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INTERVIEW/204: Herrschaft in der Krise - Horizont der Mühen, Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Gespräch (SB)


Die Schwelle zum Protest zu überschreiten, stellt einen fortschrittlichen Prozeß dar

Interview im Café "Tatort Kurdistan" im Centro Sociale in Hamburg-St. Pauli am 20. November 2013


Dr. Heinz-Jürgen Schneider am Tisch sitzend - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Heinz-Jürgen Schneider
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Hamburger Strafverteidiger und Publizist Dr. Heinz-Jürgen Schneider ist als Anwalt in politischen Prozessen im ganzen Bundesgebiet aktiv. Er hat sich zudem als fundierter und engagierter Kritiker der Repressionsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland einen Namen gemacht und 1983 über das Thema "Die Politik der Inneren Sicherheit" promoviert. In zahlreichen Publikationen, aber auch öffentlichen Vorträgen nahm und nimmt er immer wieder zu dieser Thematik Stellung, so beispielsweise auf dem Antirepressionskongreß am 9. Oktober 2010 in Hamburg, wo er über "Deutschlands 'Krieg gegen den Terror' zu Beginn des 21. Jahrhunderts" referierte. [1]

Dr. Heinz-Jürgen Schneider ist Vorstandsmitglied des Vereins für Demokratie und internationales Recht (MAFDAD) und Mitautor des 2002 erschienenen Buches "Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands. Politische Strafverteidiger in der Weimarer Republik".

Im Rahmen der diesjährigen Hamburger Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" hielt er am 20. November einen Vortrag zum Thema "Kapitalismus - Krise - Herrschaftssicherung", in dem er darlegte, daß die kapitalistische Herrschaft - und zwar keineswegs nur in Krisenzeiten - durch Integration (Zuckerbrot) und Repression (Peitsche) gesichert wird. Im Anschluß an dieses Referat und eine lebhafte Diskussion im Café "Tatort Kurdistan" im Centro Sociale beantwortete Dr. Schneider dem Schattenblick noch einige Fragen.


Schattenblick: Sie haben über die Weimarer Republik und die politische Strafverteidigung jener Zeit publiziert. Könnten Sie das historische Umfeld, in dem die Kämpfe der KPD und überhaupt der Linken seinerzeit stattgefunden haben, aus Ihrer Sicht einmal schildern?

Jürgen Schneider: Die 14 Jahre der Weimarer Republik sind sicherlich eine der revolutionärsten Etappen in der deutschen Geschichte gewesen. Es begann mit der Novemberrevolution, die, auch wenn sie gescheitert ist, so doch bestimmte Themen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Es sollte nach 1919 nicht nur eine Republik, sondern vor allem eine sozialistische Republik geben. Die politischen Kämpfe der Weimarer Republik haben schließlich dazu geführt, daß die 1919 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands die stärkste kommunistische Partei der kapitalistischen Welt geworden ist mit Hunderttausenden Mitgliedern und Millionen Wählern sowie einer großen Verankerung in der damaligen Arbeiterbewegung.

Das finde ich schon sehr bemerkenswert. Und wer die Frage stellt, warum es den Faschismus gegeben hat, der findet eine Antwort auch darin, daß diese revolutionäre Arbeiterbewegung zerschlagen werden sollte. Das ist der Auftrag Hitlers gewesen, den er dann auch auf blutige Weise erfüllt hat. Dennoch hatten diese Jahre, die Erfahrungen in den Kämpfen der Weimarer Republik eine bemerkenswerte Ausstrahlung auf die politische Praxis wie auch auf eine linke revolutionäre Kultur, wie es sie davor so nicht gegeben hat und wie sie dann leider nach 1945 in dieser Breite und Wirkung nicht wieder entstanden ist.

SB: Sie sind politischer Strafverteidiger. Gibt es aus Ihrer Sicht wesentliche Unterschiede zwischen der politischen Strafverteidigung der Weimarer Zeit und der Bundesrepublik? Lassen sich Parallelen ziehen oder gibt es eher Unterschiede mit unverwechselbarem Charakter?

JS: Für mich überwiegen die Unterschiede. Ich will die Strafverfolgung, die es in den verschiedenen Etappen der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, gar nicht verniedlichen, aber die Verfolgungspraxis der Weimarer Justiz ist schon zahlenmäßig größer gewesen. So hat es deutlich mehr Inhaftierte gegeben und deshalb natürlich auch die Notwendigkeit, politische Solidarität, aber auch juristischen Beistand mit den Verfolgten zu üben. In der Weimarer Republik hat sich rund um die Organisation "Rote Hilfe Deutschland" eine Gruppe von einigen hundert Anwälten gebildet, die für politische Gefangene eingetreten sind. Das hat es über Jahrzehnte in der alten Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben. Zwar gab es auch Verteidiger, die etwa im Zuge der Adenauerschen Kommunistenverfolgung Mandate übernommen haben, aber es waren zahlenmäßig nur sehr wenige. Erst in den letzten 20 oder 30 Jahren ist eine neue Anwaltsgeneration entstanden, aus der inzwischen genügend Anwältinnen und Anwälte hervorgegangen sind, die auch Leute, die im Wendland Widerstand leisten, und ausländische Organisationen in politischen Strafprozessen vor Gericht vertreten.

