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INTERVIEW/103: John Holloway erläutert seine Kapitalismuskritik (SB)


Interview mit John Holloway am 13. Dezember in Hamburg


Anläßlich einer Gastprofessur an der Universität der nordenglischen Stadt Leeds ist der irische Neomarxist John Holloway, der seit längerem in Mexiko lebt, Ende 2011 zu einer Vortragsreise in Deutschland angetreten. Neben Berlin und Frankfurt besuchte er auch Hamburg, wo er am Abend des 13. Dezember im Centro Soziale auf dem früheren Gelände des Schlachthofes der Hansestadt auftrat. Kurz vor Beginn des dortigen Diskussionsabends stellte sich Holloway dem Schattenblick für einige Fragen, darunter auch zu seinem neuen Buch "Kapitalismus aufbrechen" [1], zur Verfügung.

Nahaufnahme von John Holloway - Foto: © 2011 by Schattenblick

BU: John Holloway
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Holloway, könnten Sie uns etwas über Ihren Werdegang erzählen und wie Sie es geschafft haben, nach Ihrem Studium in Dublin und Edinburgh zu einem bekannten marxistischen Denker unserer Zeit zu werden? Waren Sie immer an der sozialen Frage interessiert und hatte es etwas mit Ihrer Herkunft zu tun?

John Holloway: In Irland habe ich eigentlich gar nicht studiert. Meine Familie emigrierte nach England, als ich zwölf war. Also bin ich in der Nähe von Birmingham aufgewachsen und zuerst in England zur Hochschule gegangen. Nach einer langen Zeit als Dozent in Edinburgh habe ich 1991 eine Stelle an der Universität von Puebla in Zentralmexiko angenommen. Seitdem lebe und arbeite ich dort. Drei Jahre nachdem ich mich in Mexiko niedergelassen hatte, kam es im südlichen Bundesstaat Chiapas zum Aufstand der Zapatistas - eine Entwicklung, die sich mit meinen Überlegungen bis dahin deckte und mir gleichzeitig gedanklich ganz andere Dimensionen eröffnete.

SB: Ihre Überlegungen als Soziologe?

JH: Ich arbeitete damals in der Fakultät für politische Wissenschaft, mein Hauptinteresse galt jedoch der marxistischen Theorie und der Kritik des Staates. Die Zapatista-Bewegung zeigte Wege auf, wie meine eher theoretischen Überlegungen eine konkrete Form annehmen könnten. In meiner Arbeit hatte ich mich bis dahin mit dem Staat, was wir darunter verstehen und wie wir ihn als spezifischen Ausdruck kapitalistischer Verwertungsverhältnisse begreifen können, befaßt. Als dann die Zapatistas auftauchten und verkündeten, sie wollten die sozialen Bedingungen in Mexiko verändern, ohne die Regierungsgewalt oder den Staatsapparat zu übernehmen, da sah ich mich in meiner Arbeit und meinen Überlegungen bestätigt.

SB: Die Frage nach Ihrer Herkunft rührt daher, daß Sie in Ihrem jüngsten Buch das mythologische Zaubervolk Tuatha Dé Danann erwähnen, auf den wenig bekannten Einfluß der Schriften des irischen Mönches Johannes Scottus Eriugena aus dem neunten Jahrhundert auf die Philosophie Hegels ausführlich eingehen und in Ihrer Betonung der Wichtigkeit der Negation Anklänge des irischen Freiheitskampfes gegen die britische Herrschaft herauszuhören sind. Man gewinnt den Eindruck, Sie greifen auf die eigene Herkunft zurück, um eine gewisse Authentizität zu erzielen. Oder sind diese Auffälligkeiten im Buch zu hoch bewertet?

