Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/155: Hegemonialspuren (SB)


Reiner Braun berichtet von der Anti-NATO-Konferenz in Buenos Aires

Skype-Interview am 14. Dezember 2012



Am 13./14. Dezember 2012 fand in Buenos Aires die Interkontinentale Konferenz "Frieden, Abrüstung und soziale Alternativen zur globalen NATO" statt. Sie wurde vom internationalen Netzwerk "No to War - No to NATO" gemeinsam mit der argentinischen Versammlung zur Verteidigung der Menschenrechte und dem mexikanischen Think-Tank "Internationale Lateinamerikanische Studien" organisiert. Mehr als 100 Teilnehmer haben auf der Konferenz über die Rolle der NATO in Lateinamerika diskutiert und vor einer weiteren Militarisierung durch die Allianz gewarnt. Zu den Organisatoren der Tagung gehörte Reiner Braun, Geschäftsführer der Initiative "Internationale Juristen und Juristinnen gegen den Atomkrieg" (IALANA) und Vorstandsmitglied der Stiftung Friedensbewegung. Am zweiten Konferenztag beantwortete er dem Schattenblick per Skype-Interview einige Fragen.

Auf dem Podium - Foto: © 2012 by Kristine Karch

Greetings by Senator Daniel Filmus, Argentina
Foto: © 2012 by Kristine Karch

Schattenblick: Angesichts der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten sind aus europäischer Perspektive Krieg und Kriegsgefahr in Lateinamerika in den Hintergrund getreten. Warum findet die Konferenz gegen die NATO dennoch in Buenos Aires statt?

Reiner Braun: Weil wir in den letzten Jahren sehen müssen, daß sich der Anspruch der NATO, global Präsenz zu zeigen, permanent auch auf Lateinamerika ausdehnt. Dies sieht man erstens an der Wiederbelebung der Vierten US-Flotte als Interventionsflotte, die gleichzeitig atomar bestückt ist. Das sieht man zweitens an dem immer wieder aufflackernden Konflikt um die illegitime Besetzung der Falkland-Inseln, von den Argentiniern Islas Malvinas genannt, die von allen Südamerikanern und von der UNO als neokoloniale Besetzung verstanden wird. Das Zahlenverhältnis von NATO-Soldaten zur Bevölkerung auf dieser Inselgruppe ist ungefähr drei zu eins. Das sieht man drittens an den zwölf neu gegründeten Basen, die in den letzten drei Jahren in Lateinamerika von Panama bis Falkland entstanden sind, um diesen Konflikt um die Ressourcen wenn möglich wieder politisch und ökonomisch in den Griff zu bekommen. Lateinamerika ist sicherlich nicht so ein High-Spot wie der Mittlere Osten oder Zentral- und Südostasien, aber dennoch ein Gebiet, in dem militärische Konflikte denkbar, Militärputsche wahrscheinlich und Coup d'États in den letzten Monaten mit Unterstützung westlicher Kräfte zum Beispiel in Honduras oder Paraguay teilweise erfolgreich stattgefunden haben wie auch die Regierungen Boliviens und Ecuadors in einem Dauerzustand von Staatsstreich bedroht sind. Wir haben es also mit einer Weltregion zu tun, die durchaus konfliktträchtig ist und in der man versucht, progressive Entwicklungen abzuwürgen.

SB: Wie ist in diesem Zusammenhang die aktuelle Politik der US-Regierung einzuschätzen? Unter George W. Bush war der Zugriff auf Lateinamerika sehr ausgeprägt, sowohl hinsichtlich der Bündnispolitik als auch mit dem Anspruch, ungehinderten Zugang zu den dortigen Ressourcen zur Frage der nationalen Sicherheit der USA zu erklären. Barack Obama geht dem Schein nach etwas moderater an diese Region heran.

RB: Obama versucht, verlorengegangenes Terrain wiederzugewinnen. Viele unserer Freunde hier sagen, daß die Entwicklung Lateinamerikas in den letzten zehn, zwölf Jahren nicht denkbar oder doch schwieriger gewesen wäre, wären Bush und die USA nicht in die beiden Kriege im Irak und in Afghanistan verwickelt gewesen, auf die sie sich konzentrieren mußten. Dies habe dazu geführt, daß sie ihren eigenen Hinterhof "etwas" vernachlässigt hätten. Obama versucht mit ökonomischem Einfluß unter Nutzung US-amerikanischer Stiftungen, aber auch durch eine massive Wiederbelebung der Politik, verlorengegangenen wirtschaftlichen und politischen Einfluß zurückzugewinnen. Dabei setzt er viel stärker als Bush auf Soft Power, was ihn aber nicht ungefährlicher macht, weil er an die in den Ländern vorhandenen Widersprüche anknüpfen kann, um sie für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Seine Politik verfolgt die gleichen Zwecke und Ziele, nämlich Lateinamerika wieder in den Hinterhof der USA zu verwandeln. Seine Methoden schließen eine militärische Einflußnahme nicht aus, wie man an der unter seiner Regierung erfolgten Reaktivierung der Vierten Flotte unschwer erkennen kann.

