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INTERVIEW/168: Quo vadis NATO? - Interventionsgefahren (SB)


Gespräch mit Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel am 27. April 2013 in Bremen



Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel ist Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Er studierte Rechtswissenschaften in Bochum und Rechtswissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft in München, wo er auch sein Juristisches Staatsexamen ablegte. Dort war er zunächst Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht und Assistent am Institut für Rechtsphilosophie. Zwischen 1988 und 1990 war er Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit. 1991 wurde er mit dem Jean-Amery-Preis für Essayistik ausgezeichnet. Nach seiner Promotion im Jahr 1993 in München und Habilitation 1997 in Frankfurt am Main nahm er 1998 die Lehrtätigkeit auf, zunächst als Dozent an den Universitäten Bielefeld und Rostock und seit 1999 an der Universität Hamburg. Seine Forschungsgebiete sind Dogmatik des Strafrechts, Rechtsphilosophische Grundlagenforschung, Rechtsethik, Theorien der Gerechtigkeit, normative Probleme der Philosophie des Geistes, Recht und Ethik in der Medizin und in den Neurowissenschaften sowie Politische Philosophie und Völkerstrafrecht. [1]

Als im Frühjahr 2011 Militärflugzeuge mehrerer NATO-Staaten Aufständische gegen die libysche Regierung unterstützten, äußerte Merkel die Auffassung, daß der Einsatz gegen geltendes Recht verstoße. Er plädiert für die Forschung an Embryonen und die Rationierung der Medizin nach klaren Kriterien. Merkel ist auf Vorschlag der Bundesregierung seit April 2012 für die Periode 2012 bis 2016 Mitglied im Deutschen Ethikrat. Im August 2012 äußerte er sich skeptisch, ob Juden aus juristischer Sicht einen Anspruch darauf haben, männliche Neugeborene ohne Narkose beschneiden zu dürfen. Den vom Bundesjustizministerium vorgelegten Gesetzentwurf kritisierte er scharf.

Auf dem Kongreß "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" vom 26. bis 28. April in Bremen hielt Prof. Dr. Merkel im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung einen Impulsvortrag zum Thema "Militärische Intervention zum Schutz von Menschenrechten?" und nahm an der anschließenden Podiumsdiskussion teil. Am Rande des Kongresses beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Portrait stehend - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Merkel, Sie haben vorhin gesagt, daß Sie die Probleme und Streitfragen, die gestern aufgebrochen sind, ohnehin nicht schlichten können. Was waren das aus Ihrer Sicht für zentrale Kontroversen?

Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel: Es gab eine Handvoll Streitfragen, die sehr fundamentale Grundsatzfragen betreffen. Die erste und gestern am intensivsten diskutierte war, ob es eine Legitimation für militärische Gewaltanwendung zum Schutz massenhaft verletzter fundamentaler Menschenrechte in fremden Staaten geben kann. Eine Legitimation, die im Extremfall am Weltsicherheitsrat vorbei agiert, denn nach der grundlegenden Ordnung der internationalen Beziehungen, wie sie die UN-Charta festhält, hat das Gewaltmonopol zwischen den Staaten globales Ausmaß. Meine Auffassung ist folgende: Daß der Sicherheitsrat mit einer Zweidrittelmehrheit von 15 Leuten, worunter fünf ein freies Vetorecht für ihre Regierungen ausüben dürfen, mit seiner Entscheidung die legitimierende Norm aus dem normativen Nichts schaffen kann, würde ich für ein Unding halten.

Genausowenig kann dieser Rat, der durch ein willkürlich ausübbares Veto blockierbar ist, ein genuin gegebenes legitimierendes Recht, Gewalt anzuwenden, unterbinden. Und in diesem Sinne würde ich in extremen Fällen eine humanitäre Intervention zur Rettung etwa von einem Genozid bedrohter ethnischer Gruppen in anderen Staaten für legitimierbar halten. Aber, und das hat die Diskussion gestern zu recht scharf als Problem präzisiert, ist das etwas sehr, sehr Gefährliches. Es kann ein mißbrauchbares Instrument für mächtige Staaten werden, die nach ihrem Gutdünken intervenieren, dazu die Fakten frisieren und erklären, es geschehe ein Völkermord, und sich über die Medien den Rückenwind der öffentlichen Meinung verschaffen. Wir haben den Mißbrauch dieser Argumente erlebt. Wir haben ihn im Vorfeld der Kosovo-Intervention erlebt, wo sich deutsche Spitzenpolitiker an dieser Fabrikation einer unwahren Beschreibung beteiligt haben. Es wurde von einem völkermordähnlichen Zustand dort geredet, und Joschka Fischer, der damals Außenminister war, erhob "Nie wieder Auschwitz!" zur obersten Maxime der deutschen Außenpolitik, indem er erklärte, im Kosovo passiere so etwas. Das ist natürlich ein ganz finsteres Beispiel dafür, wie das humanitäre Interventionsrecht mißbraucht werden kann.

