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INTERVIEW/207: Herrschaft in der Krise - Probleme und Parolen, Phillip Becher im Gespräch (SB)


Zu Genese und Charakter des Rechtspopulismus

Interview am 18. November 2013 im Magda-Thürey-Zentrum in Hamburg-Eimsbüttel



Phillip Becher ist Sozialwissenschaftler an der Universität Siegen, wobei Faschismus vor und nach 1945, Rechtspopulismus und Neue Rechte zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" [1] hielt er auf Einladung der Assoziation Dämmerung am 18. November im Magda-Thürey-Zentrum (MTZ) einen Vortrag zum Thema "Völkisch oder populär-demokratisch? Der moderne Rechtspopulismus". Vor der Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Phillip Becher
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Du hast dich seit mehreren Jahren ausgiebig mit dem Rechtpopulismus befaßt. Ich möchte dich eingangs fragen, wie der Populismus historisch entstanden ist, ob er ursprünglich auch einen positiven Gehalt hatte und wie er sich heute darstellt.

Phillip Becher: Wenn man sich anschaut, wie der Begriff des Populismus in der geschichtlichen Entwicklung konnotiert worden ist, wie er analysiert worden ist, wie Bewegungen, die man so bezeichnet hat, charakterisiert worden sind, handelte es sich zunächst um eine Bezeichnung für Strömungen, die tatsächlich von unten her bestimmte soziale Interessen vertreten haben. Man stößt dabei auf Beispiele wie die Narodniki, die Volksfreunde, im Rußland der vorrevolutionären Zeit während des Zarenregimes oder auch die Peoples Party in den USA, die nicht durchweg links oder demokratisch, aber zumindest Interessenvertreter sozialer Unterklassen wie etwa der Bauern waren. Das ist der Ausgangspunkt des Populismusbegriffs, und man findet heute noch in der Literatur sehr viele Bestimmungen, die sich darauf beziehen. Ich beziehe mich hingegen auf eine Bewegung, die überhaupt nicht mehr demokratisch, sondern dezidiert antidemokratisch ist. Deswegen spreche ich stets von "rechtspopulistisch", weil der Begriff des Populismus ansonsten täuschen und suggerieren kann, es handle sich um eine eigenständige Volksbewegung, die bestimmte Interessen der Bevölkerung artikuliert. Ich argumentiere genau entgegengesetzt, nämlich, daß der Rechtspopulismus auf einer bestimmten strukturellen, organisatorischen und ideologischen Grundlage eine den derzeitigen Anforderungen wie insbesondere dem Neoliberalismus adäquate antidemokratische Bewegung ist, die auch kapitalistisch herrschaftssichernd wirkt.

SB: Könnte man sagen, daß der Rechtspopulismus ein Krisenphänomen ist, oder würde das zu weit gehen?

PB: Nein, das würde nicht zu weit gehen. Es kommt freilich darauf an, welchen Krisenbegriff man anwendet. Geht man von bestimmten zyklischen Krisen aus, wie sie dem Kapitalismus als Bewegungsform dieser Wirtschaftsweise inhärent sind, oder nimmt man einen Begriff der politischen Krise oder der gesellschaftlichen Krise? Der Rechtspopulismus etabliert sich tatsächlich in bestimmten Krisensituationen, wo sich Gelegenheitsstrukturen eröffnen, in denen sich diese spezifische Form rechter Politik etablieren kann. Bestimmte Legitimationskrisen, in denen die bürgerlichen und linken Parteien gewisse Felder nicht abdecken können, erlaubten es einer kapitalismuskompatiblen sogenannten Alternative, antidemokratische Angebote ins Spiel zu bringen. So gesehen gibt es durchaus einen Bezug zwischen Rechtspopulismus und Krisensituationen, wobei es aber nicht unbedingt wirtschaftliche Krisen sein müssen. So brauchte der Rechtspopulismus in Italien keine Wirtschaftskrise, um sich zu etablieren, wenn wir an Berlusconi und seine Formation denken. Er benötigte vielmehr eine politische Krise in Form des Zusammenbruchs des alten Parteiensystems und der Selbstliquidation von bestimmten linken Kräften wie der kommunistischen Partei Italiens.

