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INTERVIEW/191: Obamas Amerika - Ungleichgewicht, Lawrence Davidson im Gespräch (SB)


Interview mit Lawrence Davidson am 23. August 2013 in West Chester, Pennsylvania



Lawrence Davidson ist emeritierter Geschichtsprofessor der Universität West Chester im US-Bundesstaat Pennsylvania. Der Sohn säkular-jüdischer Eltern ist 1945 im 40 Kilometer östlich von West Chester liegenden Philadelpia geboren und aufgewachsen. Während des Studiums für seinen Master-Grad an der Georgetown University in Washington Ende der sechziger Jahre engagierte sich Davidson als Mitglied der Students for a Democratic Society (SDS) in der US-Antikriegsbewegung. An der Georgetown University lernte er später den palästinensischen Geschichtsprofessor Hisham Sharabi kennen, der Davidsons guter Freund wurde und sein Interesse an der israelisch-palästinensischen Problematik und dessen Wurzeln weckte.

Im Laufe seiner akademischen Karriere hat Davidson mehrere wichtige Bücher veröffentlicht. Hierzu gehören "Islamic Fundamentalism - An Introduction (1998), "America's Palestine: Popular and Official Perceptions from Balfour to Israeli Statehood" (2001), "A Concise History of the Middle East" (2006 mit Ko-Autor Arthur Goldschmidt), "Foreign Policy Inc.: Privatizing America's National Interest" (2009) und "Cultural Genocide" (2012). In den letzten Jahren hat sich Davidson besonders als Publizist hervorgetan, der in regelmäßigen Artikeln auf seiner eigenen Website To the Point Analyses, bei Counterpunch, Consortium News und der Quartalszeitschrift Logos fundierte Kritik an der seines Erachtens militaristischen Außen- und Sicherheitspolitik der USA - insbesondere in der islamisch-geprägten Region zwischen Atlasgebirge und Hindukusch - übt. Mit Professor Davidson führte der Schattenblick am 23. August in West Chester ein längeres Gespräch.

Lawrence Davidson zuhause auf dem Sofa - Foto: © 2013 by Schattenblick

Lawrence Davidson
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Professor Davidson, die beiden Ziele der USA im Nahen Osten, Hegemonie und Stabilität, scheinen immer gefährdeter zu sein. Bedürfen sie angesichts der Entwicklungen in Ägypten, Syrien, im Irak, Iran und Jemen und der Dauerkrise in den israelisch-palästinensischen Beziehungen nicht vielleicht einer Korrektur?

Lawrence Davidson: Das ist eine interessante Frage. Zunächst muß grundsätzlich geklärt werden, welches die wichtigsten strategischen Ziele der USA in der Region sind. So, wie der Politikbetrieb in den USA funktioniert, ergibt sich der Kurs Washingtons in bezug auf den Nahen Osten aus den Interessen bestimmter mächtiger Lobbygruppen. Als einfacher Bürger der USA hat man kaum Einfluß auf die Formulierung der Politik in Washington, es sei denn, man heißt Bill Gates oder Warren Buffett. Aus diesem Grunde schließt man sich traditionell mit anderen Menschen zu Interessengruppen zusammen, um gemeinsam etwas erreichen zu können. Bekannte Beispiele dazu sind die American Association of Retired Persons (AARP) oder die National Rifle Association (NRA). Diese beiden Organisationen sind in der Innenpolitik aktiv. Das System funktioniert in der Außenpolitik nach dem gleichen Schema. Das erlebt man nicht nur in bezug auf den Nahen Osten. So ist es kein großes Geheimnis, daß die seit mehr als einem halben Jahrhundert andauernde feindliche Haltung Washingtons gegenüber Kuba maßgeblich von den rechtsgerichteten Castro-feindlichen Exilkubanern in Florida bestimmt wird. Gleichermaßen wird die Irland-Politik der USA von den Irisch-Amerikanern beeinflußt, wie die China-Politik Washingtons lange Zeit von den Kommunismus-feindlichen Sinophoben dominiert wurde.

Hinsichtlich des Nahen Ostens haben die zionistischen Organisationen von Anfang an ein kräftiges Wort mitzureden gehabt. In ihren Reihen befinden sich nicht nur viele Juden, sondern auch christliche Fundamentalisten. Nicht alle Juden sind Zionisten, aber die meisten der schwerreichen und konservativen sind es. Die zionistischen Organisationen sind finanzkräftig und daher sehr mächtig. Seit spätestens den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts üben sie erfolgreich einen starken Einfluß auf die Nahost-Politik der USA aus. Was sie machen, ist vollkommen legitim, wenngleich man sich fragen könnte, ob das die effektivste Art der politischen Willensbildung ist. Auch in einigen europäischen Staaten wird die Nahost-Politik mit Rücksicht auf die Wünsche der zionistischen Organisationen formuliert.

Wenn sich eine Interessengemeinschaft so stark in die nationale Politik des Staates einmischen kann, dann verkommt diese dazu, die beschränkten Ziele eben jener Gruppen zu verfolgen. Die Nahost-Politik Washingtons ist ein Paradebeispiel für dieses Phänomen. Deswegen sind die USA Israel stets wohlgesonnen; deswegen fällt es in den hiesigen Medien so schwer, Aufmerksamkeit für die Lage der Palästinenser und für die Mißachtung ihrer Rechte zu erregen; und deswegen befindet sich Amerika seit mehr als drei Jahrzehnten in einer kontraproduktiven Konfrontation mit dem Iran.