SB: Als der Klassenkampf noch ein brandaktuelles Thema war, lief man schnell Gefahr, als Kommunist verfolgt zu werden, sobald man Kapitalismuskritik geübt hat. Heute hingegen scheint Kritik am Kapitalismus fast schon gesellschaftsfähig geworden zu sein. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

JS: In den letzten Jahren hat der Kapitalismus oft eine schlechte Presse gehabt, und in Talkshows oder bei sonstigen Gelegenheiten wurde er ausgiebigst kritisiert. Das hängt sicherlich damit zusammen, daß das, was man die Bankenkrise nennt, also daß Banker in der Lage sind, Milliardenbeträge zu verschwenden und daß dann mit Staats- bzw. Steuergeldern eine Bankenrettung stattfindet, sehr viele Leute auf einer politischen, aber vielfach auch auf einer moralischen Ebene empört hat. Empörung herrschte auch darüber, daß die Manager, die dafür eigentlich verantwortlich sind, nicht nur nicht rausfliegen, sondern entweder weiter beschäftigt werden oder mit einem goldenen Handschlag auch noch eine Abfindung in Millionenhöhe bekommen. Das hat den Kapitalismus in seiner letzten großen Krise moralisch einiges gekostet. Ich fürchte allerdings, daß ein dauernder Bewußtseinswandel oder tatsächliche Ansätze zu einer antikapitalistischen Politik damit nicht verbunden sind.

SB: Das Wort Krise ist inzwischen nahezu sinnentleert. Es scheint etwas zu erklären, wird aber letztendlich als Generalbegründung benutzt zur Rechtfertigung repressiver Maßnahmen oder auch für den Abbau sozialer Leistungen. Müßte sich eine Linke, die eine streitbare Position dagegen entwickeln will, nicht zuallererst einer präziseren Sprache bedienen?

JS: Ja. Es gibt einen sehr vielfältigen Krisenbegriff. Der von Marx innerhalb der politischen Ökonomie, seiner Entwicklungsgesetze und damit auch der Konfliktfälle des Kapitalismus verwendete Begriff der Krise spielt natürlich auf etwas anderes an, als wenn Zeitungen oder Vertreter der Bundesregierung von Schuldenkrise sprechen und damit meinen, daß jetzt alle sparen und den Gürtel enger schnallen müssen. In diesem Sinne würde ich auch sagen, daß der Krisenbegriff geschärft werden muß, um deutlich zu machen, was die Ursachen der Krise sind, und vor allem, wer für die Kosten der Krise aufkommt, wenn sie denn ausgebrochen ist. Eine stärkere Akzentuierung würde ich wichtig finden.

SB: Die Protestkultur in der Bundesrepublik entzündet sich heute eher an den Schicksalen von Flüchtlingen, die jetzt ganz aktuell beispielsweise als "Gruppe Lampedusa in Hamburg" durch ihren Protest für Schlagzeilen sorgen, an Umweltfragen, der Errichtung von Geflügelmassenschlachthöfen oder der drohenden Zerstörung des Hambacher Forstes. In all diesen Fällen scheint die klassische Linke einen relativ schlechten Stand bei der jüngeren Generation zu haben. Liegt ein möglicher Grund dafür vielleicht an der unzeitgemäßen Präsentation der Inhalte, so daß eine Auffrischung marxistischer Grundannahmen gerade aus linker Sicht durchaus konstruktiv sein könnte?

JS: Sicherlich. Die Schwelle zum Protest zu überschreiten, was immer auch der Anlaß dafür ist, stellt einen fortschrittlichen Prozeß dar. Es ist ein erster wichtiger und bewußtseinsmachender Schritt, aber natürlich auch nicht mehr als das. Die Linke sollte jüngere, aber auch ältere Menschen da abholen, wo sie sind, und dafür sorgen, daß in allen Bewegungen und Ausdrucksformen des Protestes auf jeden Fall die Systemfrage gestellt wird - selbst dann, wenn man sie aktuell nicht lösen kann. Aber sie muß eingebracht werden, denn sie führt dazu, daß das Bewußtsein geschärft und über den Rahmen, den der Kapitalismus setzt, hinaus gedacht und dann hoffentlich auch gehandelt wird.

Dr. Schneider mit SB-Redakteurin während des Interviews - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Schneider mit SB-Redakteurin
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Ich würde gern noch auf die politische Strafjustiz in Deutschland zu sprechen kommen. Vor kurzem ist das Urteil gegen Verena Becker [2] rechtskräftig geworden, und auch der Prozeß gegen Sonja Suder [3] endete mit einer Verurteilung. In beiden Fällen ist die Tendenz erkennbar, daß die heutige Justiz politisch motivierte Fälle aufgreift, die wirklich sehr lange zurückliegen. Was sind Ihrer Einschätzung nach die Gründe dafür?

