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INTERVIEW/193: Obamas Amerika - Unser Kampf, Remi Kanazi im Gespräch (SB)


Interview mit Remi Kanazi am 15. August 2013 in New York



Der Dichter und Hip-Hopper Remi Kanazi ist 1981 in den USA als Sohn palästinensischer Einwanderer auf die Welt gekommen. Er wuchs im Westen des Bundesstaates Massachusetts auf, wo er quasi als einziger Araber eine katholische Schule besuchte. Die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 in Verbindung mit der von ihnen ausgelösten anti-muslimischen Hysterie in den USA haben Kanazi dazu bewegt, erste politische Kommentare zu veröffentlichen. Nach einem Besuch der Broadway-Produktion der Show Def Poetry Jam hat sich Kanazi 2004 erstmals dem gesprochenem Wort als Kunstform gewidmet. 2008 gab er "Poets for Palestine", eine Sammlung von Werken bekannter palästinensischer sowie politisch-engagierter amerikanischer Dichter, Hip-Hopper und Künstler, heraus. Das Buch enthielt auch einige Texte von ihm selbst.

2011 erschien Kanazis erster Gedichtband (samt CD) unter dem Titel "Poetic Injustice - Writings on Resistance and Palestine". Er wurde von den Kritikern viel gelobt. Zu Kanazis Vorbildern gehören der legendäre Jazz- und Blues-Rapper Gil Scott-Heron und die palästinensisch-amerikanische Dichterin Suheir Hammad. Kanazi ist Mitglied des Organisationskomitees der U. S. Campaign for the Academic and Cultural Boykott of Israel. Als politischer Aktivist ist er viel unterwegs und hat als Künstler bereits Tourneen in den USA, in Großbritannien und Irland sowie im Nahen Osten absolviert. Am 15. August sprach der Schattenblick mit Kanazi, der seit einigen Jahren in Brooklyn lebt, im Bryant Park, im Herzen von Manhattan.

Porträtfoto von Remi Kanazi - Foto: © 2013 by Schattenblick

Remi Kanazi
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Kanazi, könnten Sie uns etwas über Ihre eigene Familiengeschichte erzählen und darüber, wie sie die der Palästinenser widerspiegelt?

Remi Kanazi: 1948 wurden etwa 750.000 Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben und mehr als 450 palästinensische Dörfer zerstört. Ich bin der Sohn und Enkel von Opfern dieser ethnischen Säuberung, welche die Palästinenser als die Nakba, das heißt die Katastrophe, bezeichnen. Mütterlicherseits kommt meine Familie aus Jaffa, väterlicherseits aus Haifa - beides Städte, die heute zum Staat Israel gehören. Meine Eltern und ihre Geschwister sind damals über die Küstenstraße in den nördlich gelegenen Libanon geflohen. Vor mehr als 30 Jahren sind sie von dort in die USA emigriert. Sie haben die Vertreibung am eigenen Leib erlebt und dürfen bis heute nicht in ihre alte Heimat zurückkehren.

SB: Wie gut sind Ihre Verbindungen zu der eigenen Verwandtschaft, die über mehrere Länder verstreut sein dürfte, und sind Sie selbst jemals in Israel bzw. den besetzten palästinensischen Gebieten Westjordanland und Gazastreifen gewesen?

RK: Ich bin mehrmals sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten gewesen, habe dort Vorträge gehalten und bin als Dichter und Hip-Hopper aufgetreten.

SB: Haben Sie noch Verwandte dort?

RK: Dritten oder vierten Grades vielleicht, aber eigentlich nein. Alle meine Verwandten leben heute entweder im Libanon, in anderen Teilen der arabischen Welt oder in den USA.

SB: Woher kommt Ihr Interesse an der Politik? Im Libanon gelten die Palästinenser heute noch als Flüchtlinge, genießen nicht volle Bürgerrechte, bekommen nur schwer eine Arbeitserlaubnis et cetera. Sie dagegen sind Bürger der USA, sind voll integriert und hätten sich der eigenen Karriere zu- und vom Schicksal des palästinensischen Volkes einfach abwenden können.