Auch andere Interessen und Gruppen finden Eingang in die Gestaltung der Nahost-Politik Washingtons. Die USA beziehen den größten Teil ihres Öl- und Gasbedarfs zwar nicht aus dem Nahen Osten, aber einige von Amerikas wichtigsten Handelspartnern. Deshalb haben die USA ein vitales Interesse daran, daß der Transport von Öl und Gas ungehindert aus dem Persischen Golf nach Japan, Europa und anderswohin verläuft. Schon vor langer Zeit haben die großen US-Energiefirmen, die heute als Globalunternehmen agieren, Frieden mit den Zionisten geschlossen. Von daher kommen sich beide niemals in die Quere. Die Saudis haben einen gewissen Einfluß, verhalten sich in erster Linie jedoch ruhig. Seit dem Ölembargo 1973 haben sie sich nicht mehr wirklich gegen die Nahost-Politik der USA aufgelehnt. Also gibt es im Grunde genommen niemanden mehr, der den Zionisten die Vorherrschaft bei der Gestaltung der Nahost-Politik der USA streitig machen könnte. Manchmal nutzen die Zionisten die Geschäftsbeziehungen der USA zu den arabischen Golfstaaten, um mehr Zuwendungen für Israel herauszuschlagen. Wenn das Pentagon beispielsweise Waffensysteme an Saudi-Arabien oder deren Nachbarn verkauft, verlangt Israel, unterstützt von seinen Freunden in den USA, daß es das bessere Modell bekommt, um seinen militärtechnischen Vorsprung aufrechtzuerhalten.

SB: Nach dem Sturz des gewählten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi am 3. Juli war ein heftiger Streit in den USA darüber ausgebrochen, wie die Regierung Barack Obama auf die neue Situation reagieren sollte. Während Israel und Saudi-Arabien den Militärputsch offen begrüßten, konnte es sich die Regierung Obama nicht einmal erlauben, diesen Begriff offiziell zu benutzen, denn das hätte das Einstellen der amerikanischen Rüstungshilfe für die ägyptischen Streitkräfte bedeutet. Nicht nur innerhalb der Obama-Regierung und im Kongreß kam es zum Disput darüber. Selbst führende pro-israelische Neokonservative wie Robert Kagan und William Kristol waren sich nicht einig, ob es eher im amerikanischen Interesse sei, das Vorgehen des ägyptischen Militärs zu unterstützen oder auf die demokratische Legitimität der Präsidentschaft und der Parlamentsmehrheit der Moslembruderschaft zu insistieren. Wie bewerten Sie diese Kontroverse?

LD: Das meiste davon ist nur Geplänkel. Die langfristige Reaktion der USA auf die jüngsten Veränderungen in Ägypten dürfte auch in diesem Fall von den wichtigsten Lobbygruppen bestimmt werden. Als Mursi und die Moslembruderschaft gestürzt wurden, erklärten sich die Israelis und die Saudis mit der Entwicklung hochzufrieden. Die führenden Vertreter der zionistischen Lobby haben sich dieser Beurteilung natürlich angeschlossen und entsprechend Werbung dafür im Kongreß sowie in den Medien gemacht. Welche Wirkung dies hatte, konnte man am Verhalten der Senatoren John McCain und Lindsey Graham erkennen. Die beiden Republikaner, die sich seit Jahren in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik hervortun, reisten Anfang August zu Gesprächen nach Kairo und trafen dort ranghohe Militärs und Politiker. Bei einer Pressekonferenz vor der Abreise bezogen sie eine ganz vernünftige Position: Sie traten für Versöhnung und politischen Dialog ein und forderten die Freilassung von Mursi und den restlichen Führern der Moslembruderschaft. Andernfalls drohte McCain mit der Einstellung der US-Militärhilfe für Ägypten. Kaum waren sie nach Washington zurückgekehrt, bekamen beide Besuch von Vertretern des mächtigen American Israeli Public Affairs Committee (AIPAC). Daraufhin ließ die Kritik McCains und Grahams am Militärputsch und ihr Eintreten für die Wiederherstellung der ägyptischen Demokratie schlagartig nach. Hinsichtlich Saudi-Arabiens und der anderen arabischen Golfstaaten sehen die USA keinen Widerspruch zwischen ihrer Militärallianz mit Israel und ihrer Unterstützung für die Monarchien in der Region. Offenbar können Israel und die Zionisten damit ganz gut leben.

SB: Die Türkei, die von der muslimisch-konservativen AK-Partei Recep Tayyip Erdogans regiert wird, hat sich eindeutig gegen die Machtübernahme der Militärs in Ägypten positioniert. Als Mitgliedstaat der NATO spielt das Land eine enorm wichtige Rolle bei der Bewältigung der Syrien-Krise durch den Westen. Sind nicht negative Auswirkungen auf die Allianz zwischen Washington und Ankara durch die unterschiedliche Bewertung der Vorgänge in Ägypten zu erwarten?

