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INTERVIEW/164: Aufbruch, Brüche, Widerstände - gelebt, bezeugt seit 1967 (SB)


"Kultur und Widerstand von 1967 bis heute"

Interview im Centro Sociale in Hamburg am 16. März 2013



Im Hamburger Centro Sociale fand vom 16. bis zum 24. März die Ausstellung "Kultur und Widerstand von 1967 bis heute" statt. Anschließend wird sie an weiteren Orten wie Stuttgart, Berlin und Magdeburg zu sehen sein. Initiiert und organisiert wurde sie von der Künstlerin und politischen Aktivistin Flori, die im Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen [1] aktiv ist, und dem politischen Aktivisten Wolfgang Lettow, der ebenfalls im Netzwerk tätig ist und auch das Gefangenen Info [2] vertritt. Am Tage der Eröffnung beantworteten Flori und Wolfgang dem Schattenblick einige Fragen zum Konzept der Ausstellung und der Bedeutung solidarischen Handelns in Zeiten anwachsender staatlicher Repression.

Plakat 'Isolation durchbrechen, Kämpfe verbinden' - Grafik: Gefangenen Info via http://www.gefangenen.info/

Grafik: Gefangenen Info via http://www.gefangenen.info/

Schattenblick: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, eine Ausstellung zum Thema "Kultur und Widerstand" zu machen?

Flori: Im Sommer trafen wir Thorwald Proll in seiner Buchhandlung Nautilus in Ottensen. Er schenkte uns für das Netzwerk Acrylarbeiten im Pop-Art-Stil, die inhaltlich in Bezug zum Kaufhausbrand 1968 in Frankfurt standen. Das war der Zündfunke, eine andere politische Ausstellung machen zu wollen. Beim Schreiben der Konzeption entstand die Idee, die Ausstellung durch politische Veranstaltungen zu ergänzen. Recherchen im Archiv der sozialen Bewegungen in der Roten Flora führten dann zu den politischen Plakaten. Das Archiv spendete für das Netzwerk und das Gefangenen Info die politischen Plakate und somit gab das die Möglichkeit, diese zu versteigern. So wurden die politischen Plakate Hauptbestandteil unserer Ausstellung. Eine weitere Ergänzung ergab sich aus den politischen Inhalten der Veranstaltungsreihe, diese spiegeln politische Inhalte in künstlerischen Werken, Aquarellen, Karikaturen, Popart, Fotocollagen, Fotos, Ausdrucken von Paolo Neris Mosaiken und verschiedenen politischen Transparenten zu Langzeitgefangenen und Isolationshaft wider.

SB: Wolfgang, bist du für das Gefangenen Info hier oder erfüllst du noch eine andere Funktion bei der Ausstellung?

Wolfgang Lettow: Ich stehe für beides. Das Gefangenen Info hat ja eine lange Geschichte. Es war 1989 während des letzten großen kollektiven Hungerstreiks der Gefangenen aus der RAF und des anti-imperialistischen Widerstandes entstanden. Die Zeitschrift nannte sich zuerst Hungerstreik Info, dann nach Ende des Streiks Angehörigen Info und später, als viele der Angehörigen gestorben waren oder sich von der Herausgabe verabschiedet hatten, Gefangenen Info. Bis 2008 hat es der GNN-Verlag herausgegeben. Ich arbeite seit 1991 beim Gefangenen Info mit. Jetzt wird es vom Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen herausgegeben. Ich war damals schon Mitglied und als ich denen erzählt hatte, daß der GNN-Verlag die Zeitschrift aufgeben wollte, wurde gemeinsam beschlossen, das Gefangenen Info zu übernehmen. Ich bin also in beiderlei Funktionen hier, für das Netzwerk und das Gefangenen Info.

SB: Wieso wollte der GNN-Verlag die Zeitschrift damals aufgeben?

WL: Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen waren mit Christian Klar fast alle Gefangenen aus der RAF, bis auf Birgit Hogefeld, aus der Haft entlassen worden, und zum anderen hat sich die Herausgeberin Christiane Schneider sowohl politisch als auch beruflich anders orientiert. Sie übernahm eine wichtige Funktion für die Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft. Den GNN-Verlag gibt es heute nicht mehr.

SB: Wie schafft ihr es, alle zwei Monate diese doch recht aufwendige Printausgabe herauszugeben?