RK: Die Frage der persönlichen Identität spielte eine Rolle. Meine Eltern und Großeltern haben historische Ereignisse durchlitten. Es geht für mich hier weniger um nationale Zugehörigkeit oder die Schaffung eines palästinensischen Staates, sondern vielmehr um eine schwere Ungerechtigkeit, die bis heute nicht wiedergutgemacht ist. Dem palästinensischen Volk ist etwas widerfahren, das keiner ethnischen oder religiösen Gruppe auf der Welt angetan werden dürfte. Kein Volk sollte unter einem Besatzungs- oder Apartheid-Regime leben müssen. Kein Volk sollte aus seiner angestammten Heimat vertrieben werden und mitansehen müssen, wie die eigenen Häuser und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht werden. Ob es nun die Stop-and-Frisk-Praktiken der New Yorker Polizei, die gigantische Gefängnisindustrie der USA, die massenhafte Abschiebung undokumentierter Einwanderer durch die Regierung Barack Obama, die Kriege im Irak und in Afghanistan oder die CIA-Drohenangriffe in Pakistan, Somalia und im Jemen sind, was sie alle verbindet, ist der Kampf gegen Ungerechtigkeit. Wenngleich meine palästinensische Herkunft mir zunächst die Augen für den Nahost-Konflikt öffnete, so entwickelte sich mein Interesse an der Politik bis hin zur Ablehnung jeder Form der Unterdrückung, des Kolonialismus und des Militarismus unabhängig davon, ob es der europäische Raub des Landes der Ureinwohner auf dem nordamerikanischen Kontinent oder das Apartheid-System Israels ist, unter dem die israelischen Bürger arabischer Herkunft und die Palästinenser in den besetzten Gebieten leben müssen.

SB: Würden sie als Dichter und Hip-Hopper der These zustimmen, daß ein Künstler öffentlich eine Position gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit beziehen sollte und daß er kneift, wenn er dies nicht tut?

RK: Ich denke nicht, daß jeder Künstler in seinen Werken zwingend politische Fragen behandeln muß. Ich glaube aber schon, daß sich jeder Mensch, ob Künstler, Arzt, Ingenieur, Maurer, Student oder was auch immer, gegen jede Form von Unterdrückung auflehnen sollte. Ich erinnere an das, was der Historiker Howard Zinn einmal geschrieben hat: Die Millionen einfacher Menschen wie Sie und ich müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen und für politischen Fortschritt sorgen; wir können es nicht den Politikern und Wirtschaftsbossen überlassen, denn sie werden sich nur um ihr eigenes Wohl kümmern, wie sie es seit jeher tun.

SB: Wie würden Sie die Lage der Palästinensisch-Amerikaner beschreiben und wie ist ihr Verhältnis zu den anderen Arabern, der muslimischen Gemeinde und der restlichen Gesellschaft in den USA?

RK: Die palästinensische Gemeinde in den USA ist kein Monolith. Sie spricht nicht mit einer Stimme.

SB: Wie viele Palästinenser oder Bürger palästinensischer Herkunft gibt es überhaupt in den USA?

RK: Ich weiß es nicht so genau. Es gibt größere palästinensische Gemeinden in Chicago, Paterson, New Jersey, New Orleans sowie Los Angeles. Insgesamt sind es mehrere Hunderttausend, aber nicht eine Million Menschen. Die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt findet man in Chile.

SB: Haben die Palästinenser eine starke Stimme innerhalb der Gemeinde der Arabisch-Amerikaner?

RK: Auf jeden Fall läßt das Schicksal der Palästinenser die anderen Araber in den USA genauso wenig kalt wie in anderen Teilen der Welt. Seit einigen Jahren verschaffen sich diejenigen in den USA, die sich für die Unterdrückung der Palästinenser durch die Israelis interessieren und es beklagen, hierzulande immer mehr Gehör. Dazu gehören auch nicht-arabische, linke Aktivisten gegen Rassismus und Unterdrückung. Die Solidaritätsbewegung wächst stetig. An den amerikanischen Universitäten weist die Kampagne Students for Justice in Palestine inzwischen 160 Ortsgruppen auf.

Bäume spenden den Besuchern des Bryant Park Schatten - Foto: © 2013 by Schattenblick

Bryant Park - die grüne Oase im Midtown von New York City
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Darunter dürfen wohl auch viele Leute sein, die bei der internationalen Kampagne Boykott, Disinvestition und Sanktionen (BDS) aktiv sind, nicht wahr?