Eingang der Bibliothek der West Chester University mit klassischem Portikus - Foto: 2011 by Kyle Wagaman, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 unportet via Wikimedia Commons

Bibliothek der West Chester University
Foto: 2011 by Kyle Wagaman, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 unportet via Wikimedia Commons

LD: Die Türkei bildet in der Ägypten-Frage die Ausnahme unter den Verbündeten der USA in der Region. Mit dem wirtschaftlichen Erstarken der Türkei in den letzten Jahren hat der Einfluß Washingtons auf Ankara nachgelassen. Die Türkei hat aufgrund der eigenen politischen Interessen eine eigenständige Position in der Ägypten-Frage bezogen. Was Syrien betrifft machen sich die Türken große Sorgen, daß die syrischen Kurden sich gegenüber Damaskus autonom erklären könnten und dies ähnliche Bestrebungen in der Türkei verstärken würde. Schließlich könnten die Kurden in der Türkei und Syrien versuchen, sich den Kurden im Nordirak anzuschließen, die bereits weitreichende Autonomie von Bagdad haben, und einen gemeinsamen Staat ausrufen. Die türkische Regierung befürchtet, daß das Chaos in Syrien auf die Türkei übergreifen könnte. Premierminister Erdogan hat Baschar Al Assad recht schnell zur Persona non grata erklärt, angeblich, weil der syrische Präsident zu Anfang der Krise nicht auf seinen Rat hören wollte, sondern um Unterstützung bei den Iranern warb.

Die Türkei hat sich unter der AKP wirtschaftlich und diplomatisch gut entwickelt. Auch der Islam hat dort an Bedeutung gewonnen. Ankara hat größeres Gewicht und mehr Handlungsspielraum als früher bei den Generälen, ist aber in gewisser Weise isoliert. Die Türkei ist zwar NATO-Mitglied, hat dort aber keine wirklichen Freunde. Hinsichtlich Ägyptens hegte die AKP die Hoffnung, daß sich die Moslembruderschaft am Nil, nachdem sie durch demokratische Wahlen an die Macht gelangt war, zu einer modernen, parlamentarischen Partei entwickeln würde. Schließlich sehen sich sowohl die türkische AKP als auch die Moslembruderschaft in Ägypten als politische Heimat oder Vertretrerin der sunnitischen Mehrheit im eigenen Land. Daher erhoffte sich die AKP in Ägypten eine ähnliche Entwicklung wie vor zwanzig Jahren in der Türkei von der Militärdiktatur hin zu einer Demokratie unter islamischen Vorzeichen.

SB: Dazu könnte es in Ägypten immer noch kommen. Auch in der Türkei wurde 1997 die erste gewählte Islamistenregierung von Mehmettin Erbakan nach nur einem Jahr im Amt von den türkischen Militärs zum Rücktritt gezwungen. Erst nach einigen Reformen innerhalb der Partei hin zur heutigen AKP gelang es den muslimischen Konservativen am Bosporus, eine stabile und von allen gesellschaftlichen Kräften akzeptierte Regierung zu bilden.

LD: Natürlich könnte es dazu später in Ägypten kommen. Doch angesichts der Massaker an Demonstranten, einer massiven Verhaftungswelle und des angedrohten Verbots der Moslembruderschaft sieht es momentan nicht danach aus. In Ägypten gibt es eine Wehrpflicht, und das bedeutet, daß die Anhänger der Moslembruderschaft bei den einfachen Soldaten in etwa so groß sein dürften wie bei der Bevölkerung im allgemeinen. Das erklärt, warum das brutale Vorgehen gegen die Pro-Mursi-Demonstranten auf der Straße hauptsächlich von der Sonderpolizei, von Pro-Mubarak-Milizionären und von bezahlten Schlägertrupps aus den Armenvierteln ausgeht. Die türkischen Generäle haben für Streiks und Proteste eine andere Taktik entwickelt. Kam es zu Unruhen in den Städten, wurden Soldaten vom Land herangezogen, um die Demonstranten zusammenzuknüppeln. Geschahen Proteste auf dem Land, so bediente man sich der Soldaten aus den Städten, um im ländlichen Gebiet für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

SB: Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Syrien und der vor zwei Jahren in Libyen gefragt: Wie stark berücksichtigen die USA die Interessen ihrer wichtigsten NATO-Partner wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und der Türkei bei der "Bewältigung internationaler Krisen"?

LD: Decken sich die Interessen des jeweiligen NATO-Partners mit dem von den Entscheidungsträgern in Washington anvisierten Kurs, dann läuft die Zusammenarbeit reibungslos. Gibt es unterschiedliche Einschätzungen der notwendigen Handlungsparameter, dann entstehen Probleme. Die USA sind auf jeden Fall stets bemüht, Meinungsunterschiede und Schwierigkeiten unter ihren Verbündeten zu schlichten. So hat sich Washington nach dem israelischen Überfall 2010 auf die türkische Fähre Mavi Marmara für eine Versöhnung zwischen Tel Aviv und Ankara eingesetzt. Im Falle Libyens haßten die politischen Führungen aller NATO-Staaten Muammar Gaddhafi - auch nachdem er auf seine Massenvernichtungswaffen verzichtete, sein Land für ausländische Investitionen öffnete und die Unterstützung für alle möglichen Befreiungsorganisationen im Ausland einstellte. Als es in Benghazi vor zwei Jahren zum Aufstand kam und sich die Gelegenheit plötzlich bot, Gaddhafi loszuwerden, haben die westlichen Staaten sie ohne zu zögern ergriffen. Damals war man sich dermaßen einig, daß man die Risiken des Einsatzes nicht bis zum Ende durchrechnete. Aber das tun die westlichen Politiker ohnehin nie, also was soll's.