WL: Einmal durch unsere AbonnentInnen und zum Teil durch die Rote Hilfe, die die Gefangenen Abos bezahlt. Ansonsten verdienen wir zum Beispiel durch Veranstaltungen wie diese etwas Geld. Es geht allerdings auch darum, das Gefangenen Info noch mehr bekannt zu machen. Wir hoffen, mit der Ausstellung auch andere Menschen ansprechen zu können. Kultur und Widerstand wird ja heute nicht mehr, wie insbesondere in den 60er Jahren, zusammengedacht. So waren bei der Kaufhausbrandstiftung, die als Protest u.a. gegen den Vietnamkrieg gedacht war, mit Thorwald ein Literat und mit Horst Söhnlein ein Theater- und Filmregisseur beteiligt. Da gab es von vornherein immer eine große Nähe zur Kultur. Das war seinerzeit kein Widerspruch. Heute ist es eher so, daß die einen Kultur und die anderen Politik machen. Auf dieser Grundlage haben wir auch diese Veranstaltung konzipiert.

Ausgaben des GI und der Vorläufer - Foto: 2013 by Schattenblick Ausgaben des GI und der Vorläufer - Foto: 2013 by Schattenblick

Seit 1989 Forum für politische Gefangene, Unterstützergruppen und Antirepressionsarbeit
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: Werden die Plakate erst am Ende der Ausstellung versteigert?

F: Nein, wir beginnen heute. Insgesamt haben wir 140 politische Plakate, die die Geschichte verschiedener politischer Kämpfe dokumentieren. Wir versteigern heute die politischen Plakate. Da wir die Ausstellung täglich ab 15 Uhr geöffnet haben, gibt es auch da die Möglichkeit, die Ausstellung anzusehen und Plakate und Unikate zu erwerben. Am Ende der Ausstellung gibt es nochmals eine Versteigerung. Es gibt auch Leihgaben, die nicht versteigert werden, z.B. die Karikaturen, und Fotocollagen, die nur über Anfrage an das Netzwerk Hamburg erhältlich sind. Der Erlös geht zu 100 Prozent an das Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen und das Gefangenen Info.

Cover Gefangenen Info 375 März 2013 - Grafik: Gefangenen Info via http://www.gefangenen.info/

Aktuelle Ausgabe des Gefangenen Info
Grafik: Gefangenen Info via http://www.gefangenen.info/

SB: Flori, wie beurteilst du als in Hamburg lebende Künstlerin das Verständnis von Kulturschaffenden für die Themen, die du behandelst? Gibt es überhaupt noch einen Spielraum für die Politisierung von Künstlern, zumal Kunst ja auch im Sinne der Gentrifizierung und ähnlicher Prozesse geradezu marktgerecht eingekauft wird?

F: Es ist eine persönliche Entscheidung, für das eigene schöpferische Schaffen oder für den Markt zu produzieren. Kunst ist für alle da, lautet einer meiner Ansätze für meine Arbeiten.

In den letzten Jahren habe ich mehrere politische Ausstellungen zu Gentechnik, Genfood, Umweltverschmutzung und anderen Katastrophen gemacht. Die Resonanz war durchweg positiv. Gerade jüngere Menschen fanden es gut, diese Themen in der malerischen Umsetzung zu sehen, und waren erfreut über eine meiner Schwarzlicht-Installationen. Auch ich war erfreut, weil die Besucher sehr gut informiert waren und ein großes Wissen und Interesse an diesen Problemen hatten.

Kunstschaffende hatten und haben die Aufgabe, einen kritischen Standpunkt gegenüber der Gesellschaft einzunehmen, politische, soziale und sonstige Verhältnisse kritisch zu durchleuchten und die Widersprüche - sei es politisch, sozial oder gesellschaftlich - auch zu benennen, zu dokumentieren und aufzudecken. Hier sind alle Kunstschaffenden gefragt.

Exponat mit Abbildungen von Gudrun Ensslin - Foto: 2013 by Schattenblick Exponat mit Abbildungen von Gudrun Ensslin - Foto: 2013 by Schattenblick

Ermutigender Blick auf bewegte Geschichte
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: Wolfgang, wie ist dein Verhältnis als politischer Aktivist zum künstlerischen Anspruch der Ausstellung? Geht es dir darum, auf diese Weise für mehr Solidarität mit politischen Gefangenen zu werben?