JH: In der Tat könnte man da einer Überbewertung unterliegen, wenngleich die Erlebnisse und Anregungen aus dem eigenen Leben zwangsläufig die Weltsicht eines jeden Autors beeinflussen und ihren Niederschlag in seiner Arbeit finden. Natürlich gibt es hin und wieder Momente, wo man kleine Witze einflechtet und hofft, daß irgend jemand sie verstehen und Spaß daran finden wird. Wer weiß denn, wer die Tuatha Dé Danann sind? Ich habe auch eine kleine Fußnote mit der Bemerkung angefügt, daß das Buch "doppelt eriugenisch" sei - und ging eigentlich davon aus, daß niemand sie verstehen würde. (lacht)

SB: Da haben Sie sich wohl getäuscht - jedenfalls bei einem Leser. (lacht)

JH: Das freut mich. (lacht)

SB: In Ihrem Buch nimmt die Fremdbestimmung eine wichtige Rolle ein, nämlich als wesentliches Merkmal der Arbeit im Unterschied zum selbständigen Tun. Viele Menschen, vielleicht sogar die meisten, scheinen sich über das volle Ausmaß, in dem sie fremden Kräften unterworfen sind, nicht im klaren zu sein. Ist diese Verkennung nicht vielleicht eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer Befreiung des Menschen?

Interviewszene am Tisch - Foto: © 2011 by Schattenblick
Foto: © 2011 by Schattenblick

JH: Ich denke schon, daß die allermeisten Menschen in ihrem Alltag zumindest eine Ahnung von der Diskrepanz zwischen dem, wie sie am liebsten ihre Zeit verbringen würden, und was sie alles unternehmen müssen, um sich und ihre Familien über die Runden zu bringen, haben. Als Dozent an der Universität von Puebla habe ich zum Beispiel sehr viel Freiheit, wie ich den Unterricht gestalten und welche Inhalte ich vermitteln will. Und dennoch bin auch ich fremdbestimmt. Ich muß die Studenten benoten, über sie ein Urteil fällen, sie in bessere und schlechtere unterteilen - was ich gar nicht will und was sich mit meinem Menschenbild eigentlich nicht vereinbaren läßt. Als Lehrkraft steht man unter enormem Druck - unter anderem um Doktoranden innerhalb einer bestimmten Frist erfolgreich durch ihr Studium zu schleusen. Also selbst ich, der in seiner Arbeit sehr viele Freiheiten genießt, stoße täglich auf den Widerspruch zwischen dem, was man machen möchte, und dem, was von einem erwartet und verlangt wird. Ich denke, daß die meisten Menschen es ähnlich erleben: sie haben eine Idee oder ein Gefühl, wie sie am liebsten ihr Leben oder ihren Alltag gestalten würden, sehen sich jedoch von fremden Kräften gezwungen, die Dinge anders zu verrichten. Mit der Hervorhebung des Doppelcharakters der Arbeit wollte ich im Buch die Verbindung zwischen der marxistischen Theorie und den Alltagserfahrungen der Menschen im besonderen unterstreichen.

SB: An einer Stelle geben sie eine ganze Reihe von Beispielen, wie Menschen außerhalb der Arbeitswelt in ihrer sogenannten Freizeit Aktivitäten entfalten, die Risse im Kapitalismus erzeugen. Sie sprechen vom Mädchen, das in den Park geht, um dort ein kritisches Buch zu lesen, oder vom alten Mann, der am Rande eines Industriegebietes eine blumenreiche Parzelle einrichtet. Man könnte aber einwenden, daß solche Aktivitäten den Kapitalismus weniger in Frage stellen als ihn vielmehr stärken, indem sie den Menschen die Möglichkeit zur Erholung - und damit auch der fortgesetzten Ausbeutung - bieten. Statt eine Gegenposition zum Kapitalismus zu entwickeln oder einzunehmen, tanken die Menschen lediglich ihre Batterien bis zur nächsten Arbeits- und Ausbeutungsphase auf. Halten Sie diesen Einwand für gerechtfertigt?