SB: Bedenkt man den heftigen Streit in den USA im vergangenen Jahr nach dem Überfall auf das amerikanische Konsulat in Benghazi und dem Tod von Botschafter Christopher Stevens und drei seiner Mitarbeiter, dann könnte man den Eindruck gewinnen, die US-Rüstungslobby favorisiere Instabilität im Nahen Osten und unterstütze deshalb stets Kriegsfalken wie Hillary Clinton und David Petraeus. Bekanntlich stellte sich nach deren Ausscheiden als Außenministerin bzw. CIA-Chef heraus, daß sie sich innerhalb der Obama-Administration für eine weitaus stärkere militärische Unterstützung der syrischen Rebellen durch die USA eingesetzt hatten und mit entsprechenden Plänen letztlich am Veto des Präsidenten gescheitert waren. Wie bewerten Sie die konträren Standpunkte in höchsten Regierungskreisen?

Prof. Davidson macht es sich gemütlich auf dem Sofa - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

LD: Ich denke, die Dinge gestalten sich viel komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Die US-Rüstungsindustrie gehört zu den stärksten Lobbygruppen in Washington und spielt bei der Formulierung amerikanischer Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik zweifelsohne eine gewichtige Rolle. Ich habe Probleme mit der ständigen Einteilung von Regierungsmitgliedern und Kongreßpolitikern in Falken und Tauben. In den höchsten Entscheidungsgremien Washingtons trifft man keine Tauben an. Die Meinungsunterschiede über den richtigen Kurs sind in der Regel taktischer, nicht ethischer Natur. Niemand ist prinzipiell gegen die Anwendung militärischer Gewalt als letztes Mittel der Politik. Man stellt sich lediglich die Frage, ob sie zum gewünschten Ergebnis führt und die eigene politische Karriere fördert, statt sie zu hemmen. Alle befürworten Rüstungshilfe für befreundete Staaten, selbst wenn es sich um Autokratien handelt. Die sogenannten Idealisten meinen, man sollte auch mit Nicht-Regierungsorganisationen zusammenarbeiten und Demokratie fördern, während die Realisten auf bewährte Beziehungen zu befreundeten Offizierkorps setzen, um diesen gegebenenfalls freie Hand zu lassen. Die derzeitige Politik der USA in Ägypten ist ein gutes Beispiel für letzteres.

SB: Doch im Fall Benghazis ging es nicht um ein offenes Rüstungsgeschäft mit einem befreundeten Regime, um es zu stabilisieren, sondern um illegale, verdeckte Waffenlieferungen aus Libyen, um Syrien zu destabilisieren.

LD: Beim Sturz Gaddhafis in Libyen haben die USA die Kataris gebeten, die Verteilung der Waffen an die Aufständischen zu übernehmen, weil sie die verschiedenen Gruppen kannten, die Amerikaner dagegen nicht. Also stellten die USA bzw. die CIA die Waffen für die Gaddhafi-Gegner zur Verfügung, und Katar organisierte die Verteilung. Aufgrund fehlender Aufsicht und der chaotischen Umstände in Libyen nach dem Sturz Gaddhafis tauchten die amerikanischen Waffen später an verschiedenen Orten in Nordafrika in den Händen Al-Kaida-naher Gruppen, wie zum Beispiel in Mali, auf. Darüber hinaus reisten libysche Kämpfer nach verrichteter Tat im eigenen Land nach Syrien, um auch dort für politische Veränderung zu sorgen.

SB: Sie hatten auch erbeutete Waffen aus den Beständen der besiegten Gaddhafi-Armee im Gepäck.

LD: In dem Durcheinander in Libyen nach dem Regimewechsel wurden die Waffenlager geplündert. Ich denke, daß die Geschwindigkeit, mit der Libyen nach dem Sturz Gaddhafis vor die Hunde ging, die Obama-Regierung aufgeschreckt hat. Das erklärt meines Erachtens die Zurückhaltung Washingtons in der Syrien-Krise. Obama weigert sich hartnäckig, der Forderung von Hardlinern wie beispielsweise John McCain nachzukommen, Raketenangriffe auf die syrischen Militärinstallationen durchführen zu lassen, um die Rebellen im Kampf gegen die Regierungstruppen zu unterstützen. Gleichwohl hindert die Obama-Regierung Saudi-Arabien und die anderen arabischen Golfstaaten nicht daran, die Aufständischen in Syrien umfangreich mit Waffen zu beliefern, die, wie alle Welt weiß, ursprünglich aus den USA kommen. Also gibt es keine direkte US-Militärhilfe für die Rebellen in Syrien, wenngleich niemand weiß, welche verdeckten Operationen die CIA, die DIA und die anderen amerikanischen Geheimdienste dort durchführen. In der US-Syrienpolitik herrscht ein völliges Wirrwarr. Ich glaube nicht, daß das Ganze von oben diktiert wird. Auf alle Fälle scheut das Weiße Haus davor zurück, direkt in Syrien zu intervenieren.