WL: Dem kann ich zustimmen. Ich komme aus der 68er-Bewegung. Damals war ich sehr jung, aber ich habe schon mitbekommen, daß Kunst und Widerstand kein Widerspruch waren. Ich weiß auch, daß Gudrun Ensslin und Andreas Baader sehr offen für Kultur waren. Das gilt im Grunde auch für mich. Ich habe mich auch sehr für Filme und Literatur mit linken revolutionären Inhalten interessiert. Es gab damals einige gute sowjetische Filmemacher, aber auch deutsche Produktionen haben das Thema aufgegriffen. Daneben gab es auch SchriftstellerInnen, die damit experimentiert haben oder in dieses politische Feld eingedrungen sind, wie die verstorbenen Peter O. Chotjewitz und Christian Geissler, mit denen ich auch freundschaftlich verbunden war.

Ich finde diese Ausstellung sehr wichtig. Wenn mensch sich die Plakate anschaut, dann drücken sie nicht nur einen Standpunkt aus, sondern auch eine gewisse Ästhetik und Kultur. Ich bedauere es, denn es ist Ausdruck einer schwachen Linken, daß heute eine Trennung zwischen Kunst und Widerstand besteht. Im Grund genommen gehört beides immer zusammen. Viele Kulturschaffende, die früher sehr links waren und teilweise auch mit der RAF sympathisiert hatten, wie Wolf Biermann oder Hans Magnus Enzensberger, kann mensch heute fast als Herrschaftsdichter bezeichnen. Da hat sich etwas geändert.

Schon in der Französischen Revolution war es so, daß sich die Kulturschaffenden irgendwann einfach anpaßten. Das hat nicht nur mit Kunst im engeren Sinne zu tun.

Die 68er- oder später die Punk-Bewegung waren Rebellionen, die sich aber auch einer gewissen Ästhetik bedienten. Das ist meines Erachtens ganz wichtig.

SB: Im Gefangenen Info habt ihr auch Graffitis abgebildet. Siehst du darin möglicherweise eine Weiterentwicklung der politischen Kunst?

WL: Auf jeden Fall. Das gilt auch für Hip Hop und eigentlich alle kulturellen Äußerungen, die mit den herrschenden Verhältnissen nicht einverstanden sind. Wir haben auf dem Büchertisch auch Lieder zum Deutschen Herbst 1977. Die New Wave- und Punk-Bewegung, die nicht unbedingt einen RAF-Standpunkt hatten, übten dennoch Kritik am Staat. Das zu artikulieren, fand ich immer wichtig. In meiner politischen Tätigkeit habe ich Leute kennengelernt, die in der Punk-Bewegung groß geworden sind und später mit uns zusammengearbeitet haben. Ich habe früher selber Gedichte geschrieben oder Musik gemacht. Da gibt es keine Trennung, auch wenn die heutige Zeit eher die Trennung favorisiert. Ich bin stets an subversiver Kultur interessiert.

SB: Mit den Exponaten wird ein Bogen über mehrere Jahrzehnte gespannt, und im Gefangenen Info wird häufig die Forderung "Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen" erhoben. Würdest du denn sagen, daß sich revolutionäre Geschichte nicht mehr im Besitz derjenigen befindet, die in ihrer Kontinuität stehen oder in ihrer Folge heute noch aktiv sind? Ist der Versuch, sich ihrer zu erinnern, zu einer Notwendigkeit geworden?

WL: Es ist eine Notwendigkeit. Das zeigt sich zum Beispiel am menschenfeindlichen Charakter der Isolationsfolter, wie sie vor allem gegen die Gefangenen aus der RAF angewendet wurde. Neun Eingesperrte haben den Knast nicht überlebt. All diese Fakten werden heutzutage von der herrschenden Öffentlichkeit geleugnet. Deshalb ist es sehr wichtig, das immer wieder zu thematisieren. Zum einen wird die Isolationshaft auch weiterhin angewendet, in Deutschland zum Beispiel gegen migrantische Gefangene. Sie ist auch in diverse Länder exportiert worden. Zum zweiten gab es die Todesumstände in Stammheim. Gegen das Gefangenen Info wurden 20 bis 30 Verfahren angestrengt, dabei ging es hauptsächlich um die Ereignisse am 18.10.1977 - das war die Todesnacht in Stuttgart-Stammheim.