RK: Stimmt. Die Universitäten in den USA sind institutionelle Großinvestoren und verwalten riesige Vermögen. Bei der Kampagne geht es darum, daß deren Investitionen keinen Unternehmen zugute kommen, welche die Unterdrückung der Palästinenser durch die Israelis fördern. Gemeint sind zum Beispiel israelische Firmen oder amerikanische Unternehmen wie der Baufahrzeughersteller Caterpillar, deren Bagger beim Bau der Trennungsmauer und der jüdischen Siedlungen eingesetzt werden, und die amerikanischen Rüstungsgiganten Lockheed Martin und Northrop Grumman, mit deren Waffen die israelischen Streitkräfte ausgestattet werden.

SB: Bekanntlich ist die zionistische Lobby in den USA sehr stark, aber daneben gibt es in den USA auch sehr viele Israel-kritische Juden. Stehen die palästinensischen Amerikaner mit den progressiven Kräften innerhalb der jüdischen Gemeinde Amerikas in Verbindung? Arbeitet man vielleicht hin und wieder zusammen?

RK: Auf jeden Fall. Allein die Gruppe Jewish Voices for Peace zählt inzwischen mehr als einhunderttausend Mitglieder. Daneben gibt es auch Gruppen wie das International Jewish Anti-Zionist Network und Jews Say No, die an der BDS-Kampagne teilnehmen und die anti-demokratischen Maßnahmen seitens des Staates Israel aktiv anprangern. Bei der Zusammenarbeit ist die Frage, ob man Palästinenser oder Israeli, Jude oder Muslim bzw. Christ, Atheist oder was auch immer ist, völlig unerheblich. Es stellt sich lediglich die Frage, ob man gegen Unterdrückung und Entrechtung ist oder nicht. Antwortet man darauf mit Ja, dann findet man Verbündete mit unterschiedlichster Herkunft. Zu der losen Koalition der progressiven Gruppen, die das Anliegen der Palästinenser unterstützen, gehört MEChA, eine Chicano-Organisation mit mehr als 400 Ortsgruppen im ganzen Land, die 2005 den BDS-Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft mitunterzeichnet hat.

SB: Nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 auf das New York World Trade Center und das Pentagon in Arlington wurden die Menschen muslimischen Glaubens und arabischer Herkunft in den USA mit besonderem Argwohn betrachtet. Hat sich das Mißtrauen zwölf Jahre später wieder gelegt, und wie heimisch fühlen sich die arabischen und muslimischen Mitbürger heute in Obamas Amerika?

RK: Die anti-muslimische Stimmung von damals hat sich weitestgehend gelegt. Ich war in New York zum Zeitpunkt der Anschläge, und die Atmosphäre hier war in den ersten Tagen, Wochen und Monaten ziemlich aufgeheizt. Man hörte viele Sprüche ganz normaler Bürger wie zum Beispiel, daß die USA die Länder, aus denen die Urheber der Angriffe stammten, dem Erdboden gleichmachen sollten. Nach den langwierigen und kostspieligen Kriegen in Afghanistan und im Irak ist jedenfalls in New York von dieser Einstellung praktisch nichts übriggeblieben. Dennoch gibt das Aufkommen von Strömungen wie der Tea Party bei den Republikanern und die Tatsache, daß laut Umfragen rund 20 Prozent der US-Bürger Präsident Obama für einen muslimischen, sozialistischen Kenianer halten, obwohl er nur ein Wirtschaftsneoliberaler ist, der in Sachen Drohnenangriffe und Geheimdienstüberwachung die Politik George W. Bushs einfach fortsetzt, sehr zu denken.

Auf der einen Seite verzeichnen Gruppen, die sich eines rechten Populismus bedienen, um vor allem weiße Wähler für sich zu gewinnen, einen gewissen Zulauf. Das läßt sich nicht bestreiten. Doch auf der anderen Seite wächst die Unterstützung für die Palästinenser bei Schwarzen, Latinos, Frauenrechtlern und den Studenten an den Hochschulen sowie bei denjenigen, die sich für den Umweltschutz oder gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben einsetzen, enorm an. Trotz des Widerstands finanzstarker zionistischer Organisationen, die in Washington nach wie vor über großen Einfluß verfügen, haben Basisgruppen wie Students for Justice in Palestine, Jewish Voices for Peace, die U. S. Campaign to End Israeli Occupation und lokale BDS-Gruppen, welche die palästinensische Sache unterstützen, in den letzten Jahren enorm dazu beigetragen, die einseitig zu Gunsten Israels ausgerichtete Bewertung des Nahost-Konflikts in der Öffentlichkeit und den Medien der USA zu revidieren.

