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Migration. In Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten leiden Migranten unter massiver Diskriminierung. In den Vereinigten Staaten ist das hauptsächlich bei Migranten aus Lateinamerika der Fall, während in Deutschland und Frankreich Muslime aus dem Nahen Osten und Nordafrika betroffen sind. Was ein Anwalt tun kann, um hier eine Veränderung zu bewirken, ist, sich in den politischen Bewegungen dieser Migrantengemeinden zu engagieren und diesen wehrlosen Bevölkerungsgruppen auf der Straße beizustehen. Das tun Sie nicht, wenn Sie nicht Teil dieser Bewegungen sind.

SB: Wenn man die drastische rechtliche Entwicklung zum Schlechteren nimmt, die in George W. Bushs Zeit im Weißen Haus stattgefunden hat, unter anderem die Beanspruchung der "alleinigen Exekutivgewalt" durch den Präsidenten, die für sich gesehen schon einen zentralisierten und autokratischen Machtanspruch repräsentiert, sollten Anwälte sich nicht mehr in der politischen Sphäre betätigen, um zu versuchen, dieser Entwicklung entgegenzutreten oder sie sogar umzukehren?

MR: Es kommt darauf an, was Sie mit politischer Sphäre meinen. Wenn Sie damit meinen, nach Washington zu gehen und zu versuchen Kongreßmitglieder oder den Präsidenten davon zu überzeugen, den Kurs zu ändern, dann wird das offensichtlich nicht funktionieren. Wenn man etwas tiefer blickt, dann haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg einen nationalen Sicherheitsstaat, der zunehmend seine Macht ausweitet. Unter Bush junior hat dieser Sicherheitsstaat in Form der "alleinigen Exekutivgewalt" seinen Zenith erreicht, aber es war das Ergebnis einer Tendenz, die auch unter früheren republikanischen und demokratischen Regierungen existiert hat, und die auch heute noch anhält. Um also völlig von der alleinigen Exekutivmacht wegzukommen, von der diktatorischen Gewalt auf Seiten des Weißen Hauses und von der Unterdrückung oder Verweigerung fundamentaler Rechte, muß man irgendwie anfangen, den nationalen Sicherheitsstaat zu untergraben.

Wenn ich mir Obama ansehe, dann denke ich, er könnte die Dinge, die er während des Wahlkampfs versprochen hat, mit viel mehr Nachdruck voranbringen. Er hat sich als besonders schwach in Bereichen erwiesen, in denen er aufgrund seiner juristischen Ausbildung hätte viel besser sein können. Es war nicht notwendig, an den Militärtribunalen in Guantánamo festzuhalten, und nicht nötig, die Präventivhaft beizubehalten. Aber andererseits gleicht er einem Menschen, der auf einem riesigen Wal reitet. Die Vereinigten Staaten haben annähernd tausend Militärbasen über die ganze Erde verstreut. Es ist also nicht wirklich ausschlaggebend, wie hart oder energisch Obama ist; ohne eine Volksbewegung, die einen radikalen Wandel in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten fordert, wird es bezogen auf den nationalen Sicherheitsstaat und auf alles, was damit zusammenhängt, keine bedeutsame Veränderung geben. Das Höchste, was wir bewirken könnten, wären kleinere Korrekturen. So war ich beispielsweise in der Lage, den Guantánamo-Gefangenen innerhalb des zivilen Rechtssystems der USA gewisse Rechte zu sichern.

Das, gegen das man jedoch im Grunde zu Felde zieht, ist die "alleinige Exekutivgewalt", die einen wesentlichen Bestandteil des Sicherheitsstaates darstellt. Seine Errichtung wurde mit Hinweis auf die Kommunisten gerechtfertigt; dann war es aufgrund der Atombombe, und jetzt ist es aufgrund des Terrorismus. Sie haben immer eine Ausrede dafür, daß sie all diese Macht beanspruchen. Aber letztendlich steckt dahinter, daß sich die USA die Rolle einer Weltmacht angemaßt haben, und daher rühren die unterschiedlichen Bemühungen, diese Macht zu behalten.