Durch dieses Fenster, in diese Leerstelle drang der Rechtspopulismus ein. Das heißt nicht, daß ehemalige Wähler der Kommunisten zum Rechtspopulismus übergegangen wären. Es heißt jedoch zumindest, daß in dieser Zeit der Umbrüche Bewegungen an Zulauf gewinnen, die als Garanten bestimmter Werte, die von der Bevölkerung für notwendig und positiv erachtet werden, auftreten können. Das hat fatale Folgen, weil ihre Bestrebungen zumindest objektiv betrachtet den meisten Menschen eigentlich gegen den Strich gehen müßten. Was sie fordern, ist inhaltlich antidemokratisch, auch wenn sie Volksentscheide oder mehr Mitbestimmung der Bürger anmahnen. Ich verweise auf bestimmte Stränge in dieser Richtung, die von Thomas Wagner analysiert worden sind. Er beschreibt Formen direkter Demokratie, die realiter zu einer Zurückdrängung von Demokratie führen, wie das Minarett-Verbot in der Schweiz oder der Bürgerhaushalt. Das sind Dinge, die sich die Rechtspopulisten auf die Fahne geschrieben haben und womit sie reüssieren. Das ist das Perfide an dieser Strömung, die Leute gegen deren eigene Interessen einsammelt.

SB: Du hast den Rechtspopulismus vom Neofaschismus abgegrenzt, dem man eine Tradition attestieren kann. Verfügt der Populismus gleichermaßen über eine Tradition oder ist er eher ein Gewächs, das sich aus verschiedenen zeitgenössischen Strömungen speist?

PB: Das ist eine interessante Frage. Ich würde sagen, der Rechtspopulismus arbeitet gegenwärtig daran, sich eine gewisse Tradition zuzulegen. Er umfaßt ein Feld von Parteien, eine Parteienfamilie, die in Europa seit ungefähr 40 Jahren mehr oder weniger stark in Erscheinung tritt, seitdem sich in Skandinavien die ersten rechtspopulistischen Parteien moderner Prägung gebildet haben. Inhaltlich ist der Rechtspopulismus darauf angewiesen, was ihm die Neue Rechte ab den späten 1960er, frühen 1970er Jahren in die Wiege gelegt hat. Insbesondere die Diskussion der Nouvelle Droite in Frankreich war dabei prägend. Die Neofaschisten, für die das frühe 20. Jahrhundert immer noch eine zentrale Rolle spielt, weisen einen starken Traditionsbezug aufgrund ihrer Funktion als antisozialistische Bürgerkriegspartei auf. Ein solches historisches Zeitfenster, aus dem sich alles speist, ist beim Rechtspopulismus in dieser Form nicht vorhanden. Er hat noch keine eigene Parteientradition, stützt sich aber natürlich auf sogenannte traditionelle Werte, die allerdings auch von anderen Konservativen in der öffentlichen Auseinandersetzung bemüht werden.

SB: Du hast angesprochen, daß der Rechtspopulismus in Skandinavien früher als beispielsweise in Deutschland in Erscheinung getreten ist. Konntest du Anhaltspunkte dafür finden, warum er gerade in Skandinavien oder in den Benelux-Staaten vergleichsweise früh aufkam?