Am Morgen des 18. Oktober werden Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe sterbend und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen aufgefunden. Sofort wird die offizielle Version des Selbstmordes verbreitet. Alle Menschen und Initiativen, die das öffentlich in Frage stellten, wurden kriminalisiert.

Trotz aller Repressalien haben wir immer auf unserem Standpunkt insistiert. Es gibt jedoch auch positive Entwicklungen. So hat zum Beispiel Helge Lehmann mit den Geschwistern Ensslin noch einmal über die Vorfälle in Stammheim recherchiert bzw. ein Wiederaufnahmeverfahren beantragt. Das ist ganz wichtig, weil die Geschichte immer verfälscht wiedergegeben wird. Wenn die RAF tatsächlich so durchgeknallt und mackerhaft gewesen wäre, wie sie im Baader-Meinhof-Film dargestellt wird, dann wäre sie nach 24 Stunden geschnappt worden. Ganz wichtig ist aber auch, nicht nur zu dokumentieren, was damals passiert ist, sondern auch die Kontinuitätslinien aufzuzeigen. Der Paragraph 129 und die Antiterrorgesetze sind ja nicht abgeschafft, sondern vielmehr weiterentwickelt worden.

SB: Könntest du etwas über die Aktivitäten des Netzwerks erzählen?

WL: Das Netzwerk ist 2006 aus der ATS (Anti-imperialistischen Türkei Solidarität) hervorgegangen. Wir haben uns damals verstärkt zum Todesfasten der türkischen Gefangenen verhalten. Todesfasten wird im Gegensatz zum Hungerstreik erst beendet, wenn ein Resultat erreicht ist. In einem bald sieben Jahre andauernden Kampf in der Türkei, der sich gegen die Einführung der Isolationsfolter "Made in Stammheim" richtete, starben 122 Menschen.

Weiterhin gibt von unserer Seite sehr viel Solidarität mit allen politisch Verfolgten weltweit:

"Da die politische Gefangenschaft aus den existierenden Verhältnissen hervorgeht, d.h. die Gefängnisse die Reaktion des kapitalistischen Systems gegen den Widerstand für Gerechtigkeit sind, vertritt das Netzwerk die Auffassung, dass die Solidarität mit den politischen Gefangenen integraler Bestandteil aller politischen und sozialen Kämpfe sein muss. Und da uns heute Ausbeutung und Repression in weltweit verschärfter Form entgegentritt, sieht das Netzwerk die Notwendigkeit, diese Solidarität über die Grenzen hinweg zu stärken und die internationale Solidarität als unsere Antwort auf ihre Repression einzusetzen." (aus unserer Präambel)

Es gibt in vier Städten Netzwerksektionen: in Hamburg, Berlin, Magdeburg und Stuttgart.

SB: Euch ist Solidarität besonders wichtig. So vertretet ihr den Standpunkt, in den verschiedensten Bereichen solidarisch zu sein, wie zum Beispiel bei inhaftierten türkischen Kommunisten oder Tierbefreiern in den USA. Seht ihr darin vielleicht sogar eine Ausgangsbasis für eine Art gemeinsamer linker Bewegung, oder wird damit eher eine notdürftige Brücke über die tiefen Gräben geschlagen, die die Linke heute durchziehen?

WL: Beides würde ich sagen. Das betrifft ja nicht nur den Repressionsbereich. Wichtig ist auch, sich mehr aufeinander zu beziehen. Wenn wir zum Beispiel eine Demo organisieren, müssen wir auch beachten, was die anderen machen, ob sie sich daran beteiligen können bzw. daß wir uns nicht gegenseitig auf die Füße treten, weil zwei Demos am selben Tag stattfinden, die vielleicht nur ein oder zwei Stunden auseinander liegen. Das andere ist der Aufbau einer starken Verteidigungsfront, in der gewisse politische Differenzen zwar benannt werden, aber man trotzdem einen Konsens sucht. Das würde uns wieder stärker machen. Wir selber planen eine Art Vernetzungskongreß gegen die Repression. Es wäre gut, wenn sich die Linke wieder mehr aufeinander beziehen würde. Das würde sie auch attraktiver machen. Das ist ganz existentiell für uns alle als revolutionäre Linke.