Vor kurzem ist bekannt geworden, daß die israelische Regierung Leute dafür bezahlt, im Internet und in den sozialen Netzwerken Propaganda für Israel zu machen. Die Palästinenser müssen niemanden dafür bezahlen, die Politik Israels in den besetzten Gebieten zu kritisieren. Das machen die Leute aufgrund der eigenen Empörung von selbst. Das Unrecht dort zu erkennen ist genauso einfach, wie zu realisieren, daß Polizeibrutalität sowie Gewalt gegen Frauen oder Homosexuelle falsch sind, und daß ein Gehalt, von dem man leben kann, und eine vernünftige Gesundheitsfürsorge zu den menschlichen Grundrechten gehören. Ich lebe hier im Herzen des Imperiums. Die USA unterhalten mehr als eintausend Militärstützpunkte rund um die Welt. Sie exportieren ihren Terror auf direktem - siehe Irak - oder indirektem Wege - siehe Syrien. Auf dem nordamerikanischen Kontinent gibt es vieles, wogegen es zu kämpfen lohnt, dazu zählen struktureller Rassismus und Unterdrückung. Die progressiven Kräfte in den USA mögen derzeit einen schweren Stand haben, doch die Wirtschaftskrise und der Klimawandel regen immer mehr Menschen zum Widerstand gegen die Kapitalinteressen an. Von daher bin ich zuversichtlich, daß wir die Dinge auch hier langfristig zum Besseren wenden werden.

Blick die 42. Straße von Manhattan hinunter, mit dem berühmten Chrysler-Wolkenkratzer in der Ferne - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die 42. Straße von Manhattan, an der Nordseite der New York Public Library
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Was halten Sie von der jüngsten Wiederbelebung des sogenannten Nahost-Friedensprozesses zwischen Israelis und Palästinensern? Kann die von US-Außenminister John Kerry praktisch erzwungene Wiederaufnahme der bilateralen Gespräche überhaupt etwas Positives bewirken oder ist das Ganze nur ein Täuschungsmanöver?

RK: Daraus kann nichts Gutes kommen. Wer von den Friedensverhandlungen - der Begriff ist ohnehin völlig deplaziert - eine bessere Zukunft für die Palästinenser erwartet, hat die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht aufmerksam genug verfolgt. Seit dem Abschluß des Osloer Abkommens 1993 hat sich die Zahl der illegalen jüdischen Siedlungen im palästinensischen Westjordanland verdreifacht. Dazu kommen der Ausbau von Stützpunkten der israelischen Streitkräfte, die Abriegelung und wirtschaftliche Blockade des Gazastreifens und die kontinuierliche, illegale Beschlagnahmung palästinensischer Grundstücke. Israel kontrolliert den Zugang zu den palästinensischen Gebieten. Jeder, der dort hinein oder wieder heraus will, muß israelische Kontrollpunkte passieren. Das gleiche gilt für alle Importe und Exporte. Israels Schiffe riegeln die Küste des Gazastreifens vom Mittelmeer ab, seine Flugzeuge kontrollieren die Luft über dem Westjordanland. Israel erhebt Steuern auf palästinensische Wirtschaftsgüter und gibt das Geld nur schleppend an den eigentlichen Besitzer, die palästinensischen Behörden, weiter. Israel würgt die Ökonomie in den palästinensischen Gebieten ab und hat den sogenannten Friedensprozeß benutzt, um die Strangulation zu forcieren. Unabhängig davon, ob Israel vom rechtsgerichteten Likud-Block oder der linken Arbeiterpartei regiert wird, der Ausbau der jüdischen Siedlungen wird stets vorangetrieben. Offenbar gehört das zur Staatsräson.

SB: Nehmen wir einmal an, die palästinensische Autonomiebehörde um Präsident Mahmud Abbas sei von den internationalen Geldgebern zur Teilnahme an den Verhandlungen gezwungen worden: Welches Motiv könnten die USA haben, die Gespräche wieder ins Leben zu rufen, und was versprechen sich die Israelis von ihrer Teilnahme?