Natürlich stellt sich die Frage, wie es dort weitergehen soll. Wenn die Dinge weiterlaufen wie zuletzt, dann wird Assad den Bürgerkrieg gewinnen. Es mag vielleicht sechs bis zwölf Monate dauern und das Land dürfte völlig am Boden zerstört sein, aber seine Truppen werden sich durchsetzen und die Rebellen bezwingen. Die Zentralregierung in Damaskus wird die Kontrolle über den größten Teil des Landes wieder erlangen und die Gefahr eines Umsturzes beseitigen. Das heißt aber nicht, daß es nicht auf Jahre hinaus immer wieder zu blutigen Anschlägen seitens der Al-Nusra-Front und ähnlicher Gruppen kommen wird.

SB: Ähnlich der Situation im Irak seit dem Abzug der US-Truppen Ende 2011 unter der Führung von Premierminister Nuri Al-Maliki.

LD: Genau. So in etwa muß man sich das vorstellen. Die Gefahr eines Regimewechsels wird nicht bestehen. Ich denke, die Amerikaner und die Israelis sind spät zu der Erkenntnis gelangt, daß sie besser mit Assad in Damaskus als mit einer Regierung aus sunnitischen Fundamentalisten leben können, nach dem Motto: Besser der Teufel, den man kennt.

Vorderansicht der 1741 gebauten, am Unabhängigkeitsplatz von Philadelphia, gegenüber dem Liberty Bell Pavilion liegenden Independence Hall - Foto: 2006 by Rdsmith4, freigegeben als CC-BY-SA-.5 via Wikimedia Commons

Die Independence Hall zu Philadelphia, ursprünglich das State House von Pennsylvania, wo am 4. Juli 1776 die Delegierten des Zweiten Kontinentalkongresses die von Thomas Jefferson verfaßte Unabhängigkeitserklärung annahmen und damit die Vereinigten Staaten von Amerika gründeten.
Foto: 2006 by Rdsmith4, freigegeben als CC-BY-SA-2.5 via Wikimedia Commons

SB: Gilt dies auch nach dem jüngsten Giftgasangriff in Damaskus (zwei Tage vor dem Interview, am 21. August, im Stadtteil Ghouta - Anmerkung der SB-Redaktion), der zahlreiche Todesopfer gefordert hat?

LD: Aller Wahrscheinlichkeit nach haben die Rebellen den Angriff selbst inszeniert.

SB: Um eine Militärintervention der USA herbeizuzwingen?

LD: Ich denke schon. Das Assad-Regime mag brutal sein, aber seine Führung ist nicht so verrückt, praktisch am selben Tag, an dem die UN-Waffeninspekteure in Damaskus erwartet werden, einen massiven Giftgas-Angriff in einem Vorort der Stadt anzuordnen. Es gibt bereits Meldungen, wie zutreffend sie auch immer sein mögen, daß die Bilder vom Massaker schon einen Tag vor dem eigentlichen Geschehen auf der Website von Al Jazeera, der dem Emir von Katar gehört, zu sehen waren. Meiner Einschätzung nach haben wir es entweder mit einer fingierten Geschichte oder einem echten Angriff zu tun, den die Rebellen selbst durchgeführt haben, um ihn der Regierung in die Schuhe schieben zu können. Ich will nicht bestreiten, daß die syrische Armeeführung nicht rücksichtslos genug ist, um einen solchen Angriff zu befehlen, aber ich glaube nicht, daß sie so dumm ist, um es in dieser Situation zu tun. Allerdings gibt es nun ein neues Problem. Wir wissen, woher die Regierungstruppen ihre Chemiewaffen bekommen - nämlich aus eigenen Laboren, die unter staatlicher Kontrolle stehen. Wenn aber die Rebellen über illegale chemische Kampfstoffe verfügen, woher haben sie sie? Wer beliefert sie damit?

SB: Möglich ist, daß die Chemiewaffen der Rebellen aus Libyen, aus den Altbeständen Muammar Gaddhafis stammen.

LD: Da die großen Medien des Westens gesteuert sind, ist auf deren Berichterstattung zum Thema Chemiewaffen in Syrien kein Verlaß. Das Massaker erinnert mich an ähnliche Greueltaten während des Krieges in den neunziger Jahren in Bosnien-Herzegowina, bei denen man häufig nicht wirklich wußte, wer der Urheber war.

SB: Jedenfalls wurden sie von Medien und Politik im Westen allesamt den Serben, insbesondere Slobodan Milosevic, Radovan Karadic und Ratko Mladic, angelastet.

LD: Stimmt, wenngleich man nicht ausschließen kann, daß diese Herren in der Tat dafür verantwortlich waren.

SB: Bei einigen solcher Vorfälle, wie zum Beispiel beim Bombeneinschlag auf einem belebten Markt mitten in Sarajevo, besteht bis heute der Verdacht, daß sie von den bosnischen Moslems verübt wurden, um der NATO einen Grund zu geben, Luftangriffe auf die serbischen Stellungen zu fliegen.

LD: Jedenfalls hat mir ein Bekannter, der damals als UN-Blauhelmsoldat in Bosnien stationiert war, erklärt, daß alle Kriegsparteien dort willens waren, die eigenen Leute zu massakrieren, wenn es der Propaganda gedient hätte.

SB: Rußland unterstützt Baschar Al Assad nicht zuletzt deshalb, weil es befürchtet, daß die sunnitischen Dschihadisten, sollten sie die Regierung in Syrien erfolgreich stürzen, als nächstes im Kaukasus und in Südrußland agieren könnten. Was können die USA tun, um Rußland entgegenzukommen und seine berechtigten Sorgen diesbezüglich ernstzunehmen, oder ist Washington, wie viele Beobachter der Geopolitik glauben, an einer Schwächung bis hin zur Aufsplittung der Russischen Föderation interessiert?