SB: Wie beurteilst du aus deiner langjährigen Erfahrung heraus den Stand der radikalen Linken heute? Auf der einen Seite gibt es die verschiedenen Grabenkämpfe und zum anderen wird die Diskussion stark von identitätsorientierten Fragestellungen wie Sexismus und Klassismus beherrscht, in denen sich der poststrukturalistische Einfluß auf die Theoriebildung innerhalb der Linken niederschlägt.

WL: Es ist ja nicht falsch, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen. Den neuen Menschen kann man nicht allein über die Machtübernahme schaffen, wie das z.B. marxistisch-leninistische Zusammenhänge propagieren, denen zufolge der neue Mensch so entsteht und dann alles von selber läuft. Ich kann diese heutigen Fragestellungen gut verstehen, aber ich denke trotz alledem, daß die Ursache, warum sich die radikale Linke bei solchen Themen so verheddert und auch "bekriegt", auch etwas mit Desorientiertheit und Resignation zu tun hat. Viel wichtiger ist, das Verbindende zu suchen. Das geht natürlich in eine Diskussion hinein, die nur jemand begreift, der in diesen Zusammenhängen steckt. Für Außenstehende gibt es da ganz andere Fragen zu klären wie die soziale Situation, die Verarmung und zunehmende Isolation. Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden, was zumindest in der 68er-Bewegung versucht wurde. Damals war klar, daß wir vor allem aus unserem Elternhaus und unserem Bekanntenkreis, Schule, Uni und Job heraus einen Bruch mit dem Bestehenden vollziehen müssen, um etwas Neues aufzubauen. Das hat mich immer angesprochen, nicht die Ideologie, die ich teilweise überhaupt nicht verstanden habe. Der Mensch ist das Entscheidende. Ich spreche mich jetzt nicht gegen die Theorien aus, sondern sage, daß diese heute so in den Mittelpunkt gerückt sind, hat mit der Entfremdung zum sozialen Anliegen zu tun. Ich glaube, in bewegungsstärkeren Zeiten würde das anders laufen.

F: Wir lebten in einer Aufbruchstimmung. Jetzt ist eine Zeit der Perspektivlosigkeit und Resignation. Diese aufzubrechen, das Bestehende nicht als unveränderbar zu akzeptieren, ist wichtig.

Flyer 'Linke Politik verteidigen!' - Grafik: Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen via http://political-prisoners.net/

Zum Tag der politischen Gefangenen am 18. März 2013
Grafik: Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen via http://political-prisoners.net/

SB: Zur Veranstaltungsreihe gehört auch das Thema Gentrifizierung und Widerstand. Hier in Hamburg gibt es eine starke "Recht auf Stadt"-Bewegung. Siehst du darin vielleicht einen Fokus für eine neue Mobilisierung oder gar eine Brücke zur Frage der politischen Gefangenen, die ja meistens sehr am Rand steht?

F: "Recht auf Stadt" ist ein breites Bündnis mit vielen unterschiedlichen Leuten, politischen Gruppen und Organisationen. Tausende gehen mit Wut und Empörung auf die Straße, um gegen die bestehenden Verhältnisse wie fehlenden sozialen Wohnungsbau oder nicht vorhandene bezahlbare Mieten zu protestieren. Die Demonstrationen sind bunt und ideenreich, werden angereichert mit Performance und vielem mehr.

Die politische Entwicklung bleibt abzuwarten.

SB: Wolfgang, was hat die Hausbesetzung in der Ekhofstraße vor 40 Jahren, an der du beteiligt warst, für dich bedeutet?