SB-Redakteur im Gespräch mit Dr. Michael Ratner - © 2009 by Schattenblick

SB-Redakteur im Gespräch mit Dr. Michael Ratner
© 2009 by Schattenblick

SB: Wenn man auf die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung zurückblickt, gibt es nicht noch wesentlich mehr zu tun im Bereich der sozialen Rechte und der sozialen Gleichheit?

MR: Da ist etwas dran. Die Vereinigten Staaten sind, was die sozialen und wirtschaftlichen Rechte angeht, völlig rückständig. Das Problem besteht in der Bedeutung, die dem Kapitalismus zugemessen wird - ein Kapitalismus, dem erlaubt ist zu tun, was immer er will. Aufgrund dessen haben die Unterprivilegierten in unserem Land kein Recht auf eine sichere Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnung, nicht einmal auf Ernährungssicherheit. Die Kluft zwischen den Reichen und den Armen in den Vereinigten Staaten ist die größte unter den westlichen Industrieländern. In Bezug auf solche Fragen läßt Europa uns vollkommen unzivilisiert aussehen. Natürlich hätte ich die Dinge gerne anders, aber das wird es nicht geben, solange sich die armen Klassen in unserem Land nicht organisieren, sich nicht mehr abspeisen lassen und endlich realisieren, daß es gelogen ist, wenn rechtsgerichtete Kommentatoren behaupten, die Regierung drohe die Kontrolle über unser Leben zu übernehmen. Die Menschen müssen verstehen, daß das Argument, daß Big Government schlecht ist, einzig und allein rechte Ideologie darstellt. Sicher sind einige Regierungen schlecht. Aber vieles, das Regierungen in anderen Ländern tun insbesondere auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte, ist ziemlich nötig. Unglücklicherweise wird dieser Standpunkt in den Vereinigten Staaten nicht akzeptiert. Also wird sich das nicht ändern, solange nicht eine soziale Kerninitiative in unserem Land eine Massenbewegung organisiert.

Eines ändert sich allerdings: Den Vereinigten Staaten wird in zunehmendem Maße von anderen Mächten im wirtschaftlichen Wettstreit Konkurrenz gemacht - seien es China, Indien oder die EU. Das hat zur Folge, daß die regierende Klasse in den USA noch stärker auf Profit drängt, die Löhne und Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz drückt und die Unterdrückung der Menschen verstärkt. Gleichzeitig schwächt dieser Verlust an Wettbewerbsfähigkeit das Land auf eine Weise, von der niemand wirklich voraussagen kann, wohin es führt.

SB: Aber wie können sich die sogenannten Unterprivilegierten angesichts einer Kultur emanzipieren, in der beispielsweise ein Sicherheitsthriller wie "24" zu einem ideologischen Leviathan mit rund 30 Millionen Zuschauern wird, dessen Inhalte viele von ihnen mit der Realität verwechseln?

MR: Würden Sie mich fragen, wie wir es geschafft haben, der Folter ein Ende zu setzen, würde ich sagen, wir haben Obama dazu gebracht, eine Verfügung zu unterschreiben. Das Problem ist jedoch, daß der nächste Präsident diese Entscheidung widerrufen kann, indem er eine gegenteilige Verfügung unterschreibt. In Fragen der Sicherheitsideologie in den USA haben wir aufgrund von Sendungen wie "24" die öffentliche Debatte verloren. Ich glaube nicht, daß das irgendwie in Zweifel steht. Die Mehrheit der Amerikaner würde - abstrakt gefragt - möglicherweise antworten, daß sie gegen Folter ist. Wenn man sie aber fragt, ob Osama Bin Laden gefoltert werden sollte, um herauszufinden, wann und wo der nächste Angriff stattfinden wird, also wenn man es so in Worte faßt, denke ich mal, wären die meisten Leute dafür. Diese Terrorkriegsideologie, die von unseren Medien ununterbrochen verstärkt wird, macht es Menschen der unteren sozialen Klassen sehr schwer, das notwendige Bewußtsein dafür zu erlangen, daß sie sich organisieren müssen. Ein weiteres Problem ist der drastische Niedergang der Gewerkschaftsbewegung. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist auf rund sieben Prozent der Werktätigen gefallen, und das schließt noch die Menschen im öffentlichen Dienst ein, wo der Anteil bei zwölf Prozent liegt. Das ist eine hoffnungslos niedrige Zahl an Gewerkschaftsmitgliedern.