LD: Vor zwei Monaten hätte ich noch gesagt, daß Washington und Moskau in der Terrorbekämpfung ein gemeinsames Interesse hätten und daß die USA bereit wären, die Sorgen Rußlands um seine südliche Flanke mit einer anwachsenden muslimischen Bevölkerung zu berücksichtigen. Die Affäre um den ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden, dem Rußland politisches Asyl gewährte, hat die amerikanisch-russischen Beziehungen jedoch getrübt. Ich bin mir nicht im klaren darüber, wie sich die Dinge entwickeln werden. Erschwerend kommt das schlechte persönliche Verhältnis der beiden Staatsoberhäupter hinzu. Schaute man sich die Bilder vom G20-Gipfeltreffen in St. Petersburg im Fernsehen an, konnte man den Eindruck bekommen, daß zwischen Barack Obama und Wladimir Putin eine regelrechte Animosität herrscht.

Für mich steht dennoch fest, daß die USA in Syrien nicht direkt intervenieren, sondern lediglich indirekt mit Hilfe der arabischen Golfstaaten und deren sunnitischen Freiwilligen den militärischen Druck auf Assad aufrechterhalten werden. Israel scheint seine Grenze zu Syrien sichern zu können und sich damit zu begnügen, hin und wieder Luftangriffe auf bestimmte, aus Rußland oder dem Iran gelieferte Waffensysteme durchzuführen, damit sie nicht in die Hände der schiitischen Hisb Allah im Libanon fallen. Insgesamt scheint die Ansicht in den höchsten Entscheidungsgremien des Westens vorzuherrschen, daß der Krieg in Syrien, solange nicht die Dschihadisten die Macht in Damaskus übernehmen, einfach weitergehen kann.

SB: Das ist ein ziemlich zynischer Standpunkt, der an das Verhalten der USA während des Iran-Irak-Kriegs erinnert.

LD: In solchen Angelegenheiten gibt es keinen Platz für Moral. Aus Sicht des Westens läuft das Ganze prima. Das Assad-Regime wird geschwächt, während sich Irans Revolutionsgarden und die Hisb-Allah-Miliz in Syrien blutige Gefechte mit den sunnitischen Extremisten liefern, und sie damit gebunden sind.

Die aufgehängte Freiheitsglocke in dem ihr gewidmeten Liberty Bell Pavilion am Independence Square im Zentrum von Philadelphia - Foto: 2009 by Ben Schumin, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 unportet via Wikimedia Commons

Die berühmte Liberty Bell, die geläutet wurde, als am 8. Juli 1776 auf dem Independence Square in Philadelphia die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung zum erstem Mal öffentlich verlesen wurde.
Foto: 2009 by Ben Schumin, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 unportet via Wikimedia Commons

SB: Sie haben vorhin die kontraproduktive Haltung der USA gegenüber dem Iran erwähnt. Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, daß Washington und Teheran nach der Wahl des gemäßigten Hassan Rohani zum neuen iranischen Präsidenten das Kriegsbeil begraben und ihre Beziehungen normalisieren werden? Schließlich könnte ein Rapprochement zwischen den USA und dem Iran dazu beitragen, den sich zuspitzenden Konflikt im Nahen Osten zwischen Sunniten und Schiiten beizulegen.

LD: Ich glaube nicht, daß es dazu kommen wird, und zwar aus einem einfachen Grund: weil die Zionisten und die derzeitige Führung in Israel das nicht wollen. Ich denke schon, daß Obama gern einen Deal mit den Iranern machen würde, glaube aber nicht, daß er mächtig oder Manns genug ist, sich gegen besagte Kräfte durchzusetzen. Im Kongreß wird die Kriegstrommel weiter gerührt, aber solange Obama im Weißen Haus sitzt, wird es keinen offenen Konflikt mit dem Iran geben. Ihrerseits werden sich die Iraner hüten, den USA dazu einen Anlaß zu geben.

SB: Sie glauben vermutlich auch nicht, daß es einen Durchbruch im Atomstreit mit dem Iran geben wird?

LD: Stellen wir zunächst eines klar: Es gibt kein iranisches Atomwaffenprogramm. Das ist nicht einfach meine persönliche Einschätzung, sondern das offizielle Urteil aller US-Geheimdienste seit 2007.

SB: Das sieht Israels Premierminister Benjamin Netanjahu offenbar anders.

LD: Er hält am Mythos von der iranischen Bedrohung fest, genauso wie es die Politiker im US-Kongreß tun. In dem Zusammenhang kam es vor kurzem auf dem Kapitol zu einem denkwürdigen Ereignis, über das viel zu wenig in den Medien berichtet wurde. Als im vergangenen März James Clapper, der Director of National Intelligence, und CIA-Chef John Brennan auf einer Anhörung vor dem Kongreß zu Protokoll gaben, daß der Iran nicht den Besitz von Atomwaffen anstrebe, erklärte Mike Rogers, der republikanische Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus, er glaube ihnen das nicht. Damit hat er sich angemaßt, es besser zu wissen als alle 17 US-Geheimdienste zusammen. Da hätten ihn die versammelten Journalisten fragen müssen, woher er das so genau wisse. Davor scheuen sich die Medien jedoch, weil er seine Informationen schlicht aus einem Briefing-Buch des AIPAC nahm.