Gleichwohl, in Ruanda war der Sicherheitsrat blockiert, aus welchen Gründen auch immer. Es waren damals primär die Amerikaner, aber es ist überhaupt nicht gesagt, daß nicht im Falle einer Zustimmung Washingtons womöglich die Chinesen ein Veto eingelegt hätten, da sie damals entschlossen waren, alle Interventionen zum Schutz von Menschenrechten zu blockieren. Ein solcher Fall des Nichteingreifens, weil ein Gremium von 15 Mitgliedern sich nicht dazu bereit erklärt, da ein Störenfried aus dem Kreis der fünf ständigen Mitglieder einfach nicht mitspielt, wofür eine Million Menschen ihr Leben lassen müssen - das kann nicht sein. Das war der primäre Streitpunkt gestern abend. Die völkerrechtlich orientierten Kollegen hier neigen dazu zu sagen, die formalen rechtlich garantierten Verfahren sind ein starker Schutz, auf den wir nicht verzichten können. Wir können nicht ohne Sicherheitsrat intervenieren. Aber ich halte das gleichwohl in extremen Fällen für legitimierbar. Man sollte also deutlich machen, daß der Sicherheitsrat militärische Gewalt in Situationen autorisieren kann, wo es ein Einzelstaat ohne den Rat noch lange nicht könnte. Daß also die Hürde für die Einzelstaaten, ohne Sicherheitsratsresolution Gewalt anzuwenden, deutlich höher sein muß als die Schwelle des Sicherheitsrats selber, wenn er das autorisiert, wiewohl er auch eine hohe Schwelle zu überwinden hat.

SB: Müßte man nicht befürchten, daß Intervention, auch wenn sie als humanitär ausgewiesen wird, doch immer anderen Interessen dient?

RM: In einem gewissen Sinne muß man das immer befürchten. Man muß sogar so realistisch sein zu sagen, daß eine rein humanitäre Intervention unter heutigen politischen Bedingungen gar nicht gut vorstellbar ist. Das wird immer gekoppelt mit mittel- und langfristigen weiteren Interessen der intervenierenden Staaten. Libyen hat das ganz deutlich gezeigt, da hatte man ganz andere Interessen, sogar primäre, die auf einen Regimewechsel zielten. Wenn jetzt gegebenenfalls in Syrien interveniert wird, was man nicht mehr ausschließen kann, wiewohl alle Militärs davor gewarnt haben, dann ist es ganz deutlich, welchen weiteren Interessen das dient, nämlich die Achse Syrien-Iran zu brechen. In Wahrheit würde sich eine solche Intervention immer auch, nicht allein, aber immer auch gegen den Iran richten, und das ist ein Legitimationsproblem für solche Interventionen. Also ist Ihre skeptische Rückfrage vollkommen berechtigt.

SB: Es gibt viele andere Probleme, die heute angesprochen wurden, wie zum Beispiel der Hungertod zahlloser Menschen, bei denen niemand auf die Idee käme, eine humanitäre Intervention zu fordern. Werden da nicht gravierende Problemlagen vollständig ausgeblendet?

RM: Auch da ist etwas dran, aber man muß dann scharf hingucken. Das eine ist, als Zuschauer Zeuge des Sterbens von jemandem zu werden, der, ich sage es mal bewußt so weit und undeutlich formuliert, aufgrund von Naturursachen stirbt. Zu verhungern ist nicht nur eine Naturursache, aber man kann sie immer auch und viel leichter so deuten, um zu sagen, da kann man nichts machen. Wir können nicht alle Hungernden der Welt ernähren, weil wir das Geld einfach nicht aufbringen. Davon abzusetzen ist ganz deutlich die Situation, wo jemand als Zuschauer das Szenario beobachtet, wie einer sich mit einem Messer auf den anderen stürzt, um ihn zu töten, und der Zuschauer könnte ihm in den Arm fallen. Sehen Sie, selbst wenn ich dieses simple Modell von zwei oder drei Beteiligten wähle, ist es ein bedeutsamer Unterschied. Sind Sie Zuschauer eines Szenarios, in dem jemand stirbt, weil er verhungert, dann müßten sie als Zuschauer - positiv, sagen die Juristen - verpflichtet werden können. Das heißt, Sie müssen also eine Hilfe aufbringen, die Sie selber etwas kostet. Nun ist das bei dem Intervenieren, wenn zwei andere beteiligt sind, von denen einer einen weiteren töten will, schon auch so, daß Sie eine positive Hilfe leisten und dazwischengehen müssen - aber der Appellcharakter, der Aufforderungscharakter, der Dringlichkeitscharakter, geh dazwischen, du kannst das Messer festhalten, ist deutlich größer, als in dem anderen Szenario.