Als Franklin Delano Roosevelt 1932 mitten in der großen Wirtschaftskrise als relativ gemäßigter Präsident gewählt wurde, hatten wir noch sehr starke Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten. Sie hatten sich noch nicht verkauft und waren eher militante Gewerkschaften. Es gab sogar eine kommunistische Partei. Und es ist zu jener Zeit die Gewerkschaftsbewegung gewesen, die Roosevelt auf eine Weise gezwungen hat, Maßnahmen zu ergreifen und Gesetze zu erlassen, wie wir es heute in den Vereinigten Staaten nicht mehr kennen. Ich möchte wirklich nicht pessimistisch klingen, aber die ganze fortschrittliche Bewegung in unserem Land befindet sich derzeit in einer schwierigen Lage.

SB: In Anbetracht von "24" und seiner Bedeutung dafür, daß die Vorstellung, "Terrorverdächtige" zu foltern, für viele Menschen akzeptabel wird, haben wir an Sie, Dr. Ratner, als Rechtsbeistand von Guantánamo-Häftlingen, die tatsächlich durch die Hand von CIA-Agenten, US-Militärangehörigen und/oder privaten Vertragspartnern "verschärften Verhörmethoden" ausgesetzt wurden, eine sehr grundlegende Frage. Man fragt sich oft, warum überhaupt gefoltert wird. Verhörspezialisten des FBI und anderer Polizeibehörden weltweit sind sich darin einig, daß Folter vollkommen kontraproduktiv wirkt und daß die einzige wirklich wirksame Methode, verläßliche Informationen von einem Verdächtigen oder einem Gefangenen über Verbrechen zu erlangen, die in der Vergangenheit begangen wurden, oder über Angriffe, die in Zukunft stattfinden könnten, darin besteht, eine persönliche Beziehung zwischen dem Befrager und dem Befragten aufzubauen. Daher besteht der Verdacht, daß der Folter-Komplex, den die Bush-Regierung nach dem 11. September installiert hat, nichts damit zu tun hatte, zuverlässige Informationen zu erlangen, sondern eher damit, Informationen zu manipulieren, falsche Geständnisse eingeschlossen. Zudem und darüber hinaus wäre der vorrangige Zweck des Folter-Komplexes dem Anschein nach jedoch die Einschüchterung, und zwar in der Weise, daß die Regierung in Washington dem gemeinen Volk als ganzes, den Menschen und Politikern im Ausland demonstriert, was sie mit jedem machen kann, der sich ihr in den Weg stellt. Was ist Ihre Meinung zu einer solchen Interpretation?

MR: Meine Theorie hinsichtlich der Entscheidung der Bush-Regierung, "Terrorverdächtige" zu foltern, war schon immer, daß man eine klare Botschaft an jeden senden wollte, der daran denken könnte, seine Hand gegen die Vereinigten Staaten zu erheben: "Das ist, was mit dir passieren wird. Man wird dich abholen, man wird dich offshore in eine Strafkolonie stecken, und man wird dich foltern." Das an sich stellt in der Tat eine Terrorbotschaft dar. Die meisten meiner Mandanten wurden dazu gezwungen, falsche Geständnisse abzulegen. Die zu beantwortende Frage ist also: Was war der Zweck? Wie Sie ganz richtig dargelegt haben, hat das FBI bewiesen, daß die persönliche Beziehung wirkt, Folter hingegen nicht.