Die Iraner streben zwar nicht den Besitz einer Atombombe, aber die Beherrschung des kompletten nuklearen Kreislaufs an, was ihnen nach dem Nicht-Verbreitungsabkommen auch zusteht. Für sie wäre das Abschreckung genug. Erreichen sie dieses Ziel, haben sie alles, was sie brauchen, um innerhalb kürzester Zeit die Atombombe bauen zu können. Nicht umsonst arbeiten sie fleißig an der Verbesserung ihrer ballistischen Raketen, die als Trägersystem erster Wahl für Atomwaffen gelten.

SB: Zwei Jahre nach dem Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings hat sich das damit verbundene Versprechen nicht erfüllt. Der Putsch des Militärs gegen Mohammed Mursi, den ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens, die politische Instabilität in Tunesien, das Chaos in Libyen, der Bürgerkrieg in Syrien - all das wirft einen dunklen Schatten auf eine Entwicklung, die so hoffnungsvoll begonnen hatte. Was kann der Westen tun, um den gemäßigten Islam in den Ländern des Nahen Ostens zu fördern? Oder wäre das Ausland besser beraten, sich gänzlich herauszuhalten und es den Reformern in der Region selbst zu überlassen, Bürgerrechte und Demokratie durchzusetzen?

LD: Man sollte es den Arabern und Muslimen auf jeden Fall selbst überlassen, ihren eigenen Weg in die Moderne zu finden. Mischt sich von außen niemand ein, sind es die demokratischen Reformer, die bei Wahlen den größten Zuspruch erhalten. Bezeichnenderweise scheint der Westen sich gerade vor diesen Kräften am meisten zu fürchten. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum die Obama-Regierung nicht mit der Mursis hätte weiter zusammenarbeiten können. Die USA unterhalten beste Beziehungen zu einigen islamisch-geprägten Regierungen - siehe Saudi-Arabien, Kuwait und Bahrain. Wenn es um religiöse Engstirnigkeit und die Vorenthaltung von Bürgerrechten geht, sind die Saudis vermutlich die Schlimmsten. Wenn die USA es mit der Förderung der Demokratie ernst meinten, denn sollten sie sich erstens nicht in die inneren Angelegenheiten dieser Staaten einmischen, und es zweitens akzeptieren, wenn Parteien, die vielleicht etwas Washington-kritisch sind, freie und faire Wahlen gewinnen.

SB: Während häufig auf die religiös-konfessionellen Aspekte der politischen Instabilität in Ägypten und des Bürgerkrieges in Syrien hingewiesen wird, wird in der Regel übersehen, daß die Krisen in beiden Ländern ihren Ursprung im Klimawandel und Ressourcenschwund haben. Syrien leidet seit Jahren unter einer schweren Dürre, die eine große Landflucht in die Städte ausgelöst und eine hohe Arbeitslosigkeit mit vielen unzufriedenen, jungen Männern verursacht hat, während Ägypten, das große Mengen Getreide importieren muß, um Millionen Arme durchzubringen, in der Klemme zwischen nachlassenden eigenen Ölreserven und steigenden Lebensmittelpreisen auf dem Weltmarkt steckt. Wäre es angesichts des globalen Ausmaßes der hier angerissenen Problematik nicht an der Zeit, den Ansatz, den die USA mit ihrem Streben nach totaler militärischer Überlegenheit verfolgen, als zum Scheitern verurteilt zu erkennen? Westliche Militärexperten beschwören in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit bereits eine Ära der dauernden Aufstandsbekämpfung im Rahmen sogenannter "Kriege niedriger Intensität".

Vorderansicht des zweistöckigen, mit rotem Backstein gebauten Butler House - Foto: 2010 by Smallbones, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

Das 1845 gebaute, 1980 unter Denkmalschutz gestellte Butler House in West Chester. Hier ist Smedley Butler, der hochdekorierte General der US-Marineinfanterie, der zum Sozialisten und energischen Kriegsgegner wurde, 1881 zur Welt gekommen und aufgewachsen.
Foto: 2010 by Smallbones, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

LD: Gerade, weil sie keine Antwort auf Probleme wie zum Beispiel den immer akuter werdenden Wassermangel im Jemen haben, greifen meines Erachtens westliche Militärs und Sicherheitspolitiker zu den von Ihnen genannten Konzepten zurück. Eine militärische Lösung für Situationen, die militärisch nicht gelöst werden können, dokumentiert absolute Hilflosigkeit. Die moderne Geschichte des Nahen Ostens ist von verschiedenen Regierungsformen - sozialistischen, monarchistischen, parlamentarisch-republikanischen und militär-autoritären - gekennzeichnet, die ihren Staatsangehörigen Versprechungen gemacht haben, die nicht eingelöst wurden. Deswegen verzeichnet in den letzten Jahren die Moslembruderschaft in den meisten Ländern der Region einen enormen Zulauf.