WL: Ich empfand es als einschneidendes Erlebnis, daß Widerstand möglich war. In der Folge habe ich Brücken zum bürgerlichen Staat oder zu einer Karriere abgebrochen. Das war für mich ein ganz wichtiger Einschnitt, der mich sehr geprägt hat. Ich glaube, ohne die Ekhofstraße würde ich wahrscheinlich hier nicht sitzen. Mit der konfrontativen Besetzung des Hauses, die ziemlich hohe Wellen geschlagen hat, sind wir auf unübersehbare Weise in der Gesellschaft in Erscheinung getreten. Damit war eine große Hoffnung verbunden, aber dennoch haben sich viele, als das Haus geräumt wurde, zurückgezogen. Zur Zeit der 68er-Bewegung war ich noch zu jung, gerade einmal 16, 17 Jahre alt. Bei der Ekhofstraße war ich fünf Jahre älter und kam mit vielen Menschen zusammen. Das Haus haben wir nach Petra Schelm benannt, die am 15.7.71 als RAF-Mitglied bei einer Polizeikontrolle in Hamburg erschossen wurde. Die Benennung erfolgte, weil wir auch vorher schon Erfahrungen mit den politischen Gefangenen bei den RAF-Prozessen gesammelt hatten.

Ich würde mich freuen, wenn es wieder so eine starke Breitenwirkung, aber auch mit einer radikalen Spitze, geben würde. Daran müssen wir arbeiten. Ich denke, die 68er sind oft auf den Bauch gefallen, bis sie ihre Ansätze gefunden haben. Die Zeit jetzt ist einfach reifer, denn objektiv sind die Bedingungen viel schlimmer als vor 40 Jahren. Das Bedürfnis der Menschen ist durchaus vorhanden, aber es fehlt die Initialzündung wie damals durch die Erschießung von Benno Ohnesorg, die vielen Leuten die Augen geöffnet und dann in politische Aktionen und Organisierungen geführt hat.

SB: Ihr habt am nächsten Samstag das Thema "Geschichte und Erfahrungen von 40 Jahren Häuserkampfbewegungen bundesweit" auf dem Programm. Wollt ihr dazu das Thema Ekhofstraße aufgreifen und eine Verbindung zu heute herstellen?

WL: Genau. Ich werde darüber berichten. Dazu gibt es auch einige Filme und einen Radiobeitrag. Wir schlagen damit eine Brücke zu den Besetzungen bundesweit in den 70er und 80er Jahren wie in Hamburg mit der Hafenstraße bis heute. Es gibt immer noch Hausbesetzungen. Daher hoffen wir auf eine Diskussion mit vielen Erfahrungswerten, wie es damals gemacht wurde und wie es heute gemacht wird, und der zentralen Frage, wie wir daraus in Zukunft eine starke soziale Bewegung machen können.

SB: Wird die Ausstellung auch in anderen Städten gezeigt?

WL: Ja, in den Partnerstädten unserer Sektion. Es ist eine Wanderausstellung. Als nächstes geht es nach Berlin, dann nach Stuttgart und Magdeburg, aber wir würden es gut finden, wenn sie auch in andere Städte kommt. Einige Städte haben schon Interesse an unserer Ausstellung gezeigt. Vielleicht betrifft das die Verbindung zur Ausgangsfrage Kultur und Widerstand, um beides wieder mehr in Einklang zu bringen. Wir als linke AktivistInnen schaffen ja auch Kultur, obwohl uns dies gar nicht so bewußt ist. Da machen sich Menschen Gedanken, wie das Politische in künstlerischer Form herübergebracht werden kann. Es wäre auf jeden Fall gut, sich nicht nur die politische Geschichte anzueignen, sondern auch die kulturelle Geschichte. Aus meiner eigenen Erfahrung aus den 60er Jahren, in denen zum Beispiel viel Brecht gelesen wurde, weiß ich, daß es einen starken Fundus von revolutionärer Kunst in Deutschland gibt. Brecht war damals an der Schule verboten. Vielleicht kann man so einen neuen Aufbruch oder zumindest eine Diskussion initiieren.

SB: In der ersten Legislaturperiode der Bundesrepublik war die KPD noch im Bundestag vertreten. Seinerzeit hat der Fraktionsvorsitzende Max Reimann sinngemäß gesagt, daß die Kommunisten eines Tages diejenigen sein werden, die das Grundgesetz verteidigen. Wie siehst du die Verteidigung des Rechtsstaats aus Sicht eines Gefangenenaktivisten? Jemand, der die klassenlose Gesellschaft anstrebt, würde den Rechtsstaat vielleicht nicht per se gutheißen. Ist es, um überhaupt eine breitere Mobilisierung zustande zu bringen, nicht auch ein Gebot der Zeit, sich auch mit solchen Fragen und Ansprüchen auseinanderzusetzen, um Menschen zu politisieren, die nicht aus der radikalen Linken kommen? Schließlich gibt es in der Gesellschaft auch ganz normale soziale Repression. So wurden die Grundrechte durch Hartz-IV praktisch aufgehoben.