Um also die Frage nach dem Motiv für diesen Folter-Komplex zu beantworten, halte ich es für sinnvoll, vergleichbare historische Situationen zu untersuchen und sich beispielsweise anzusehen, wie die Franzosen in den fünfziger Jahren FLN-Gefangene in Algerien behandelt haben. Einige Menschen würden sagen, daß der Zweck der eingesetzten Foltermethoden das Erlangen von Informationen war. Wenn man aber bedenkt, wo die Franzosen damals standen, so befanden sie sich im Endstadium ihres verfallenden Imperiums. Sie hatten mit der Demütigung in der Schlacht von Dien-Bien-Phu 1954 gerade Vietnam verloren, und dann haben sie einen Haufen beinharter Kerle nach Algerien geschickt, um die Aufstände dort niederzuschlagen. Es endete damit, daß die französischen Soldaten einfach jeden Rebellen, dessen sie habhaft wurden, uneingeschränkt folterten, um, und das war vielleicht vorrangig, zu demonstrieren, daß Frankreich noch immer ein Imperium ist.

In gewisser Weise haben die Angriffe vom 11. September - etwas, das nie zuvor so geschehen ist - eine nationale Verletzlichkeit demonstriert, welche die Regierung dadurch meint kompensieren zu müssen, daß sie der ganzen Welt deutlich macht, daß wir militärisch gesehen noch immer das bei weitem stärkste Land sind und daß jeder "islamische Extremist", den wir kriegen können, einfach bis aufs letzte von uns gefoltert wird. Mit anderen Worten, ich habe keinen Zweifel daran, daß das Hauptmotiv für die Anwendung der Folter in ihrer Eignung als Mittel zur Einschüchterung bestand.

SB: Mit Blick auf den Military Commissions Act haben Sie davor gewarnt, daß sogar US-Bürger als "illegale feindliche Kämpfer" inhaftiert werden könnten. Könnten Sie uns Ihre Bedenken noch einmal darlegen?

MR: Was man unter Bush ursprünglich "illegale feindliche Kämpfer" genannt hat, bezeichnet man nun als "ausländische feindliche Kriegsteilnehmer ohne Privilegien". Alle diese Begriffe haben keinen wirklich rechtlichen Bestand und sind nichts als erfunden - mit dem 11. September als Rechtfertigung. Meiner Meinung nach sollte man den 11. September als kriminelle Tat behandeln. Man hätte die Tatverdächtigen verhaften sollen - wenn nötig mit Gewalt, was erlaubt ist -, und dann hätte man sie vor Gericht stellen sollen. Aber statt dessen hat die Bush-Regierung beschlossen, einen "globalen Antiterrorkrieg" zu erklären, und weigert sich gleichzeitig, auf feindliche Gefangene das Kriegsrecht anzuwenden. Das Kriegsrecht erlaubt das, was sie getan haben, nicht, also mußten sie den Begriff "feindlicher Kämpfer" erfinden und definieren. Das hat es ihnen ermöglicht, Menschen zu verschleppen, sie mit dem Etikett des "feindlichen Kämpfers" zu versehen und dann mit ihnen, nach welchen vorgeblichen Regeln auch immer, zu verfahren.

Diese Regeln entsprangen nicht den Genfer Konventionen oder dem Strafgesetzbuch, sondern sie entsprachen dem, was die Mitglieder der Bush-Regierung für den Umgang mit diesen Menschen brauchten oder haben wollten. Unter Bush lautete der Begriff für solche Gefangene "feindliche Kämpfer" und jetzt unter Obama heißt es "ausländische feindliche Kriegsteilnehmer ohne Privilegien". Da diese Begriffe erfunden sind, bedeutet es auch, daß sie keine Rechtsgrundlage besitzen. Wenn man etwas mit einer Bezeichnung versieht, die keinen rechtlichen Hintergrund hat, dann folgt daraus, daß eine solche Person wenig oder keine Rechte besitzt und im Endeffekt vor dem Gesetz keine wirkliche Bedeutung hat.