JH: Durchaus. Ich denke, man kann solche Beispiele aus zwei Winkeln betrachten. Im gewissen Sinne treffen beide Betrachtungsweisen zu, denn die Lage der Menschen ist in sich widersprüchlich. Wenn ich sage, ich gehe heute nicht zur Arbeit, sondern in den Park und lese ein Buch, dann ist das in dem Moment ganz klar ein Akt der Rebellion. Gehe ich jedoch gleich am nächsten Tag wieder zur Arbeit, dann vermutlich mit verstärkten Kräften und der vormalige Akt der Rebellion ist verpufft. Ich denke, was ich an der Stelle sagen wollte, war, daß antikapitalistisch oder revolutionär zu sein nicht das Alleinstellungsmerkmal eines winzig kleinen Teils der Bevölkerung ist. Ganz im Gegenteil gehört die Auflehnung gegen den Kapitalismus zur Alltagserfahrung eines jeden von uns. Sie muß keine dramatischen Konsequenzen haben. Wenn wir aber die Welt wirklich verändern und den Kapitalismus überwinden wollen, dann müssen wir die Verbindung zwischen dem Lohnsklaven, der an dem einen Tag statt zur Arbeit in den Park geht, um ein Buch zu lesen, und der Freiheitskämpferin, die sich in den Untergrund oder in den Dschungel begibt, um von dort aus den Kampf gegen die Ungerechtigkeit aufzunehmen, herstellen bzw. aufzeigen - denn sie ist die Lunte, die den intellektuellen Sprengstoff zur vollen Wirkung bringen kann.

Es geht darum, denjenigen, der in den Park geht, nicht einfach als kleinbürgerlichen Reformisten abzutun, der durch sein Verhalten die Reproduktion des Kapitalismus ermöglicht. Auch wenn das negative Urteil zutrifft, so darf man das positive Rebellionspotential dieser Person nicht unterbewerten. Wenn wir solche Menschen nicht als potentielle Verbündete betrachten, denn haben wir uns in eine Sackgasse manövriert und können uns das ganze Gerede von der Revolution sparen.

SB: Wo Sie schon das Stichwort Sackgasse liefern, wenden wir uns dem Thema der Identitätspolitik zu. In Ihrem Buch haben Sie sich eingehend mit der Art und Weise befaßt, wie Menschen im kapitalistischen System in den unterschiedlichen Kategorien - Mann/Frau, weiß/farbig, heterosexuell/homosexuell, jung/alt und so weiter - klassifiziert werden. Einige Kritiker meinen jedoch, das Aufkommen der Identitätspolitik und die Bemühungen um die Gleichstellung von Frauen, Schwulen und Menschen nicht-weißer Hautfarbe hätten zum Niedergang des traditionellen Klassenbewußtseins unter den Lohnabhängigen beigetragen und dem Kapital die Anwendung der alten Taktik von Teilen und Herrschen erleichtert. Sehen Sie einen Widerspruch zwischen dem Eintreten für Partikularinteressen und dem Festhalten am Primat des Klassenkampfes?

John Holloway erläutert - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick JH: Persönlich sehe ich keinen Widerspruch - jedenfalls nicht die Zwangsläufigkeit desselben. Mir fällt in dem Zusammenhang der Spruch der Globalisierungsgegner von dem einen Nein und den vielen Jas ein. Jene Formel läßt erkennen, daß sich die Verneinung des Kapitalismus in unzähligen Formen manifestiert. Uns stehen also die verschiedensten Möglichkeiten, diesem katastrophalen System des Kapitalismus die Gefolgschaft zu verweigern, zur Verfügung. Jeder tut es auf seine Weise - die einen aus dem Bewußtsein des Klassenkampfes heraus, die anderen, weil sie noch nicht soweit sind oder weil sie auf solche scheinbar überholten Begrifflichkeiten nicht zurückgreifen wollen. Doch in dem Moment, in dem man von einem Schrei der Verneinung, von dem einen Riß im Kapitalismus spricht, da hat man bereits die Einheit der verschiedenen Protestformen postuliert.

Meines Erachtens stellt die Negation das Wesen des Klassenkampfes dar. Man muß gar nicht in marxistischen Kategorien denken, um sich im Klassenkampf wiederzufinden. Der Klassenkampf ergibt sich allein aus der Tatsache, daß die Lohnabhängigen den ständigen Angriffen, der Daueraggression des Kapitals ausgesetzt sind. Sobald man Nein zu den Angriffen des Kapitals sagt, indem man sich zum Beispiel gegen Lohnkürzungen zur Wehr setzt oder gegen die Umsetzung eines gigantischen Infrastrukturprojekts demonstriert, befindet man sich bereits im Klassenkampf.