PB: Der Rechtspopulismus rangiert nach meinem Dafürhalten im Prinzip zwischen Partei und Sammlungsbewegung, wobei er Zustimmung für autoritäre Politiken sammelt. Auf Grundlage einer neu-rechts inspirierten Ideologie bezieht er sich auf den Neoliberalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption auf der einen und Autoritarismus auf der anderen Seite. In Skandinavien kam dieser Zusammenhang deswegen so früh und als Vorreiter zum Tragen, weil dort, verglichen mit Frankreich oder der Bundesrepublik, der Sozialstaat viel weiter zu einem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat ausgebaut war. Aus Sicht bestimmter gesellschaftlicher Interessen bot er daher ein bevorzugtes Angriffsziel. Der Rechtspopulismus in Dänemark entsprang der Fortschrittspartei von Mogens Glistrup, die sich später zur Volkspartei umgegründet hat. Diese Kreise waren die ersten, die im Zuge der Ölkrise 1973 den Neoliberalismus vehement propagierten und damit die Diskussion befeuerten, der Sozialstaat sei nicht mehr bezahlbar und müsse auf andere Füße gestellt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß sich NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen seinerzeit als Chef der Liberalen in Dänemark ganz klar zu den Rechtspopulisten geäußert hat: Uns verbindet ein gemeinsames Ziel, und dieses Ziel nennt sich Systemveränderung. Systemveränderung hieß Zurückdrängung des relativ ausgebauten Sozialstaats und ein autoritär gestützter Wechsel zum neoliberalen Staat. Perfiderweise wurde der Sozialstaat auch in Dänemark jedoch nicht zuerst von den Rechten, sondern von Sozialdemokraten angegriffen. Daraufhin wandten sich viele Wähler aus der Arbeiterschaft von den Sozialdemokraten ab und den Rechtspopulisten zu, die deswegen in Skandinavien frühzeitig eine wichtige Rolle gespielt haben. Allerdings trat Rechtspopulismus in dieser Form erst seit den 1970er, 1980er Jahren in Erscheinung, weil er sich mit dem Neoliberalismus auf eine ganz bestimmte Art und Weise sehr gut versteht.

SB: In einigen Fällen sind Verbindungen zwischen dem Rechtspopulismus und bestimmten Sektoren der Wirtschaft bekannt. So steht beispielsweise die Tea-Party-Bewegung der Ölindustrie nahe. Kann man grundsätzliche Aussagen dazu machen, wie das Verhältnis der Rechtspopulisten zu den gesellschaftlichen Eliten beschaffen ist? Sind sie gewissermaßen deren nützliche Idioten, sind sie geduldete, instrumentalisierte oder sogar gesteuerte Gruppierungen?

PB: Das ist in der Tat eine ganz zentrale Frage, und die Tea Party in den USA ist dafür ein Paradebeispiel. Ich würde den Begriff der Steuerung dieser Parteien vorsichtig verwenden, weil das immer den Anschein von Verschwörungstheorien hat. Vielmehr gilt es herauszustellen, daß es in einer Klassengesellschaft eben verschiedene soziale Interessen gibt, je nachdem, welchen Anteil an Produktionsmitteln man in der Gesellschaft zur Verfügung oder nicht zur Verfügung hat. Die Tea Party, aber auch die dänische Volkspartei, werden von Monopolen gestützt und betreiben Politik im Interesse dieser großen Unternehmen. Sie werden deswegen auch aktiv gefördert, da sie ohne diese Unterstützung wahrscheinlich nur geringe Möglichkeiten hätten. Ich glaube, daß der Begriff des nützlichen Idioten insofern zwiespältig ist, als daß sich die Führung dieser Parteien der Unterstützung natürlich bewußt ist. Beispielsweise ist es in den USA sehr wichtig, für Kandidaten möglichst viele Spenden einzusammeln, um die Wahlkampagnen durchführen zu können. Ich denke aber, daß sich die Anhängerschaft dieses Zusammenhangs nicht oder nicht weitgehend genug bewußt ist, was wiederum Teil der Strategie ist. So macht sich die FPÖ in Österreich auf einer sozialpopulistischen Schiene stark, während sie zugleich beste Beziehungen zu großindustriellen Unternehmern pflegt und in deren Interesse Politik macht. Für Teile der Unternehmerschaft ist das auf jeden Fall eine starke Option. Das heißt aber nicht, daß die Großindustrie in Gänze diesen Parteien Unterstützung zuteil werden läßt. Es sind bestimmte Fraktionen, die aus bestimmten Gründen auf diese Karte setzen.