SB: Sie haben keinen rechtlichen Status?

MR: Genau. Sie sind im Grunde genommen rechtlose Menschen. Und ein Mensch ohne Rechte ist jemand, der in einer Gesellschaft nicht wirklich existiert. Und genau das haben wir in Guantánamo getan; das haben wir in Bagram getan; das haben wir durch den Rückgriff auf das Konzept vom "feindlichen Kämpfer" getan.

SB: In Anbetracht dieser qualitativen Veränderungen des US-Rechts, die alle in Richtung eines permanenten staatlichen Notstandes mit so gut wie absoluten Exekutivrechten tendieren, könnten Sie sich die Vereinigten Staaten als eine Gesellschaft vorstellen, die eine autokratische oder gar eine diktatorische Regierungsform annimmt?

Dr. Michael Ratner - © 2009 by Schattenblick

© 2009 by Schattenblick

MR: Das kann man nicht ausschließen. Als George W. Bush die Militäranweisung [Military Order] herausgab und erklärte, daß man jeden Menschen auf der Welt, auf den man es abgesehen hat, aufgreifen kann, als seine Rechtsberater Memoranden herausgaben, die besagten, daß der Präsident einen Menschen im Namen der nationalen Sicherheit foltern lassen kann, oder als Condoleezza Rice, die Nationale Sicherheitsberaterin, gefragt wurde, ob sie Waterboarding für Folter halte, und sie antwortete, der Präsident habe gesagt, es sei erlaubt, Waterboarding einzusetzen, war der Begriff, den ich benutzt habe, um das alles zu beschreiben: "Führers Gesetz". Im Grunde bedeutet das, daß der Präsident anordnet, was Gesetz ist. Das ist eine ziemlich gefährliche Entwicklung, wie wir alle wissen.

SB: "Ich bin der Entscheider."

MR: Das ist richtig. Es läuft alles auf das gleiche hinaus: "Ich bin der Entscheider." Wenn also der Präsident im Falle von Folter, die nach nationalem und internationalem Recht verboten ist, sagt "Ich befehle Ihnen, das zu tun!", dann ist das "Führers Gesetz". Die letzten Jahre haben deutlich gemacht, daß unsere Regierung Elemente von etwas, das ich Polizeistaat nennen würde, hat, bis dahin, daß sie Menschen aufgreifen kann, ohne sie vor Gericht zu stellen, daß der Präsident diktieren kann, was Gesetz ist und sich als alleinige Exekutivgewalt durchsetzen kann, die sich über Legislative und Judikative gleichermaßen hinwegsetzt. Das alles sind Indikatoren für eine bestimmte Richtung, in die sich das Land seit dem Zweiten Weltkrieg bewegt, in den letzten zehn Jahren aber mit erhöhtem Tempo.

SB: Eine der beunruhigendsten Entwicklungen bezogen auf den "globalen Antiterrorkrieg" ist das Ausmaß der Beteiligung privater Sicherheits- und Söldnerunternehmen; das bekannteste Beispiel wäre hier Blackwater oder Xe Services, wie sie jetzt offiziell genannt wird. In welchem Maße hat dieses Phänomen des Outsourcing Ihre Arbeit als Menschenrechtsanwalt erschwert, wenn Sie versuchen, Regierungen für Taten zur Verantwortung zu ziehen, die ihre Agenten begangen haben, ob sie nun im öffentlichen Dienst standen oder als Privatangestellte agierten?