SB: Eine der jüngsten Manifestationen des Klassenkampfes zwischen der Arbeiterschaft und den Kapitalinteressen liefert die sogenannte Occupy-Bewegung, die in den USA, genauer gesagt in der New Yorker Wall Street, angefangen und sich inzwischen auf die Bankzentren in der ganzen Welt ausgeweitet hat. Die Teilnehmer der Occupy-Bewegung protestieren im Namen der 99 Prozent der Menschheit, die dem Diktat des Großkapitals unterworfen sind und entweder ihr Leben lang schuften müssen oder arbeitslos sind, gegen das eine Prozent, das in den Chefetagen der Banken sitzt und dem der allergrößte Teil der lebensnotwendigen Ressourcen auf dieser Erde gehört. Für wie sinnvoll halten Sie eine solche Unterteilung der Menschheit in Schwerreiche und finanziell Minderbemittelte bzw. inwieweit birgt die Dämonisierung des einen Prozents nicht die Gefahr einer verfehlten Analyse der Ursachen der aktuellen internationalen Finanzkrise?

JH: Als Ausgangspunkt finde ich die Formulierung von den 99 gegenüber dem einen Prozent sehr nützlich. Schließlich bringt sie die Wirklichkeit der meisten Menschen auf den Punkt. Die große Mehrheit der Menschheit sieht sich Marktkräften unterworfen, die ganze Länder in den Ruin treiben und für den einzelnen das Bestreiten des Lebensunterhalts immer schwerer machen, während lediglich eine ganz kleine Oberschicht von den Umwälzungen des Kapitals einen Nutzen hat. Die meisten Menschen empfinden die Auswirkungen der Finanzkrise und die Austeritätsmaßnahmen, zu denen die Politiker auf Geheiß der Banken gegriffen haben, tatsächlich als Angriff auf ihren Lebensstil und ihre Hoffnungen für die Zukunft. Von daher glaube ich schon, daß die Kampfparole von den 99 gegenüber dem einen Prozent sehr wirkungsvoll gewesen ist. Auch wenn es auf die Prozentzahlen nicht so genau ankommt, hat die Formulierung vielen Menschen deutlich gemacht, womit sie es hier zu tun hat, nämlich mit dem grundsätzlichen Antagonismus zwischen den Lohnabhängigen auf der einen Seite und den großen Kapitalinteressen auf der anderen.

SB: Auch wenn den meisten Menschen die Angriffe des Kapitals bewußt sind, tragen sie paradoxerweise gleichzeitig zur Aufrechterhaltung des sie beherrschenden Systems bei, wie Sie in Ihrem Buch immer wieder hervorgehoben haben. Wie läßt sich das Bewußtsein der eigenen Beteiligung wecken, um die Chancen der Menschen zur Überwindung des Kapitalismus zu erhöhen?

John Holloway über die Schulter des SB-Redakteurs gesehen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

JH: Die Frage des effektiven Handelns ist natürlich die alles entscheidende und zugleich die schwierigste. Das wissen wir spätestens seit der berühmten Fragestellung Lenins: "Was tun?" Wir erkennen alle, daß das kapitalistische System außerordentlich ungerecht ist, großes Leid produziert und eventuell das Ende der Menschheit herbeiführen wird. Doch fassen wir die vorliegende Aufgabe als Vernichtung oder Überwindung des Kapitalismus auf, dann erscheint sie uns als unrealisierbar und überwältigend. Im Vergleich zur Zeit vor 100 Jahren und vor der russischen Revolution ist das kapitalistische System weit komplizierter und umfassender geworden. Folglich erscheint uns die Vorstellung, man könnte das Monstrum übernehmen, um es zu bändigen und zu verwandeln, um so abwegiger. Begreift man jedoch, daß der Kapitalismus nicht einfach deshalb existiert, weil er vor 200 Jahren von den Herrschenden erfunden und installiert wurde, sondern weil wir, und damit jeder einzelne, uns jeden Tag aufs neue mit ihm abfinden und uns unterwerfen. Daraus ergibt sich eine ganz andere Möglichkeit. Da wird einem klar, daß der Kapitalismus morgen aufhören könnte zu existieren, sobald wir die Entscheidung treffen, uns an seiner Aufrechterhaltung nicht mehr zu beteiligen. Durch diese Verschiebung der Betrachtungsweise hat sich die Fragestellung vollkommen verwandelt. Die Frage ist dann nicht mehr, wie wir das Monstrum aufhalten können, sondern wie wir damit aufhören, den Kapitalismus zu reproduzieren. Das ist natürlich keine Lösung des Problems, schafft jedoch Raum für neue Anregungen und Ansätze, die sich als erfolgreich erweisen könnten. Das Problem erscheint plötzlich nicht mehr unlösbar, sondern die Überwindung des Kapitalismus rückt in greifbare Nähe. Da muß man sich mit Überlegungen, wie man den Staat übernimmt oder eine Revolution anzettelt, nicht mehr aufhalten.