WL: Grundrechtsverletzungen zu thematisieren ist richtig, nur hat die Geschichte gezeigt, daß mit dem Aufkommen einer starken Bewegung auch die Grundrechte ausgehebelt wurden. Griechenland ist ein Beispiel dafür. Als dort 1967 geputscht wurde, gab es zuvor eine Bewegung gegen die NATO. Das ist das eine. Diese Widersprüche zu skandalisieren, halte ich dennoch für richtig, denn es ist momentan ja nicht nur so, daß die radikale Linke weltweit in der Krise ist. Auch die früheren Bürgerrechtsbewegungen haben sich einkaufen lassen, insbesondere nach der Regierung Brandt. Damals gab es Berufsverbote, Isolationsfolter und später die NATO-Aufrüstung. Wir sind uns aber bewußt, daß es ein zweischneidiges Schwert ist, Grundrechte zu verteidigen, weil zu fragen ist, wie wirksam sie wirklich sind. Sobald eine starke Bewegung auftaucht, erklären Widerstandsstrategen sie zu einer Bedrohung, die es zu beseitigen gilt. Wenn Gefangene isoliert werden und nicht die Rechte bekommen, die ihnen zustehen, müssen wir erklären, warum Gefangene so behandelt werden. Das hat natürlich auch ganz viel mit Neoliberalismus zu tun. Wir setzen uns für ihre Rechte ein, gleichzeitig dürfen wir uns keine Illusionen machen.

SB: Der Prozeß gegen Verena Becker hat für große Medienöffentlichkeit gesorgt. Zur Zeit wird in Frankfurt ein Prozeß gegen zwei mutmaßliche Aktivisten der Revolutionären Zellen fortgeschrittenen Alters geführt. In den großen Medien erfährt man wenig darüber, warum Ereignisse, die sich vor fast 40 Jahren zugetragen haben, heute vor Gericht kommen. Hast du eine Erklärung für diese unterschiedlichen publizistischen Präferenzen?

WL: In der regionalen Frankfurter Presse gab es mehrere Artikel darüber. Aber ich denke, selbst wenn darüber berichtet wird, dann auf irreführende Weise. So wurde etwa kritisiert, daß die Angeklagten keine Aussagen machen, während der Kronzeuge Hans-Joachim Klein massiv in Schutz genommen wird. Da findet auch ein Umschreiben der Geschichte statt. Daß Hermann Feiling damals gefoltert wurde und seine Aussagen nun in den Prozeß einfließen, obwohl er sie widerrufen hat, wird nur von linken AktivistInnen kritisiert. So wird zwar in den Medien berichtet, doch es wird versucht, die Wahrheit zurechtzubiegen. Daß die Richterin Bärbel Stock den früheren Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner in dem Verfahren um die Folterandrohung gegen einen Verdächtigen nur zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt hat, zeigt doch, auf wessen Seite das Gericht steht. Zumindest kann man sagen, daß die Solidaritätskomitees eine sehr gute Prozeßarbeit leisten und sehr viele junge Leute, die Ende des letzten Jahrhunderts geboren wurden, sich damit auseinandersetzen. Das schlägt sogar Wellen bis ins bürgerliche Lager hinein, das seinen Rechtsstaat gefährdet sieht.

SB: Offenbar ist die Frage, wieso die Justiz ehemaligen Aktivisten auf solch hartnäckige Weise nachstellt, nicht leicht zu beantworten.

F: Dabei ist die Beweislage sehr dünn. Der ganze Fall wird ja auf Zeugenaussagen gebettet, die mehr als nur fragwürdig sind. Selbst Leute, die nur ein bißchen kritisch sind, oder Anwälte, die mit Rechtsfragen befaßt sind, fragen sich, wie das angehen kann. Da drängt sich natürlich der Gedanke an Vergeltung auf. So ist es auch bei Verena Becker gewesen. Es wird versucht, die Angeklagten zu vereinzeln und das Verfahren zu entpolitisieren. Zu diesem Zweck wurde auch Beugehaft angedroht wie bei Christa Eckes, wo versucht wurde, sie noch während ihrer Chemotherapie zu verhören. Da werden Grenzen überschritten. Die Botschaft lautet doch, wir kriegen euch alle, selbst wenn ihr hundert Jahre alt seid. Das zeigt sich gerade im Fall von Sonja und Christian. Wie haltlos die gegen sie gerichteten Vorwürfe sind, hat auch ihr Anwalt berichtet. Das scheint Kontinuität zu haben.