SB: Wie könnte man in diesem Zusammenhang die Politik der Vereinigten Staaten im Hinblick auf das Nachbarland Mexiko und die Bündnispolitik insgesamt in Lateinamerika bewerten? Sind die USA dort aus Ihrer Sicht erfolgreich?

RB: Ich glaube, es ist zu früh zu sagen, wer wann wie erfolgreich ist. In Lateinamerika haben in den letzten zehn, zwölf Jahren grundlegende Veränderungen stattgefunden, die ein riesiges Maß an Selbstbewußtsein und an Würde zu diesen Ländern zurückgebracht haben. Gleichzeitig ist deutlich geworden, daß die Prozesse der Veränderung in diesen Ländern wesentlich länger dauern und viel komplizierter sind, als viele der heute an den Regierungen befindlichen Linkskräfte sich das gedacht haben. Daraus resultieren eine ganze Reihe von neuen Widersprüchen inklusive des Widerspruches, daß Investitionen in diesen Ländern von außen notwendig sind, aber Investitionen gleichzeitig die Gefahr beinhalten, nationale Positionen wieder zu verlieren, die zuvor gewonnen worden sind. Die US-Politik ist in der Hinsicht erfolgreich, daß sie heute schon wieder auch für die linken Regierungen anerkannter Diskussions- und Bündnispartner ist. Ihr ist es noch nicht gelungen, Prozesse zurückzudrehen, so daß ein ambivalenter Schwebezustand vorherrscht, den man auch auf dieser Konferenz spüren kann. Keiner weiß so ganz genau, wie sich das in nächster Zeit entwickeln wird. Alle fühlen, daß große, grundlegende Entscheidungen bevorstehen. Doch wie sich diese im konkreten Fall auswirken, ist unserer Meinung nach noch nicht klar erkennbar. Jedenfalls will Obama seinen Botschafter für Lateinamerika sowohl im Weißen Haus als auch im Auswärtigen Amt austauschen, so daß auch seitens der US-Regierung eine Neuformulierung der Politik stattfindet.

Auf dem Podium - Foto: © 2012 byKristine Karch

Miguel Monserrat, Adolfo Pérez Esquivel, Claire Chastaine Foto: © 2012 by Kristine Karch

SB: Der sogenannte Krieg gegen die Drogen ist ein zentrales Instrument militärischer Intervention der USA in Lateinamerika wie auch in anderen Weltregionen. Welche Positionen werden in dieser Hinsicht auf dem Kongreß vertreten?

RB: Die Positionen sind relativ einfach und klar: Erstens kein Einfluß von außen, zweitens kann man das Drogenproblem nur als soziales Problem und durch Legalisierung lösen. Eine Militarisierung des Drogenproblems führt zu den Kriegen, wie wir sie in Kolumbien erleben und wie sie heute fast schon als Bürgerkrieg in Mexiko vor der Tür stehen. Das ist der völlig falsche Weg. Die USA sind der größte Abnehmer der Drogen und sollten zuallererst ihren heimischen Markt stillegen, da dann die Nachfrage nach den Drogen wesentlich geringer ausfiele. In den Herkunftsländern der pflanzlichen Ausgangsprodukte steht die Aufgabe an, eine soziale und landwirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen, die es auch für Farmer nicht mehr attraktiv macht, Drogenprodukte anzubauen.

SB: Ist zu erwarten, daß sich unter der neuen Präsidentschaft Enrique Peña Nietos in Mexiko in politischer Hinsicht etwas am Antidrogenkrieg ändern wird?

RB: Ich gebe die Meinung des mexikanischen Kollegen Luis Gutiérrez-Esparza wieder, der an der Konferenz teilnimmt und diese Frage verneint hat. Seiner Einschätzung nach wird die neue Regierung seines Landes dieselbe Politik unter Einsatz von Soft Power fortsetzen. Sie wird nicht mehr so stark auf die Armee setzen, aber die Konfliktlage weiterhin nicht als soziales und ökonomisches Problem des eigenen Landes sehen und sie daher nicht grundsätzlich angehen.

SB: Europäische Staaten waren in der jüngeren Vergangenheit vorwiegend ökonomisch in Lateinamerika präsent. Hat sich das in der Weise geändert, daß sie im Kontext der NATO verstärkt militärisch intervenieren?