SB: In Ihrem Buch haben Sie sich jeder ontologischen Bestimmung verweigert, bis dahin, daß Sie unter Verweis auf die Tuatha Dé Danann sogar das Konzept der Zeit ausgehebelt haben. Mit Blick auf die zahlreichen Niederlagen der revolutionären, fortschrittlichen Kräfte im Verlauf der Menschheitsgeschichte haben Sie darauf aufmerksam gemacht, daß das lediglich verlorene Schlachten gewesen sind und der Krieg noch lange nicht entschieden ist. Könnten Sie dazu bitte etwas sagen?

JH: Nun, im Hintergrund der aktuellen Debatte unter den Marxisten und Globalisierungskritikern stehen die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit dem Untergang der Sowjetunion. Obgleich der Staatskommunismus osteuropäischer Prägung grandios gescheitert ist, haben sehr viele Menschen ihr Leben in den Dienst dieses Traums gestellt, sich zum Teil sogar dafür geopfert. Ich habe Freunde in Mexiko, deren Eltern linke Aktivisten in Guatemala waren und deshalb - wie Zehntausende andere - von den Todesschwadronen dort in den achtziger Jahren ermordet wurden. Für mich ist die Vorstellung, daß deren Kampf mit ihnen gestorben ist, inakzeptabel. Ideale wie die Gerechtigkeit, für die sich diese Menschen eingesetzt haben, behalten nach wie vor ihre Gültigkeit und ihre Verwirklichung bleibt weiterhin erstrebenswert. Es stellt sich daher lediglich die Frage, wie wir den Kampf heute gestalten wollen, um nicht die gleichen Niederlagen erfahren zu müssen. Einerseits müssen wir uns die Fehler der Vergangenheit vor Augen führen, um sie nicht zu wiederholen, andererseits können wir stolzen Mutes an die Anstrengungen unserer Vorgänger anknüpfen, ohne sie zu verleugnen.

SB: Beim Thema der Verneinung stellt sich die Frage, wie weit man diesen Prozeß betreiben kann. Gelangt man nicht unweigerlich an den Punkt, an dem man alles in Frage stellt und jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verliert? Kann man daher die Verneinung als Mittel der Erkenntnis wirklich empfehlen?

JH: Ich denke schon, daß man die Verneinung auf die Spitze treiben kann und soll. Man sollte alles in Frage stellen. Nur so lösen sich viele Dinge, die man bis dahin für unumstößlich gehalten hat, in ihre Bestandteile auf. Sachen, Institutionen oder auch Vorstellungen, denen man ewige Gültigkeit zugeschrieben hatte, entpuppen sich dann als Produkte bestimmter geschichtlicher Konstellationen und verlieren dadurch ihre Macht über einen. In meinem neuen Buch betone ich aber, daß es bei der Verneinung nicht allein um die Infragestellung und Beseitigung alles Bestehenden, sondern auch um die Schaffung des Neuen, des noch nicht Existierenden geht. Nehmen wir als Beispiel das Kulturzentrum, wo der Vortrag heute abend stattfindet. Hier haben linke Aktivisten in Hamburg einen Freiraum geschaffen, um Formen des Umgangs, die nicht von Geldtausch und Warenwelt bestimmt sind, pflegen zu können. Das halte ich für enorm wichtig, auch wenn es zunächst gewöhnlich und von geringer Bedeutung erscheint.

SB: In den letzten Jahren sind immer mehr junge Menschen beim Thema Tierrechte mit den Produktionsverhältnissen und den dahinterstehenden Kapitalinteressen in Konflikt geraten. Welche Bedeutung messen Sie der Tierrechts- bwz. der Tierbefreiungsbewegung bei?