SB: Könnte man sagen, daß in einem Stadium zunehmender Sozialkämpfe oder in deren Erwartung der Rechtspopulismus nicht zuletzt eine Waffe der gesellschaftlichen Eliten ist, um dem Aufbegehren entgegenzusteuern?

PB: Auf jeden Fall, und ich glaube, daß man das Pferd auch von der anderen Seite aufzäumen kann. Wenn man sich zum Beispiel ansieht, wie im vergangenen Jahr die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gelaufen sind, fällt auf, daß es eine mehr als einmal totgesagte Linke durch bestimmte kämpferische Positionen geschafft hat, zumindest den unaufhaltsamen Aufstieg der Marine Le Pen zu bremsen. So wurden Wähler, die aufgrund bestimmter Enttäuschungen zur Front National übergelaufen waren, wieder an ein progressives Projekt zurückgebunden. Das belegt, daß es eine gewisse Konkurrenz und ähnliche Wählersegmente gibt, wobei rechtspopulistische Kräfte in sozialen Krisen und Auseinandersetzungen die Funktion erfüllen, demokratische progressive Kräfte am Angebot einer Lösung zu hindern, auch wenn diese noch nicht einmal über den Kapitalismus hinausweist, aber zumindest Teile seiner Funktionsweisen in Frage stellt. Die Zielrichtung des Rechtspopulismus läuft darauf hinaus, die gesellschaftlichen Widersprüche auf eine ganze andere Bahn zu lenken, daß nämlich nicht die Verteilung von Reichtum das Relevante in der Gesellschaft ist, sondern bestimmte kulturelle Auseinandersetzungen viel wichtiger seien: Wie viele Polizisten sind notwendig, um bestimmte Stadtteile angeblich zu befrieden? Wie hoch ist die Geburtenrate bei Einwanderern muslimischen Glaubens? Das sind natürlich Diskussionen, die von den realen sozialen Kämpfen ablenken. Deswegen glaube ich schon, daß das ein Instrument ist und eine Funktion erfüllt.

Allerdings wird der Rechtspopulismus meines Erachtens in bestimmten Situationen als Waffe untauglich. In Griechenland hat die rechtspopulistische LAOS-Partei, als ihr großbürgerlicher Charakter durch die Beteiligung an der sogenannten Technokraten-Allparteienregierung offen zutage trat, ihren kompletten Wählerbestand eingebüßt und an die Neofaschisten, die sich in der Goldenen Morgenröte organisiert haben, verloren. In bestimmten sozialen Auseinandersetzungen, die gegenwärtig in Griechenland einen ganz anderen Charakter als hierzulande haben, wird die neofaschistische Karte wieder stärker auf den Tisch gelegt als eine biedermännisch oder biederfraulich anmutende rechtspopulistische Bewegung. Und das zeigt auch den inneren Konnex zwischen Rechtspopulismus und Neofaschismus, auch wenn ich dafür plädiere, die beiden zumindest analytisch und in der Politikansprache voneinander zu trennen.

Sitzend im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Phillip Becher mit SB-Redakteur
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: In der vorangangenen Veranstaltung dieser Reihe hat Freerk Huisken zur Frage des demokratischen Staates die Auffassung vertreten, daß dieser für sich genommen als kapitalistisch zu kritisieren und nicht etwa das kleinere Übel gegenüber der Rechten sei. Kritisierte man bestimmte Strömungen als undemokratisch, wiche man hinter die Position zurück, den grundlegenden Charakter dieses Staates anzugreifen.