Gleichwohl ist die Frage berechtigt. Es ist nur so, daß alle positiven Pflichten, alle Hilfspflichten, eine notwendige, auch normative Schranke finden, in der Möglichkeit zu helfen. Der Zuschauer sieht wie jemand ertrinkt, kann aber selber nicht schwimmen. Dann kann er nicht helfen. Hinzu kommt die Zumutbarkeit der Hilfe. Der Zuschauer sieht, wie jemand in einem aufgewühlten Wildwasser ertrinkt, kann zwar schwimmen, sagt sich aber, daß es ein 30prozentiges Risiko gibt, selber zu ertrinken, wenn er versucht, Hilfe zu leisten. Dann endet die Pflicht. Sie endet also an der Unmöglichkeit, sie zu erfüllen, das ist evident, sie endet aber auch in der Unzumutbarkeit, und das ist bei allen Hilfspflichten so.

Der Einwand, wenn ihr dem einen oder der einen Bevölkerungsgruppe helft, die massakriert werden soll, dann müßt ihr bitte allen anderen auch helfen auf der Welt, sonst wird nach unbeglaubigten Kriterien diskriminiert, hat kein besonderes Gewicht. Positive Pflichten bewegen sich nur im Rahmen des Möglichen und des Zumutbaren - das verkennen viele Leute. Viele sagen, es sei doch möglich, da die reichen Nationen so viel Geld haben, aber versuchen Sie das mal hier! Wir leben in einer Demokratie. Der Staat kann nicht mit vorgehaltener Pistole hergehen und sagen, du spendest jetzt bitte von deinem Vermögen 10.000 Euro für die Hungernden in Afrika. Das kann er nun mal nicht. Und deswegen gibt es Grenzen der Zumutbarkeit. Hier endet die Möglichkeit einer reinen Theorie des Rechts an der unreinen Wirklichkeit.

SB: Müßte man nicht an dieser Stelle auch die ursächliche Beteiligung der westlichen, reichen Nationen an den von Hunger und Elend geprägten Lebensverhältnissen in zahlreichen Ländern des Südens thematisieren?

RM: Das ist sehr wichtig und wird derzeit in der rechtsphilosophischen Diskussion thematisiert. Berühmte Schüler von John Rawls, dem noch berühmteren großen amerikanischen Rechtsphilosophen, der vor knapp zehn Jahren gestorben ist, wobei ich vor allem seinen deutschstämmigen Schüler Thomas Pogge im Blick habe, fordern ein Ausdehnen der Rawlschen Gerechtigkeitstheorie im globalen Maßstab, was Rawls selber abgelehnt hat. Sie weisen darauf hin, daß das Unterlassen der reichen Nationen, eine gerechte Verteilungsordnung weltweit herzustellen, mehr ist als eine kausale Mitbeteiligung am Elend der Welt, am Hunger der Welt, sondern vielmehr eine eindeutig zurechenbare Verantwortlichkeit an diesem Hunger. Ich bin nicht ganz so sicher. Denn die Fragen, die gelöst werden müssen, angefangen von den extrem schwierigen ökonomischen Fragen, wie man das schafft, die neue Verteilungsordnung in einer Weltordnung global durchzusetzen, die von Einzelstaaten garantiert wird, reichen bis zu den ungelösten Fragen seit Aristoteles, seit 2300 Jahren, was Gerechtigkeit eigentlich ist.

Wie sind die verbindlichen oder die konsensfähigen Grundmaßstäbe der Verteilungsgerechtigkeit? Es gibt nicht den Schatten eines Konsenses darüber. Es gibt eine starke antiegalitaristische Strömung unter den Gerechtigkeitstheoretikern. Wir haben jahrzehntelang, eigentlich seit Aristoteles, also jahrtausendelang gesagt, das Grundkriterium der Gerechtigkeit ist die Gleichheit. Die Antiegalitaristen haben jedoch durchaus gewichtige und nicht so leicht aus dem Weg zu räumende Argumente zu sagen, nein, Gleichheit ist kein Postulat der Gerechtigkeit. Ein Postulat der Gerechtigkeit ist jedoch die Garantie einer menschenwürdigen Existenz für jeden. Über all diese Dinge gibt es keinen Konsens. Aber die Fragen, die Sie stellen, sind vollkommen berechtigt und die werden auch gestellt. Sie werden jedoch heiß umstritten diskutiert. Wir haben keinen Konsens. Schopenhauer hat einmal mit Blick auf die theoretisch philosophische Frage, wie Bewußtsein aus der neurochemisch-physikalischen Materie des Gehirns möglich sei, davon gesprochen, das sei der Weltknoten. Wir haben im normativen Bereich auch Weltknoten, und der große Weltknoten ist, was Gerechtigkeit ist und wie wir sie realisieren.

SB: Herr Merkel, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.jura.uni-hamburg.de/personen/merkel/


Bisherige Beiträge zum Kongreß "Quo vadis NATO?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)
INTERVIEW/166: Quo vadis NATO? - Handgemacht und kompliziert (SB)
INTERVIEW/167: Quo vadis NATO? - Zügel für den Kriegseinsatz - Gespräch mit Otto Jäckel (SB)

10. Mai 2013