RB: Es gibt erstmals in allen lateinamerikanischen Botschaften der Europäischen Union Militärattachés. Europa verkauft zunehmend Waffen an die lateinamerikanischen Länder und steht in militärischer Kooperation mit ihnen. Es gibt eine wachsende Zusammenarbeit im militärischen Bereich im wesentlichen zwischen Frankreich und Spanien auf der einen Seite und den lateinamerikanischen Ländern auf der anderen, aber auch einen zunehmenden Einfluß Deutschlands, das derzeit vor allen Dingen mit Argentinien und Brasilien über den Verkauf von Kriegsschiffen verschiedener Kategorien verhandelt.

SB: Die NATO ist ein Kriegsbündnis der westlichen kapitalistischen Staaten. Könnte man sagen, daß der Tenor auf dem Kongreß ein dezidiert antikapitalistischer ist?

RB: Antikapitalismus ist in Lateinamerika - und das erfreut einen ja, wenn man aus Europa kommt - eigentlich etwas ganz Gängiges. Eine rein kapitalismusfreundliche Position findet man hier so gut wie gar nicht, selbst in den konservativeren Kreisen gibt es eher kapitalismuskritische Positionen, die sich dann im wesentlichen gegen die USA, aber teilweise auch gegen Europa richten. Es ist eindeutig ein antikapitalistischer Kongreß. Es wird klar gesehen, daß Krise und Krieg zwei Seiten einer Medaille sind. Und von allen wird auch gesehen, daß die ökonomische Krise in Europa, aber nicht nur in Europa mit zunehmenden Auswirkungen auch auf Lateinamerika kriegsfördernd und kriegstreibend ist. Mit großer Sorge wird hier die Interventionspolitik wie jene in Syrien gesehen, die als Angriff auf die nationale Selbständigkeit vor allen Dingen in den arabischen Ländern scharf kritisiert wird. Es ist also ein antikapitalistischer Kongreß, und es ist ein Kongreß, der viel stärker als dies häufig in Europa der Fall ist, Krise und Krieg als zwei Seiten einer Medaille formuliert.

Auf dem Podium - Foto: © 2012 by Kristine karch

Luis Gutiérrez Esparza, Enrique Daza, Claire Chastain, Marie-Christine Vergiat Foto: © 2012 by Kristine Karch

SB: Sie haben das Stichwort Syrien gegeben, und wir wollen nicht darauf verzichten, Sie auch zu diesem Thema zu fragen. Hier in Deutschland wird derzeit eine Kontroverse um einen Aufruf der Initiative "Adopt a Revolution" geführt. 60 prominente Erstunterzeichner haben sich auf die Seite der syrischen Opposition geschlagen und darauf beharrt, daß ihre Absichten friedlicher Natur seien. Gleichzeitig wurde jedoch bekannt, daß ein Beiratsmitglied der Organisation "Adopt a Revolution" im Deutschlandfunk ganz offen dazu aufgerufen hat, die Opposition besser zu bewaffnen. Gibt es in Ihrem Bündnis bereits eine Position dazu, wie mit diesem Problem umzugehen sei?

RB: Bislang gibt es keine Diskussion im Bündnis "No to war - No to NATO" zu diesem Aufruf, wobei es auch nicht die Angelegenheit dieses internationalen Bündnisses ist, sich mit solchen Aufrufen zu beschäftigen. Was meine Position betrifft, möchte ich drei Punkte nennen: Erstens ist jegliche Intervention, welcher Art auch immer, grundsätzlich und prinzipiell abzulehnen. Zweitens ist jegliche Bewaffnung, welcher Seite auch immer, ebenso abzulehnen, weil sie kriegsfördernd, kriegstreibend und kriegsverlängernd ist. Drittens gilt meine Unterstützung der zivilen, nicht bewaffneten Opposition, die es immer noch in diesem Land gibt und zu der wir Kontakte haben, die sich von Anwälten ausgehend über weite Teile der Zivilgesellschaft erstreckt, die trotz allem, was ihr angetan wird, immer noch auf der Straße protestiert. Diese demokratische Opposition, die sich gegen ein autoritäres Regime, wie es das Assad-Regime ist, richtet, ist notwendig, wohingegen jegliche Unterstützung einer Opposition und einer Regierung, die mit Waffen in einem Bürgerkrieg gegeneinander kämpfen, abzulehnen ist. Waffenstillstand und Verhandlungen sind das absolute Gebot der Stunde, bevor dieser so brutale Krieg noch weiter eskaliert.