Die Islamisten sind diejenigen, die in den Armenvierteln Kliniken betreiben, Sozialhilfe leisten, Schulunterricht organisieren et cetera. Damit haben sie sich einen guten Ruf erworben. Auch wenn man selbst nicht besonders religiös ist, wird man bei Wahlen für sie stimmen, denn sie kümmern sich um den kleinen Mann und seine Belange. Die Moslembruderschaft kann die großen makroökonomischen und umweltpolitischen Ressourcenprobleme nur lindern, jedoch nicht wirklich lösen -jedenfalls nicht allein. Die Mullahs im Iran zum Beispiel haben nach der islamischen Revolution eine Umverteilung von oben nach unten vorgenommen, elektrischen Strom in die ländlichen Gebiete gebracht und dafür gesorgt, daß alle sauberes Wasser zum Trinken bekommen. Ohne diese Errungenschaften in Abrede stellen zu wollen, haben sie dem Land dennoch keinen Wohlstand gebracht.

SB: Der Iran verfügt heute über eine Bevölkerung mit gut ausgebildeten jungen Männern und Frauen, die, würden die vom Westen verhängten Sanktionen sie nicht daran hindern, das Land durchaus gesellschaftlich und wirtschaftlich voranbringen könnten.

LD: Da haben Sie vollkommen recht. Dennoch glaube ich, daß in den Ländern dieser Region mittelfristig politische Instabilität vorherrschen wird. Niemand weiß, was man dagegen unternehmen kann oder wie am besten damit umzugehen wäre. Das Letzte, was die Amerikaner und die Israelis sehen wollen, ist ein Export des iranischen Modells. Vielleicht halten sie deshalb am Sanktionsregime fest, weil sie nicht wollen, daß der Iran sein wahres Potential erreicht und allen seinen Bürgern einen gewissen Wohlstand beschert, was eine enorme Ausstrahlung auf die Nachbarländer hätte. Denn letztlich ist es weniger die Demokratie als vielmehr der wirtschaftliche Wohlstand für sich und ihre Kinder, den die Menschen wollen.

SB: Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten hat eine lange und verwickelte Geschichte. Sieht man einmal von Glaubensstreitigkeiten ab, scheint eine Berücksichtigung der sozialen Frage im Schiitentum zu existieren, die im Sunnitentum fehlt. Ist das vielleicht ein Grund, warum die sunnitischen Monarchien den Iran mit soviel Mißtrauen begegnen, und könnte die konfessionelle Kluft zum unüberbrückbaren Hindernis werden, das das iranische Modell für die arabischen Nachbarländer nicht exportfähig macht?

LD: Soweit würde ich nicht gehen. Wenn man die Sanktionen aufheben würde, wäre der Iran in der Lage, sein wirtschaftliches Potential voll zu entfalten. Das würde dann auch die Funktionstüchtigkeit einer islamischen Regierungsform demonstrieren. Davon würden, ungeachtet des konfessionellen Unterschieds, auch die Moslembrüder in Ägypten profitieren.

SB: Damit ließe sich auch die Verbesserung der ägyptisch-iranischen Beziehungen erklären, die Mursi während seiner kurzen Präsidentenschaft angestrebt hat bzw. in Ansätzen bereits realisieren konnte.

LD: Ich denke, daß die Schiiten des Irans und die Sunniten aus Ägypten oder anderswoher auf der Arbeitsebene gut miteinander auskommen können. Die Kluft zwischen Sunniten und Schiiten ist historisch bedingt und existiert seit über tausend Jahren. Deshalb wird ihre Überwindung entsprechend dauern. Das ist wie mit den Iren und den Engländern. Durch Jahrhunderte der Unterdrückung lernten die Iren die Engländer hassen. Nun ist Irland seit fast 100 Jahren unabhängig, und die alten Ressentiments sind inzwischen fast ausgestorben. Man wünscht sich eine ähnliche Entwicklung zwischen den Sunniten und Schiiten.

Traditionell werden die Schiiten von den Sunniten als Ketzer und Unruhestifter betrachtet, denen man nicht trauen kann. Deshalb sind die Schiiten, die in den meisten Ländern des Nahen Ostens gegenüber den Sunniten die Minderheitsbevölkerung bilden, häufig Opfer von Unterdrückung. Die Vorurteile auf beiden Seiten sitzen tief und werden häufig von Politikern, Geistlichen und ausländischen Mächten benutzt, um die Konfessionen gegeneinander auszuspielen. Doch in einigen Ländern wie Saddam Husseins Irak und Baschar Al Assads Syrien waren die religiösen Unterschiede früher so bedeutunglos geworden, daß es gemischte sunnitisch-schiitische Ehen und Wohnviertel gab. Doch in Zeiten des Krieges fallen die Menschen in die alten Feindschaften zurück. Heute leben die Sunniten und Schiiten des Iraks fast gänzlich voneinander getrennt. In Syrien richtet der Bürgerkrieg den säkularen Staat zugrunde. Nur wenn Frieden herrscht, hat man überhaupt die Chance, die religiösen Vorurteile zu überwinden und aus der Welt zu schaffen. Daher können wir nur hoffen, daß das Blutvergießen in Syrien und die schrecklichen Bombenanschläge im Irak bald ein Ende haben werden.

SB: Danke sehr für das Gespräch, Professor Davidson.

Blick von oben auf die Hauptstraße der von dreistöckigen Backsteinbauten geprägten Kleinstadt West Chester - Foto: 2008 by Zoewscott, freigegen als public domain via Wikimedia Commons

Zentrum von West Chester, Pennsylvania
Foto: 2008 by Zoewscott, freigegen als public domain via Wikimedia Commons

18. September 2013