PB: Der Demokratiebegriff, den ich anwende, um einen Prüfstein für die extreme Rechte und den Rechtspopulismus anzulegen, beruht auf einem ganz spezifischen normativen Konzept. Ich beziehe mich in meinem Buch sehr stark auf Reinhard Opitz, einen marxistischen Sozialwissenschaftler aus Westdeutschland, der leider 1986 verstorben ist. Dieser hatte einen ganz spezifischen Begriff von Demokratie, der sich von dem bürgerlich-liberalen Demokratiebegriff unterschied. Opitz ging davon aus, daß auf dem gegenwärtigen Entwicklungsstand unserer Gesellschaft aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte die Bedürfnisse der Menschen im Prinzip gestillt werden können. Faktisch sieht man aber, daß es nicht so ist. Das liegt an den bereits angesprochenen Produktions- und Eigentumsverhältnissen, das heißt also, daß der Begriff Demokratie nicht nur Chancengleichheit bei Parlamentswahlen, Möglichkeit zur Teilnahme an solchen Wahlen, öffentliche Meinungsäußerungen und andere dieser durchaus wichtigen Errungenschaften einschließt, sondern auch von der Vorstellung geprägt ist, daß Demokratie nicht am Werkstor aufhört, sondern sich auch auf die Sphäre beziehen sollte, wo Gesellschaft sich im Prinzip produziert, nämlich im Bereich der sogenannten Ökonomie. Nach diesem Demokratiekonzept sind die Rechtspopulisten natürlich antidemokratisch, weil sie mit ihren Inhalten und ihrem Auftreten die demokratischen Kräfte zurückzudrängen versuchen. Sie bezichtigen die Gewerkschaftsbürokratie, Gelder der Mitglieder für irgendwelche Antifa-Arbeit zu verschwenden, oder befürworten die Aushebelung sozialstaatlicher Standards.

Die Problematik, die Freerk Huisken anspricht, bezieht sich auch auf die Frage, ob dieser Staat des Neofaschismus oder der extremen Rechten mit Verboten Herr werden kann. Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage, die noch einmal ein ganz neues Faß aufmacht. Dies wirft ja die Frage auf, inwieweit die konservativen bis rechten Kräfte vom selben Fleische sind, ohne daß man deswegen CDU, FDP, Rechtspopulismus und Neonazis auf eine Stufe stellt. Neofaschismus und Rechtspopulismus erfüllen jedoch bestimme Funktionen in dieser Gesellschaft, die aus Herrschaftssicht nützlich sind. Das verweist nicht auf eine Verschwörung, sondern auf bestimmte Zusammenhänge, die auf grundlegende Übereinstimmungen, gesellschaftliche Werte und Konzeptionen hinweisen. Insofern spreche ich von antidemokratisch, ohne daß ich deswegen einen Bogen ziehe und sage, welche Parteien dazugehören und welche nicht. Ich bin mit Opitz der Auffassung, daß es innerhalb des Staatsapparates selber antidemokratische Tendenzen gibt, die von Rechtspopulisten und Neofaschisten mitbefördert werden, indem sie von unten bestimmte Verschärfungen von sogenannter innerer Sicherheit argumentatorisch befeuern. Ich würde den Fokus anders setzen und von einem anderen normativen Konzept von Demokratie ausgehen.

SB: Im vorletzten Vortrag der Reihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" hat Jürgen Lloyd den Monopolkapitalismus als eine sehr kleine Elite ausgewiesen, deren Interesse sich gegen die breite Mehrheit der Bevölkerung richte. Demzufolge habe die restliche Gesellschaft das objektive Interesse, sich gegen die Monopole zu wenden. Daher müßte eigentlich eine breite Bündnispolitik möglich sein, was für die Linke generell gelte und wovon sich der Kampf gegen Rechts nicht grundsätzlich unterscheide. Geht man von solchen objektiven Interessen aus, stellt sich natürlich die Frage, warum davon so wenig in Erscheinung tritt.