MR: Für mich sind Privatarmeen ein Anzeichen des Niedergangs. Zum Beispiel hat das Römische Imperium in den letzten hundert Jahren seiner Existenz Privatarmeen eingesetzt. In einer verfälschten Demokratie wie der, die wir derzeit in den USA haben, ermöglichen sie der herrschenden Klasse, Stellvertreterkriege führen zu lassen, indem sie einfach Söldner anheuert. Die sind nicht wirklich nötig. Wir haben eine Menge Kriege ohne sie geführt. Der Einsatz von Söldnern führt zu einem Verlust an demokratischer Verantwortung. Und im engeren Rahmen betrachtet, sind Privatarmeen ein gesetzlich nicht geregelter Teil des Militärs. Wenn also Mitarbeiter privater Auftragsfirmen im Dienste des Pentagons in Übersee ein Verbrechen begehen wie das Massaker auf dem Baghdader Nisour-Platz, das von Blackwater-Angestellten 2007 verübt wurde, vor welchem Gericht können die Geschädigten auf Wiedergutmachung klagen? Die Täter, die das Massaker begangen haben, können aufgrund eines Dekrets von Paul Bremer, dem früheren Chef der Übergangsverwaltung in Bagdad, das den Privatunternehmen, die für die US-Regierung im Irak arbeiten, Immunität verliehen hat, wahrscheinlich nicht vors Kriegsgericht gestellt werden. Zwei Jahre danach gibt es Verfahren vor US-Gerichten gegen fünf Blackwater-Angestellte niedrigen Ranges. CCR vertritt einige der Opfer des Nisour-Platz-Massakers und ihre Angehörigen gegen Blackwater. Wir müssen also einfach abwarten und sehen, was dabei herauskommt. Aber grundsätzlich handelt es sich um einen gesetzlich nicht geregelten Bereich, was auch von der Regierung gewünscht ist, denn es gibt keine Rechenschaftspflicht für das, was diese Söldner tun.

SB: Sie haben also festgestellt, daß der Einsatz privater Militärunternehmen Ihre Arbeit erschwert hat?

MR: Ja, aber dann wiederum ist jede Art von rechtlichem Vorgehen gegen die Unternehmungen des US-Militärs in Übersee sehr schwierig. Es gibt jetzt einen ähnlich gelagerten Fall in Deutschland, nämlich den Luftangriff in Kundus Anfang September, in den die Bundeswehr verwickelt ist und bei dem über 130 Menschen, davon die meisten Zivilisten, getötet wurden. Wie zieht man jemanden dafür zur Verantwortung? Wie erhält man Rechenschaft für das, was während der israelischen Offensive mit Namen "Gegossenes Blei" Anfang des Jahres in Gaza geschehen ist? Solche Fälle stellen Menschenrechtsanwälte, die davon überzeugt sind, daß die mächtigeren Staaten an den gleichen Standards gemessen werden sollten, wie die weniger mächtigen vor große Probleme.

SB: In Pakistan sorgen die Drohnen-Angriffe der CIA auf Taliban-Ziele in der Nähe der Grenze zu Afghanistan für Aufruhr. Niemand weiß wirklich, wie effektiv diese Luftschläge gegen "Terroristen" sind, doch es besteht kein Zweifel daran, daß ungeheuer viele Zivilisten getötet werden; ihr grundlegendstes Recht, das Recht auf Leben, wird völlig ignoriert. Gibt es irgendeine Entschädigung für Menschen, die diese Raketenangriffe verletzt überlebt haben oder für die Verwandten der Getöteten? Was kann man als Menschenrechtsanwalt in dieser speziellen Situation ausrichten? Berichten zufolge sind Blackwater-Angestellte auch hier beteiligt; sie sollen diejenigen sein, welche die Predator- und Reaper-Drohnen mit Hellfire-Raketen bestücken.

MR: Das alles ist ein sehr schmutziges Geschäft. Haben Sie kürzlich den Artikel "The Predator War" von Jane Mayer im New Yorker gelesen?

SB: Ja.

MR: Darin erwähnt sie, daß in den ersten neun Monaten der Obama-Regierung in Pakistan mehr Drohnen-Angriffe durchgeführt worden sind als in den ganzen acht Jahren der Präsidentschaft von Bush.