RK: Den Amerikanern geht es darum, ihrem Führungsanspruch wieder Geltung zu verschaffen sowie ein gewisses Gleichgewicht in der Region herzustellen. Jenes Gleichgewicht schließt Chaos nicht aus, wie man es seit den Einmärschen der US-Streitkräfte in Afghanistan 2001 und in den Irak 2003 erlebt hat. Gleichwohl fühlen sich die USA durch die Umwälzungen in Ägypten und Tunesien und den Bürgerkrieg in Syrien als Ordnungsmacht herausgefordert. Der Einsatz für den Nahost-Friedensprozeß gibt ihnen Gelegenheit, sich als wohlwollender Vermittler zwischen den zerstrittenen Lokalakteuren aufzuspielen. Die Wiederbelebung des Friedensprozesses hat in erster Linie Symbolcharakter, nach dem Motto: "Schaut her - wir machen etwas". Positive Impulse für friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern sind nicht zu erwarten.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hofft darauf, seinen etwas ramponierten Ruf als kompromißloser Hardliner wieder aufpolieren zu können, ohne ernsthafte Zugeständnisse an die palästinensische Seite machen zu müssen. Das verschafft ihm wieder etwas Bewegungsraum im Umgang mit den Ländern der Europäischen Union, die vor kurzem ein Importverbot für Produkte aus den jüdischen Siedlungen verhängt haben und damit drohen, ab 2014 den Kontakt zu allen israelischen Organisationen abzubrechen, die jenseits der grünen Linie, das heißt auf der palästinensischen Seite der Grenze von 1967, operieren. Israel sieht sich wegen seiner Apartheid-Politik in den besetzten Gebieten zunehmend in der Kritik, sei es von linken Friedensgruppen im eigenen Land, seitens der internationalen BDS-Kampagne oder befreundeten Staaten wie den Mitgliedern der EU. Mit der Teilnahme an den Friedensverhandlungen will die Netanjahu-Regierung die Verbündeten milde stimmen, damit deren Hilfsgelder weiterhin in vollem Umfang nach Israel fließen. Für 2014 erwartet Israel von den USA finanzielle Zuwendungen in Höhe von sage und schreibe 3,4 Milliarden Dollar. Durch Entgegenkommen auf der diplomatischen Ebene sorgt Netanjahu dafür, daß sich daran nichts ändert. Gleichzeitig hat er alle Mittel in der Hand, damit es nicht zu echten Verhandlungen über eine Teilung Jerusalems, einen Abzug der jüdischen Siedler oder eine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge kommt.

SB: Sie haben vorhin die Idee der Kontrolle durch Chaos angedeutet. Wie werden sich Ihrer Ansicht nach die politische Instabilität in Ägypten und der Bürgerkrieg in Syrien auf die israelisch-palästinensische Dynamik auswirken?

RK: Es fällt mir schwer zu prognostizieren, wie sich die Dinge in Ägypten entwickeln werden. Seit dem Militärputsch Anfang Juli läuft dort die Unterdrückung der Muslimbruderschaft auf Hochtouren. Was man aber sagen kann, ist, daß die Unruhen in Ägypten und die Kämpfe auf der Sinai-Halbinsel zu einer drastischen Verschlechterung der Lage am Grenzübergang Rafah geführt haben. Die ägyptischen Militärbehörden gehen verstärkt gegen die unterirdischen Tunnel vor, über die ein Großteil der Waren für den Gazastreifen hereingeschmuggelt wird, was das Leben der Menschen dort natürlich erschwert. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die neuen Machthaber in Kairo Israel bei der Blockade des von der Hamas regierten Gazastreifens unterstützen werden.

Was Syrien betrifft, bin ich ebenfalls kein Experte. Meine Gespräche mit syrischen Freunden lassen jedenfalls keine Hoffnung auf eine schnelle Besserung aufkommen. Das Blutvergießen und die Zerstörung werden sich noch eine ganze Weile in Syrien fortsetzen und negative Auswirkungen auf die Nachbarländer Libanon, Jordanien, Irak und Türkei haben. Persönlich glaube ich nicht, daß es die israelische Armee zulassen wird, daß sich die Kämpfe in Syrien auf die Golanhöhen ausbreiten und dadurch zu einer Bedrohung der Sicherheit Israels werden.