PB: Es ist die Frage der Widerspruchsverarbeitung, die sich hier stellt. Ich bin im Prinzip vollkommen Jürgen Lloyds Meinung, und auf dieser Prämisse basiert auch meine Analyse. Das Problem besteht darin, daß objektives Interesse und subjektives Handeln und Wollen bei sehr vielen Menschen auseinanderfallen. Das heißt nicht, daß die Leute doof sind, was zu behaupten auch reichlich arrogant wäre. Die beiden Seiten fallen vielmehr aus spezifischen Gründen auseinander, die unter anderem damit zusammenhängen, daß die progressiven demokratischen Kräfte andere Antworten auf die gegenwärtige Krise und andere Krisenerscheinungen geben könnten, als sie das derzeit tun. Die Formulierung ihrer Antworten ist für viele Menschen längst nicht so attraktiv wie jene der Rechtspopulisten. Das liegt an ganz verschiedenen Dingen, aber eben auch daran, daß Diskurse, wie sie von bestimmten Linksparteien in Europa geführt werden, sich sehr weit von der Lebenswirklichkeit vieler Leute entfernen. Diese Diskurse sind viel zu akademisch geprägt und haben kaum noch etwas mit dem zu tun, was man gemeinhin als Klassenkampf bezeichnen würde. Hingegen argumentiert die Rechte niedrigschwelliger und bietet rabiatere Lösungen an, weshalb sie vielen Menschen naheliegender erscheinen als irgendwelche komplizierten Analysen.

Die Problematik hängt aber auch damit zusammen, daß dieses prinzipiell antimonopolistische Feld, dieses potentielle antimonopolistische Bündnis in sich sehr differenziert ist. Da haben wir die Arbeiterklasse, da haben wir bestimmte Mittelschichten, da haben wir kleinere Unternehmer, Beamte, Landwirte, die natürlich sehr verschiedene Vorstellungen von Politik und dem, was Politik zu leisten hat, haben. Es verhält sich zudem nicht so, daß alle, die potentiell von links abgerufen werden könnten, statt dessen nach rechts abwandern. Es handelt sich eher um bestimmte Gruppen wie prekäre Arbeitnehmer und Kreise des Mittelstands, die dafür besonders empfänglich sind. Den Rechtspopulisten gelingt es, aufgrund von bestimmten Strukturen und Gelegenheiten eine Politikansprache darzubringen, die die Linke gewissermaßen schachmatt setzt. Das muß man im Einzelfall analysieren und kritisieren, doch sind es oftmals schlichtweg Versäumnisse der progressiven Kräfte, die dazu führen, daß objektives Interesse der Menschen und subjektives Wollen auseinanderfallen.

SB: Phillip, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

Bisherige Beiträge zur Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/165: Herrschaft in der Krise - Wo steht der Feind? (SB)
BERICHT/166: Herrschaft in der Krise - Mangel, Druck und Staatsräson (SB)
BERICHT/167: Herrschaft in der Krise - Zweckform Euro (SB)
BERICHT/173: Herrschaft in der Krise - Die Mehrheitslogik (SB)
BERICHT/174: Herrschaft in der Krise - Synthese im Widerspruch (SB)
BERICHT/175: Herrschaft in der Krise - Populismus, Funktion und Konsequenzen (SB)
INTERVIEW/196: Herrschaft in der Krise - Bündnisse der Arbeit, Hans-Peter Brenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/197: Herrschaft in der Krise - der Lackmustest, Markus Bernhardt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/198: Herrschaft in der Krise - türkisch-linke Bündnisfragen, Duran Kiymazaslan im Gespräch (SB)
INTERVIEW/199: Herrschaft in der Krise - am linken Schlaf vorbei, Sylvia Brennemann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/201: Herrschaft in der Krise - Wo der Mumm fehlt! Wolfgang Erdmann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/202: Herrschaft in der Krise - Ratio des Mehrgewinns, Andreas Wehr im Gespräch (SB)
INTERVIEW/204: Herrschaft in der Krise - Horizont der Mühen, Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Gespräch (SB)
INTERVIEW/205: Herrschaft in der Krise - Kampfverstand und Korrektur, Jürgen Lloyd im Gespräch (SB)
INTERVIEW/206: Herrschaft in der Krise - Kurden, Menschen, Repression, Wolfgang Struwe im Gespräch (SB)


20. Dezember 2013