BUBL: John Holloway im Profil - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

JH: Ich denke, daß die Frage des Umgangs der Menschen mit den anderen Lebensformen auf unserem gemeinsamen Planeten Erde von allergrößter Wichtigkeit ist. Wenn wir das Überleben der eigenen Spezies sichern wollen, kommen wir meines Erachtens nicht umhin, unseren Umgang mit den Pflanzen und den anderen Tieren grundlegend zu verändern. Die Objektivierung der Natur hat sich als ein sehr negativer Aspekt des Kapitalismus erwiesen, was man anhand des Klimawandels, des Arten- und Ressourcenschwunds erkennen kann. Bei der Verneinung und Ablehnung des Kapitalismus muß es daher auch darum gehen, das Verhältnis zwischen den Menschen und den anderen Lebensformen auf der Erde neu zu überdenken. Auch wenn wir die Menschheit für etwas Besonderes halten, was man uns nicht unbedingt verübeln kann, sind wir doch nur eine Lebensform unter vielen und müssen unser Verhältnis zu den anderen radikal überdenken, wollen wir die eigene Existenzgrundlage nicht vernichten.

SB: Wie beurteilen Sie als Europäer, der seit fast 20 Jahren in Mexiko lebt und arbeitet, den aktuellen Stand der linken Bewegungen im NATO-Raum und in Lateinamerika? Kann man im industrialisierten Norden von den sozialen Kämpfen der Menschen im Süden etwas lernen?

JH: Für einen politisch interessierten Menschen wie mich ist das Leben in Lateinamerika in den vergangenen Jahren sehr aufregend gewesen. Angefangen mit den Zapatistas in Südmexiko sind diverse soziale Bewegungen in Ländern wie Argentinien, Bolivien und Brasilien entstanden. Manchmal könnte man fast den Eindruck gewinnen, daß der ganze Kontinent in den Aufstand gegen den Kapitalismus getreten ist. Lief der soziale Kampf im vergleichsweise wohlhabenden Europa lange Zeit auf Sparflamme, so hat er sich jedoch in den vergangenen Jahren deutlich verschärft, wie uns die Ereignisse in Griechenland, Spanien und Portugal zeigen. Die Massenproteste in jenen Ländern sind dabei nur die deutlichsten Ausdrucksformen eines viel tiefergehenden Konfliktes, der inzwischen ganz Europa und Nordamerika erfaßt hat.

SB: Verstehen Sie die aktuelle Finanzkrise also als logische Folge eines sich seit Jahrzehnten zuspitzenden Antagonismus zwischen Lohnabhängigen und Großkapital?

JH: Für mich läßt sich die aktuelle internationale Wirtschaftskrise am leichtesten verstehen, wenn ich den Kapitalismus als Angriff auf die einfachen Menschen und seine Existenz als Daueraggression der Mächtigen auffasse. Gemäß der Wachstumsideologie besteht das Wesen der Aggression in der ständigen Forderung an die Adresse der Werktätigen, schneller und länger zu arbeiten und dabei weniger zu verdienen. Inzwischen haben wir einen Punkt erreicht, wo sich viele Menschen sagen, weder können wir schneller und länger arbeiten, noch sind wir bereit, dies für weniger Geld zu tun. Und diese Verweigerungshaltung ist es, welche die Wachstumsspirale zum Erliegen bringt. Daher sollten wir uns dazu bekennen, die Ursache der Krise zu sein, und Stolz dabei empfinden, daß wir ein System, das die ganze Menschheit in den Abgrund führt, fast zum Kollaps gebracht haben. Wir sollten stolz darauf sein, daß endlich vom Scheitern des Kapitalismus die Rede ist und vielfach in der Öffentlichkeit Überlegungen über neue Wege der gesellschaftlichen Organisation angestellt werden.

SB: Vielen Dank Herr Holloway für dieses Interview.

Fußnote:

1. SB-Rezension von "Kapitalismus aufbrechen":

http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar574.html

John Holloway signiert eine Kopie eine Kopie seines neuesten Buchs - Foto: © 2011 by Schattenblick

"Kapitalismus aufbrechen" vom Autor signiert
Foto: © 2011 by Schattenblick

13. Dezember 2011