SB: Es zeichnet sich ab, daß in Syrien eine Art Stellvertreterkrieg stattfindet. Es sind geostrategische Interessen Rußlands involviert, und da die NATO ein traditionell gegen Rußland gerichtetes Bündnis ist, muß man befürchten, daß sie Syrien zum Schauplatz einer geostrategischen Offensive macht. Sie hat inzwischen eine Fraktion der Opposition als legitime Vertretung Syriens und seiner Bevölkerung anerkannt und damit massiv in den Konflikt eingegriffen. Wie würden Sie sich als NATO-Kritiker in dieser Hinsicht positionieren?

RB: Meiner Ansicht nach ist die Grundposition eine ganz klare Antikriegsposition. Krieg darf nicht stattfinden, Interventionen sind prinzipiell abzulehnen. Deswegen haben diese Patriot-Raketen nirgendwo etwas zu suchen, erst recht nicht an der türkisch-syrischen Grenze. Ich sehe absolut die Gefahr, daß das der Beginn einer Intervention ist, die ich prinzipiell ablehne. Stellvertreterkriege wird es geben, so lange es unterschiedliche Interessen gibt. Mein Ausgangspunkt ist ein anderer, nämlich der, daß sich wie in anderen Ländern der Region auch in Syrien Tausende, Hunderttausende von Menschen in einer demokratischen Opposition gegen ein autoritäres Regime gewendet haben. Diese Menschen haben meine Solidarität und Unterstützung, diese Menschen wollen ein unabhängiges, demokratisches Syrien. Das würde ich immer unterstützen. Ich sehe durchaus, daß diese Menschen auf beiden Seiten mißbraucht werden, doch kann mich das nicht davon abhalten, die Menschen, die aus berechtigtem sozialen und demokratischen Interesse gegen das zutiefst neoliberale Regime von Assad protestieren, zu unterstützen, und dazu werde ich immer stehen.

SB: Ich habe abschließend eine Frage zum Charakter des Bündnisses "No to war - No to NATO" selbst. Antimilitarismus ist ja nicht gerade ein Betätigungsfeld, das sich zahlungskräftiger Sponsoren in der Wirtschaft erfreut. In welchem Ausmaß genießt Ihr Bündnis Unterstützung von Förderern? Sie müssen ja solche Konferenzen wie die aktuelle in Buenos Aires bemitteln - wie ist diesbezüglich Ihr Selbstverständnis in punkto Unabhängigkeit?

RB: Das Netzwerk "No to war - No to NATO" finanziert sich ausschließlich aus den Beiträgen der beteiligten Organisationen. Wir werden von 650 Organisationen in mehr als 30 Ländern unterstützt, die die Reisekosten der zwölf oder dreizehn Personen aus Europa und den USA tragen. Wir bekommen hier in Argentinien Unterstützung aus der ganzen Breite der Zivilgesellschaft, wobei uns vom Senat und dem Abgeordnetenhaus Räume und Technik inklusive der Übersetzer zur Verfügung gestellt worden sind. Ein klein wenig werden wir auch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Partei Die Linke mit Blick auf die Reisekosten der Kolleginnen und Kollegen, die aus anderen Ländern Lateinamerikas hierher kommen, unterstützt. Insgesamt ist dieser Kongreß mit einem absoluten Low-level-budget durchgeführt worden, und wir sind stolz darauf, daß wir es trotzdem geschafft haben, ihn zu organisieren. Wir haben die gesamte Vorbereitung nur über Telefonkonferenzen bewerkstelligt, was kompliziert genug war. Wir nehmen prinzipiell kein Geld an, das in irgendeiner Weise mit Rüstung oder Rüstungskonzernen verbunden ist. Wir freuen uns über Spenden von all jenen, die die Anliegen dieses Netzwerks, nämlich die Überwindung und Auflösung der NATO, unterstützen, und sind dankbar dafür, daß es doch Menschen und Organisationen gibt, die dieses Anliegen auch in Europa mit unterstützen.

SB: Gibt es bereits Pläne für künftige Aktionen oder Konferenzen hier in Europa?

RB: Wir halten als Bündnis "No to war - No to NATO" unsere Jahreskonferenz im März im belgischen Gent ab. Dort werden wir wie üblich alle zwölf Monate Revue passieren lassen und unsere nächsten Schritte und weiteren Aktivitäten planen. Wir bereiten uns jetzt schon auf den nächsten NATO-Gipfel vor, der im frühen Herbst - das genaue Datum steht noch nicht fest - in Budapest stattfindet, und werden dort wieder mit Aktionen präsent sein.

SB: Herr Braun, wir bedanken uns für dieses Gespräch.

27. Dezember 2012