Der neoklassische Haupteingang der New Yorker Public Library an der Fifth Avenue, Ecke 42. Straße - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die New York Public Library, seit ihrer Öffnung 1911 eine der führenden Bibliotheken der USA
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Die politischen Auswirkungen des syrischen Bürgerkrieges sind bei den palästinensischen Organisationen längst zu spüren. Die Hamas-Bewegung hat sich im syrischen Bürgerkrieg auf die Seite der sunnitischen Muslimbruderschaft geschlagen und die Beziehungen zur Assad-Regierung abgebrochen. Sie mußte deshalb ihr Hauptquartier in Damaskus räumen, hat dadurch die Unterstützung des Irans verloren und steht nun völlig isoliert da. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

RK: Ich denke, daß das Konzept einer eigenständigen oder souveränen Regierung unter den Bedingungen der israelischen Besatzung, sei es auf der Westbank unter der PLO oder im Gazastreifen unter der Hamas, völlig illusorisch ist. Die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah, die keine demokratische Legitimation hat, ist korrupt und richtet sich zuallererst nach den Wünschen der internationalen Geldgeber. Es steht außer Zweifel, daß die Entwicklung im Libanon, in Syrien und in Ägypten Auswirkungen auf die Lage der Palästinenser haben wird. Ich gehe davon aus, daß sich die gesellschaftlichen Bedingungen der Palästinenser um so mehr verbessern werden, je mehr es den Libanesen, Syrern und Ägyptern gelingt, für ein Ende der politischen Unterdrückung in ihren Ländern zu sorgen. Leider ist es so, daß in den Nachbarländern zu Israel/Palästina die Sektierer, die religiösen Extremisten und die reaktionären Gruppen den progressiven Kräften das Heft aus der Hand genommen haben und das Geschehen diktieren.

SB: Nach dem Militärputsch gegen die Regierung der Moslembruderschaft in Ägypten droht dort ein Szenario ähnlich dem in Algerien in den neunziger Jahren, als mehr als 200.000 Menschen infolge eines mörderischen Bürgerkrieges zwischen staatlichen Sicherheitskräften und islamistischen Milizen ums Leben kamen. Ein solches Szenario im bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt müßte doch jedem Araber das Blut in den Adern gefrieren lassen.

RK: Ich habe die Entwicklungen der letzten Tage in Ägypten, das brutale Vorgehen der Armee gegen die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi verfolgt und kann nur sagen, daß das, was dort geschieht, angsteinflössend ist. Als US-Bürger hat man es jedoch mit dem kurzlebigen Interesse der amerikanischen Medien am Geschehen im Ausland zu tun. Alle berichten derzeit über Ägypten, während der Irak, wo täglich Dutzende Menschen durch Bombenanschläge ums Leben kommen, völlig in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Wann hat man jemals einen Iraker im US-Fernsehen, der über die anhaltende Gewaltwelle in seinem Land berichtet, oder einen Menschen aus dem Jemen, der Auskunft über die CIA-Drohnenangriffe geben könnte, gesehen? Vermutlich niemals. In allen Ländern des Nahen Ostens finden zahlreiche Kämpfe gegen politische Unterdrückung statt, doch unsere Medien berichten überhaupt nicht darüber. Deswegen freue ich mich sehr über den Erfolg der BDS-Kampagne. Hier haben wir es erstmals mit einer eigenständigen Bewegung der palästinensischen Zivilgesellschaft zu tun, die im Westen immer mehr Gehör für das Anliegen der Palästinenser findet.

SB: Neben Ihrer Tätigkeit in den Bereichen Dichtung und Hip-Hop schreiben sie auch häufig politische Kommentare. Wo erscheinen diese Beiträge in aller Regel?

RK: Ich habe früher viel für Counterpunch und Z Magazine geschrieben. Wegen Tourneeverpflichtungen und Reisen bin ich in letzter Zeit nicht mehr so häufig dazu gekommen. Deshalb sind die jüngsten Kommentare von mir auf der Website des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera erschienen.

Remi Kanazi erläutert und gestikuliert zugleich - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: In Verbindung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt steht die Wahl zwischen der Ein-Staat-Lösung und der Zwei-Staaten-Lösung zur Diskussion. Welche von beiden ziehen Sie vor?