SB: Das scheint tatsächlich der Fall zu sein.

MR: Aus dem Wunsch heraus, amerikanische Verluste zu vermeiden, hat die Zahl der von den USA gebauten und in Afghanistan und Pakistan eingesetzten Drohnen enorm zugenommen. Wie bei anderen automatisierten Waffensystemen auch rufen Drohnen, während sie das eine Problem lösen, andere hervor. Am Anfang steht die Frage, wen man zum Ziel eines Angriffs machen kann. Ich meine, kann man auf Zivilisten schießen? Kann man Mitglieder einer Miliz wie die Taliban angreifen, wenn alles, was sie tun, darin besteht, daß sie in einem von ihnen besetzten Gebiet den Verkehr regeln? Nach internationalem Recht ist überhaupt nicht klar, ob man sie zum Angriffsziel machen kann.

Das wirkliche Problem ist jedoch, wenn man ein solches Waffensystem erst einmal automatisiert hat und es keine Verluste für das Land gibt, das sie einsetzt - in diesem Fall die Vereinigten Staaten -, warum soll man dann nicht alle Raketen der Welt abfeuern? Sie töten auf diese Weise eine Anzahl von Taliban, aber gleichzeitig führt es dazu, daß Sie letztlich Hunderte oder Tausende von Zivilisten töten. Und wie soll jemand zur Verantwortung gezogen werden, wenn niemand bereit ist, die Vereinigten Staaten vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen? Die USA, um es gleich zu sagen, haben das Statut von Rom nicht unterzeichnet, und aus dem Grund würde der Sicherheitsrat einen solchen Fall ans ICC überweisen müssen. Die Chancen, daß das geschieht, sind gleich null.

SB: Es gibt also zur Zeit keine Wiedergutmachung für Menschen, deren Verwandte umgebracht wurden oder die selbst durch Drohnenangriffe der CIA in Pakistan verwundet worden sind?

MR: In meinem Büro prüfen wir derzeit die Möglichkeit, daß diese Drohnen illegale Kriegswaffen darstellen, mit der Begründung, daß sie nicht präzise sind, in einem Mißverhältnis zum Einsatz kommen, und das auch noch häufig gegen die falschen Ziele. Klar, es wird sehr schwierig sein, diese Punkte dem Gesetz nach zu beweisen, aber wir müssen irgendwo anfangen. Bevor Jane Mayers Artikel im Oktober im New Yorker erschienen ist, hat es in den westlichen Medien nur sehr wenige Berichte darüber gegeben, wie verbreitet diese Drohnenangriffe inzwischen sind.

Ich glaube, daß die Antikriegsbewegung und die Menschenrechtsaktivisten die Drohnen und ihren Einsatz als Offensivwaffe zu einem großen Thema machen müssen, auch wenn es Jahre dauern mag, bis man irgendeinen Erfolg erringt. Die militärische Nutzung von Drohnen ist ein ungeheurer Entwicklungsschritt besonders in Hinblick auf den Wunsch auf Seiten des Pentagons und des Weißen Hauses, Krieg zu führen und dabei geringstmögliche eigene Verluste zu erleiden. Der Grund dafür ist, daß die an der US-Regierung Beteiligten wissen, daß der Widerstand gegen den Krieg in der breiten Bevölkerung um so größer wird, je mehr Amerikaner ihr Leben verlieren. Drohnen lösen dieses Problem, indem sie die US-Verluste reduzieren. Gleichzeitig machen sie es auch leichter für die US-Regierung, Kriege in Übersee zu führen, was aus globaler Sicht eine furchterregende Entwicklung ist.

SB: Michael Ratner, vielen Dank für dieses Interview.

Ausstellung 'Not for Sale' des Künstlers Hady Sy beim ECCHR - © 2009 by Schattenblick

Ausstellung "Not for Sale" des Künstlers Hady Sy beim ECCHR
© 2009 by Schattenblick

8. Dezember 2009