JS: Es gibt in diesem Zusammenhang nicht nur die beiden genannten Fälle, sondern nach über 40 Jahren finden immer noch Ermittlungen gegen ehemalige Gefangene aus der RAF statt, die verschiedener Straftaten bezichtigt werden. Man weiß nicht genau, was dabei herauskommt. Generell ist es wohl so, daß hier juristische Belange nicht in erster Linie eine Rolle spielen, sondern daß es um eine politische Abrechnung mit dem geht, für das diejenigen vor 30, 40 Jahren gestanden haben. Heute sind sie deutlich älter und in einer anderen Situation, aber der deutsche Staat vergißt eben nicht und handelt dementsprechend. So werden auch Menschen, die sehr alt sind oder deren Gesundheitszustand bedenklich ist, vor Gericht gestellt.

SB: Eine Frage noch an Sie als Strafverteidiger: Das Urteil gegen Sonja Suder bezog sich im wesentlichen auf die Polizeiprotokolle von Hermann Feiling, deren Zustandekommen auch im rein juristischen Sinne sehr umstritten ist. Wie bewerten Sie die Gefahr, daß jetzt nach der Verurteilung Suders aufgrund dieser Akten im nachhinein Verhörmethoden legitimiert werden, gegen die sich verschiedene Organisationen wie die Liga für Menschenrechte, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. im Verlauf des Verfahrens mahnend zu Wort gemeldet hatten? Auf die Nichtverwertbarkeit der Aussagen Feilings war vielfach schon vor dem Urteil mit aller Entschiedenheit hingewiesen worden.

JS: Ich kenne das Verfahren auch nur aus den Medien, aber ich weiß, daß die dort engagierten Kolleginnen und Kollegen natürlich Einspruch dagegen eingelegt haben, daß die Aussagen eines Schwerstkranken überhaupt verwertet werden. Das zu machen, ist auch absolut notwendig. Es gibt bestimmte Regeln, was die Verwertung von Zeugenaussagen betrifft. Für mich sind diese Regeln gebrochen, wenn man so handelt, wie das Gericht es tat, als es bei der Verurteilung auch diese Aussage zugrundegelegt hat. Ich hoffe, daß es vielleicht in einem Revisionsverfahren zu einer anderen rechtlichen Auffassung kommt.

SB: Rechnen Sie damit, daß aus Ihrem Berufsstand Widerstand gegen das Urteil geleistet wird, weil es einen eklatanten Bruch mit dem Rechtsstaat darstellt?

JS: Ja, aber ich glaube, daß entsprechende Anträge auf die Unverwertbarkeit schon vor dieser Aussage gestellt wurden. Und ganz bestimmt hat dieser Punkt auch in den Plädoyers der Kolleginnen und Kollegen eine Rolle gespielt, da bin ich mir sicher.

SB: Vielen Dank, Herr Schneider, für dieses Interview.


Fußnoten:

[1] Siehe dazu den Bericht vom 9. Oktober 2010 im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/040: Antirep2010 - Heinz-Jürgen Schneider zum Terrorverdikt im politischen Strafrecht (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0040.html

[2] Nach Angaben des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. November 2013 hat der Bundesgerichtshof die Revisionen gegen die Verurteilung der früheren RAF-Angehörigen Verena Becker wegen Beihilfe zum Mord an Generalstaatsanwalt Siegfried Buback im Jahre 1977 abgelehnt. Damit ist das im Juli 2012 gefällte Urteil von vier Jahren Haft rechtskräftig geworden.

[3] Am 12. November 2013 endete ein Strafverfahren vor dem Landgericht Frankfurt am Main mit der Verurteilung der 80jährigen Sonja Suder zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in den "Revolutionären Zellen" (RZ). Die Richter sahen den Vorwurf als erwiesen an, daß Suder an drei Anschlägen Ende der 1970er Jahre beteiligt gewesen sei.


Bisherige Beiträge zur Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/165: Herrschaft in der Krise - Wo steht der Feind? (SB)
BERICHT/166: Herrschaft in der Krise - Mangel, Druck und Staatsräson (SB)
BERICHT/168: Herrschaft in der Krise - Zweckform Euro (SB)
BERICHT/173: Herrschaft in der Krise - Die Mehrheitslogik (SB)
INTERVIEW/196: Herrschaft in der Krise - Bündnisse der Arbeit, Hans-Peter Brenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/197: Herrschaft in der Krise - der Lackmustest, Markus Bernhardt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/198: Herrschaft in der Krise - türkisch-linke Bündnisfragen, Duran Kiymazaslan im Gespräch (SB)
INTERVIEW/199: Herrschaft in der Krise - am linken Schlaf vorbei, Sylvia Brennemann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/201: Herrschaft in der Krise - Wo der Mumm fehlt! Wolfgang Erdmann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/202: Herrschaft in der Krise - Ratio des Mehrgewinns, Andreas Wehr im Gespräch (SB)

2. Dezember 2013