RK: Die Ein-Staat-Lösung. Die Zwei-Staaten-Lösung wird immer noch in Aussicht gestellt, obwohl sie seit geraumer Zeit keine realistische Option mehr ist. Man muß nur die Situation im Westjordanland, das von den Israelis in die drei Gebiete A, B und C aufgeteilt ist, vor Augen führen. Dort leben mehr als 600.000 jüdische Siedler. Israel kontrolliert die Grundwasserreserven, einschließlich des Jordantals. Die palästinensische Autonomiebehörde herrscht im zivilen sowie polizeilich-militärischen Bereich lediglich über 20 Prozent der Westbank. Weitere 20 Prozent werden von den Israelis und den Behörden in Ramallah gemeinsam verwaltet. In den restlichen sechzig Prozent des besetzten Gebietes gelten israelische Gesetze. Von daher glaube ich, ähnlich wie die meisten Palästinenser, nicht mehr, daß eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung erzielt werden kann.

Die Ein-Staat-Lösung ist zwar nicht ideal, bietet aber die beste Möglichkeit, den Bedürfnissen und Ansprüchen beider Völker gerecht zu werden. Israelis und Palästinenser leben beide auf diesem Territorium. Das Beste und Gerechteste wäre, wenn es einen gemeinsamen Staat gäbe, in dem alle ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit die gleichen Rechte genössen. Die Sonderrechte für die Israelis bzw. die jüdischen Siedler auf der Westbank müssen abgeschafft werden. Alle sollten dieselben Straßen benutzen und jeder sich überall niederlassen dürfen - um nur zwei Beispiele zu nennen. Es muß neben der politischen Ungleichheit auch das Problem der wirtschaftlichen Ungleichheit gelöst werden. Man muß zur Einsicht kommen, daß die Nakba nicht 1948 vollzogen wurde, sondern sich im Grunde genommen bis heute fortsetzt. Nur dann lassen sich die entstandene Ungleichheit und Ungerechtigkeit wieder beheben.

SB: Sie befürworten das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre angestammte Heimat. Halten Sie das für realistisch? Sollten die Israelis dieses Recht, hypothetisch gedacht, irgendwann einmal anerkennen, wie ließe sich dann seine Inanspruchnahme durch Zehntausende Palästinenser in die Tat umsetzen? Würden sie alle zurückkehren oder wäre ein Teil von ihnen mit einer finanziellen Entschädigung zufrieden?

RK: Zunächst erinnere ich daran, daß das Rückkehrrecht der Palästinenser sowohl in Resolution 194 der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948, im Humanitären Völkerrecht und auch in der UN-Menschenrechtscharta begründet ist. Jedes Volk, das aus seiner angestammten Heimat vertrieben wurde, hat das Recht, dorthin zurückzukehren. Unabhängig davon, ob sie ins Ausland vertrieben oder zu Binnenflüchtlingen innerhalb Israel/Palästina gemacht wurde, hat jede palästinensische Familie das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat. Es gibt bereits Menschenrechtsorganisationen wie Badil, die sich mit den zu erwartenden Problemen auseinandersetzen und sich bereits jetzt auf die Wiederansiedlung vorbereiten. Wie viele Palästinenser, die in der Diaspora zum Beispiel in Flüchtlingslagern im Libanon, in Syrien und Jordanien leben, zurückkehren würden, wissen wir nicht. Doch es ist ihr Recht, und die Wahl steht einzig und allein ihnen zu. Gibt es genug Boden und Ressourcen, um die Wiederansiedlung Hunderttausender Palästinenser zu bewerkstelligen? Aber selbstverständlich!

Die ethnische Vertreibung der Palästinenser setzt sich bis heute fort. Das jüngste Beispiel ist der Prawer-Plan der Israelis, bei dessen Umsetzung 40.000 bis 70.000 palästinensische Beduinen zwangsumgesiedelt werden sollten, um die wirtschaftliche Anschließung der Negev-Wüste zu ermöglichen. Es geht den Israelis nicht nur darum, die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 und 1967 zu unterbinden, sie versuchen zudem, sich die größtmögliche territoriale Fläche mit so wenig palästinensischer Bevölkerung wie möglich einzuverleiben. Nicht zufällig stilisieren israelische Politiker die Möglichkeit, daß demnächst die palästinensische Bevölkerung in Israel/Palästina die der Israelis zahlenmäßig bald übertreffen könnte, zur "demographischen Bombe" hoch oder reden davon, daß man bei nächstbester Gelegenheit alle Palästinenser nach Jordanien vertreiben sollte. Tatsache ist, daß sich weder die Palästinenser in den besetzten Gebieten verjagen lassen noch die Flüchtlinge im Ausland auf ihr Rückkehrrecht verzichten werden.