WL: Aber es geht. Das ist in diesem Staat möglich. Aber mensch kann diese Widersprüche auch kritisieren. Warum werden sie so verfolgt? Das hat damit zu tun, daß es damals einen Angriff gegen den Staat gab. Deshalb fahndet die Klassenjustiz immer noch und strebt eine Bestrafung an. Das zeigt natürlich, wie wichtig die Ziele waren. Es verdeutlicht, daß sie eine andere, freie Gesellschaft anstrebten. Genau das haben die Revolutionären Zellen und die Rote Armee Fraktion in ihren Schriften vertreten. Inwieweit der von ihnen beschrittene Weg mit Fehlern verbunden war, ist ein ganz anderer Punkt. Immerhin gibt es eine Bewegung, die diese Ziele heute noch immer für wichtig hält. Mag sein, daß sich vielleicht einige AktivistInnen davon distanziert haben, aber das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft steht ja noch an. So ruft der Frankfurter Prozeß eine gewisse Aufmerksamkeit hervor. Das hat auch damit zu tun, daß die beiden standhaft geblieben sind. Auch im Verena-Becker-Prozeß haben die Ehemaligen aus der RAF keine Aussagen gemacht. Das zieht natürlich Linien von damals nach heute. Viele Leute sind mit Beugehaft konfrontiert. Auf jeden Fall zeigt sich da eine Gemeinsamkeit. Die Kämpfe vor 40 Jahren werden heute noch immer gegen den gleichen Feind gekämpft, und der schlägt immer noch mit voller Härte zurück.

Christa Eckes ist das beste Beispiel dafür. Sie wäre während ihrer Chemotherapie zwei Monate vor ihrem Tod noch verhört worden, wenn es damals nicht eine Bewegung dagegen gegeben hätte. Das geht natürlich weiter. Deutschland führt im Gegensatz zur Zeit vor 40 Jahren jetzt wieder Kriege. Oberst Klein wurde befördert, obwohl er Zivilisten in Afghanistan umbringen ließ. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Das zeigt, daß ein Klassenstaat solche Taten für richtig hält und im Sinne objektiver Gewalt als Recht erkennt, während andere, die eine andere Gesellschaft wollen und dafür Aktionen machen, verfolgt werden.

Ganz anders sieht die Situation bei den Faschisten aus. Der NSU konnte 13 Jahre lang teilweise durch die Duldung und Unterstützung der Geheimdienste morden. Verfolgt werden aber die AntifaschistInnen. Ich glaube, in diesem Punkt hat die radikale Linke ein wenig gepunktet. Widersprüche zu skandalisieren und zu thematisieren ist in diesem Jahrhundert zumindest ansatzweise gelungen. Davor haben die Herrschenden Angst. Daß sie die Antifaschisten nach Paragraph 129 verfolgen, wie in Dresden z.B., hat damit zu tun, daß die staatliche Komplizenschaft mit den Faschisten nun offen zutage tritt, und das wollen sie verdecken. Deshalb zerren sie diejenigen vor Gericht, die Naziaufmärsche blockieren. Der Staat selbst macht wenig gegen sie, und wenn er sich verbal gegen den Nazismus ausspricht, dann nur auf Druck von uns oder weil er Angst um den Standort Deutschland hat. Daran müssen wir auf jeden Fall weiterarbeiten.

SB: Flori und Wolfgang, vielen Dank für dieses Gespräch.

Umschlag des Tayad Komitees zu 129b-Prozessen gegen türkische Kommunisten - Grafik: Tayad Komitee via http://political-prisoners.net/

Vereinigungsstrafrecht - zentrales Instrument politischer Verfolgung
Grafik: Tayad Komitee via http://political-prisoners.net/


Fußnoten:

[1] http://political-prisoners.net/

[2] http://www.gefangenen.info/

1. April 2013