Die Israelis betreiben hier ganz klar ein Zwei-Klassen-Recht. Palästinenser, die 1945 vertrieben wurden und deren Vorfahren seit Jahrhunderten in Palästina gelebt haben, dürfen nicht in ihre Heimat zurückkehren, während jeder Jude, auch wenn er niemals in Israel gewesen ist, die israelische Staatsbürgerschaft annehmen und sich sofort im Westjordanland niederlassen kann und dafür sogar staatliche Zuschüsse erhält. Selbst palästinensische Binnenflüchtlinge in Israel/Palästina dürfen sich nicht in ihren alten Dörfern ansiedeln. Um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukehren: Die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge ist nicht nur rechtlich geboten, sondern auch erstrebenswert und realisierbar. Deshalb arbeiten palästinensische Gruppen auf das Ziel der Wiederansiedlung schon jetzt hin.

SB: Glauben Sie, daß viele palästinensische Flüchtlinge zurückkehren werden, sobald sie die Chance dazu bekommen?

RK: Bei denjenigen, die weiter weg von der Region leben oder sich eine neue Existenz im Ausland geschaffen haben, werden sich die Zahlen in Grenzen halten. Doch bei den Palästinensern in den Flüchtlingslagern im Libanon, in Syrien und in Jordanien kann ich mir durchaus vorstellen, daß sich nicht wenige von ihnen auf die Reise machen werden. Wieviele es letzten Endes sein werden, kann ich nicht sagen. Es können hunderttausend oder zwei bis drei Millionen sein. Die Hoffnung der Israelis, die Palästinenser würden ihre Heimat vergessen und sich mit ihrem Schicksal abfinden, ist nicht eingetroffen. Auch ihr Versuch, durch den Abriß alter Dörfer, den Bau neuer Siedlungen, durch Veränderungen der Landschaft und das Absägen der Olivenbaumhaine das alte Palästinena vergessen zu machen, ist gleichermaßen gescheitert. Die Verbundenheit der Palästinenser mit ihrer Heimat, mit ihrer Sprache und ihren Traditionen ist nicht abgerissen, sondern wird von jeder Generation an die nächste weitergegeben und gepflegt.

Ich wüßte zudem nicht, wie die Zwei-Staaten-Lösung funktionieren sollte. Die Palästinenser in den besetzten Gebieten werden sich auf Dauer nicht damit zufrieden geben, eingepfercht in einigen kleinen, voneinander getrennten Bantustans mit begrenzter Selbstverwaltung zu leben, während die Israelis die Kontrolle über die Außengrenzen, den Luftraum und die Grundwasserreserven behalten. Das kann nicht funktionieren, sondern trägt die Saat fortgesetzter Spannungen und Gewaltausbrüche in sich. Ob nun der Kampf um die Abschaffung der Sklaverei in den USA oder der Iren gegen die Fremdherrschaft durch die Engländer und der Frauen um Gleichberechtigung, die Menschen streben stets nach Freiheit, unabhängig von ihrer Nationalität oder Religion. Also werden sich die Palästinenser nicht mit dem abfinden, was ihre Unterdrücker als Lösung des gemeinsamen Problems vorschlagen. Das wäre die Zwei-Staaten-Lösung. Letztlich glaube ich, daß Geschichte, Moral und Ethik auf Seiten der Palästinenser stehen. Wenn ich sehe, wie politisch aktiv die Diaspora geworden ist und wie erfolgreich die verschiedenen Basisgruppen in den letzten Jahren darum gerungen haben, die internationale Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Palästinenser zu lenken, dann macht mich das optimistisch.

SB: Wir bedanken uns bei Ihnen, Remi Kanazi, für das Gespräch.

Blick auf Turtle Bay vom Gantry Plaza State Park, am Ufer des östlich gegenüber Upper Manhattan liegenden New Yorker Stadbezirks Queens, aus - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Ufer der Upper East Side von Manhattan mit dem UN-Hauptquartier links im Bild
Foto: © 2013 by Schattenblick

28. September 2013